Sven Wagner
Sven Wagner
Der Aufbau europäischer Rechenzentren für Künstliche Intelligenz – von der EU unter dem Schlagwort „AI Gigafactory“ initiiert – gerät in Deutschland ins Stocken. Die ursprünglich geplante Kooperation führender Tech-Konzerne wie Deutsche Telekom, Schwarz Digits, Ionos, SAP und Siemens ist zerbrochen. Statt einer gebündelten Interessenbekundung bei der EU-Kommission reichen nun mehrere Einzelinitiativen Vorschläge ein – eine Entwicklung, die nicht nur Uneinigkeit unter den Partnern offenbart, sondern auch grundsätzliche Herausforderungen für die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Milliardenprojekts aufzeigt.
Kern des Konflikts sind konkurrierende Führungsansprüche innerhalb der potenziellen Allianz (Allianz Aktie). Insidern zufolge wollten sowohl die Telekom-Tochter T-Systems als auch Schwarz Digits, die IT-Einheit des Einzelhandelskonzerns Schwarz-Gruppe (u. a. Lidl, Kaufland), die Rolle des Hauptverantwortlichen übernehmen. Ein Telekom-Sprecher bestätigte gegenüber dem Handelsblatt, man wolle mit einer eigenen Interessenbekundung an den Start gehen. Die Schwarz-Gruppe äußerte sich nicht im Detail, ebenso wenig wie Ionos – letzteres will jedoch laut CEO Achim Weiß ein eigenes Konsortium formen.
Damit zersplittert das Vorhaben in Deutschland in konkurrierende Initiativen, darunter auch eine bayerisch gestützte Allianz, die unabhängig agiert. SAP (SAP Aktie) hat sich nach aktuellem Stand zurückgezogen und plant keine eigene Bewerbung. Man wolle sich lediglich als Technologieanbieter in mögliche Projekte einbringen, teilte der Konzern mit.
Hintergrund ist eine Ausschreibung der Europäischen Kommission, die den Aufbau von vier bis fünf Hochleistungs-Rechenzentren für KI-Anwendungen in Europa fördern will. Vorgesehen ist ein Investitionsvolumen von drei bis sechs Milliarden Euro pro Standort, wobei bis zu 35 Prozent durch öffentliche Mittel abgedeckt werden sollen – finanziert im Rahmen einer Public-private-Partnership.
Solche Rechenzentren sollen mit mindestens 100.000 GPUs (Graphical Processing Units) ausgestattet werden, um rechenintensive Anwendungen wie das Training großer Sprachmodelle à la GPT zu ermöglichen. Zum Vergleich: Der derzeit leistungsfähigste Supercomputer in Deutschland, „Jupiter“ am Forschungszentrum Jülich, kommt auf rund 24.000 GPUs.
Ziel der EU ist es, Europa strategisch im Bereich der KI-Infrastruktur zu positionieren und damit eine Alternative zu den dominanten US-Anbietern wie Amazon (Amazon Aktie) Web Services, Google Cloud und Microsoft (Microsoft Aktie) Azure zu schaffen. Der Begriff „KI-Kontinent“ ist dabei nicht nur Vision, sondern industriepolitisches Ziel.
Neben unternehmerischen Differenzen erschwert auch der föderale Wettbewerb den Fortgang des Projekts. Sowohl Nordrhein-Westfalen als auch Bayern beanspruchen eine Vorreiterrolle als Standort für eine mögliche Gigafabrik. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und sein bayerischer Amtskollege Markus Söder (CSU) haben sich laut Brancheninsidern aktiv für ihre Bundesländer eingesetzt. Allerdings gilt Bayern wegen hoher Industriestrompreise und struktureller Stromnetzschwächen als weniger attraktiv.
Holger Hoos, Humboldt-Professor für Künstliche Intelligenz an der RWTH Aachen, mahnt zur Vorsicht: „Zur Entwicklung industrieller KI-Anwendungen brauchen wir mittelfristig auch Fortschritte in der Grundlagenforschung. Bleibt diese in Europa aus, droht technologische Abhängigkeit.“
Er fordert ein europäisches Pendant zum CERN – allerdings für Künstliche Intelligenz – mit Fokus auf langfristige Forschung, ähnlich wie es in den USA Unternehmen wie Meta und Google vormachen.
Während das politische Interesse groß ist, bleiben zentrale wirtschaftliche Fragen unbeantwortet. Kirsten Rulf, KI-Expertin und Partnerin bei der Boston Consulting Group (BCG), betont: „Die Wirtschaftlichkeit einer AI Gigafactory ist nicht automatisch gegeben.“ Notwendig seien eine klar getriebene Vision, ein sektorübergreifendes Konzept und eine schrittweise Umsetzung. Ein Rechenzentrum müsse sich am Bedarf orientieren – ein zu schneller oder zu großer Aufbau könne technisch und finanziell kontraproduktiv sein.
