Täuschung und Selbsttäuschung
Gefühle können vorgetäuscht werden und deshalb kann von ihrer Glaubwürdigkeit vieles abhängen. Eine einfache Methode, Entschlossenheit glaubwürdig zu machen, besteht darin, auf Freiheitsspielräume zu verzichten. Der Aktivist einer ökologischen Bewegung, der sich an die Eisenbahnschienen kettet, um den Zug aufzuhalten, hat mehr Erfolg als jener, der sich nur auf die Schienen setzt und Gefahr läuft, vom Zug langsam beiseite geschoben zu werden. Odysseus hat nach der Landung in Troja nicht bloß angekündigt, eine Rückkehr nach Griechenland sei mit ihm nicht zu machen - er hat befohlen die Schiffe zu verbrennen. Ein weniger dramatisches Beispiel ist der Autoverkäufer, der vorgibt, er sei durch seinen Chef an einen Mindestpreis gebunden. Auch heftige Emotionen können ihre Kraft aus ihrer Unbeeinflußbarkeit beziehen. Ein Mensch, der