Auch Christian Temath, Geschäftsführer der Plattform „KI NRW“ beim Fraunhofer IAIS, warnt vor überhöhten Erwartungen: „Die Konsortien müssen erhebliche eigene Mittel aufbringen.“ Ein tragfähiges Geschäftsmodell sei deshalb essenziell. Nur mit passenden, marktfähigen Dienstleistungen ließe sich eine Refinanzierung sicherstellen.
Andreas Weiss vom Branchenverband eco sieht noch erhebliche Defizite im Gesamtkonzept: „Das Geschäftsmodell ist nicht klar definiert. Es braucht eine präzise Marktanalyse, um Investitionen wirtschaftlich zu rechtfertigen.“
Ungeachtet der offenen Fragen hat die Deutsche Telekom (Deutsche Telekom Aktie) mit einer strategischen Partnerschaft bereits erste Pflöcke eingeschlagen. Zusammen mit dem US-Chiphersteller Nvidia soll eine industrielle KI-Cloud „auf deutschem Boden“ entstehen, kündigte Telekom-CEO Timotheus Höttges an. Diese Kooperation ist laut Telekom „ein erster Schritt“ in Richtung AI Gigafactory.
Nvidia will für das Vorhaben rund 10.000 GPUs der neuen Blackwell-Generation bereitstellen – allein diese Hardware hat laut Branchenangaben einen Wert im unteren einstelligen Milliardenbereich. Ob die Telekom diese Chips erwirbt oder Nvidia andere Kompensationen erhält, blieb auf Anfrage offen. Der US-Konzern bevorzugt zunehmend alternative Modelle – etwa Beteiligungen an Projekten oder Technologietransfers.
Während Europa noch um strategische Ausrichtung und Konsortien ringt, schreiten die großen US-Tech-Konzerne längst entschlossen voran. Unternehmen wie Microsoft, Google, Amazon und insbesondere Meta Platforms investieren zweistellige Milliardenbeträge in den Ausbau eigener KI-Infrastruktur – inklusive dedizierter Supercomputer, hauseigener Chip-Entwicklung und eigener Großmodelle.
Besonders aktiv zeigt sich zuletzt Meta-CEO Mark Zuckerberg, der mit Nachdruck versucht, die KI-Ambitionen seines Konzerns zu beschleunigen. Nach Informationen aus Unternehmenskreisen bietet Meta Top-Talenten von OpenAI hohe Wechselprämien – laut Sam Altman, CEO von OpenAI, bis zu 100 Millionen US-Dollar in Form von Boni und Vergütungspaketen. Zwar sei bislang keiner der „besten Leute“ zu Meta gewechselt, wie Altman betont, dennoch unterstreicht der Vorgang den zunehmenden globalen Wettbewerb um KI-Expertise.
Zuckerberg verfolgt mit seiner neuen Initiative „Superintelligence“ das Ziel, Meta technologisch wieder an die KI-Spitze heranzuführen. Dazu gehört unter anderem der Einstieg in das Start-up Scale AI, das für rund 14 Milliarden US-Dollar zu fast 50 Prozent übernommen wurde. Das Unternehmen liefert Trainingsdaten und Dienste für KI-Modelle – ein strategischer Baustein im Aufbau von Metas künftiger KI-Plattform.
Auch technologisch ist Meta gut aufgestellt: Mit dem Llama-Modell hat der Konzern ein Open-Source-Sprachmodell veröffentlicht, das weltweit von Drittanbietern adaptiert wird. Gleichzeitig wird der Aufbau eigener Rechenzentren mit Nvidia-Technologie massiv vorangetrieben – ein Bereich, in dem europäische Firmen bislang kaum wettbewerbsfähige Alternativen vorweisen können.
Trotz der fragmentierten Interessenbekundungen bleibt eine spätere Konsolidierung möglich. Denn bislang handelt es sich bei den Einreichungen lediglich um eine erste, unverbindliche Interessensbekundung. Erst im zweiten Schritt wird die EU-Kommission formale Bewerbungen samt Finanzierungskonzepten anfordern.
„Die aktuellen Einreichungen sind eher ein Stimmungsbarometer“, so ein Branchenkenner. „Wenn man weiß, wer mit wem will – oder nicht –, kann man über echte Allianzen verhandeln.“ Gespräche zwischen den Ländern und den Unternehmen laufen weiter. Auch die Fraunhofer-Gesellschaft könnte als Technologiepartner eine vermittelnde Rolle übernehmen.
In einem Punkt sind sich alle Akteure einig: Europa braucht eine leistungsfähige KI-Infrastruktur – doch ohne belastbare Geschäftsmodelle, klare Führungsstrukturen und Standortentscheidungen bleibt die „AI Gigafactory“ vorerst ein Konzept mit vielen Variablen.
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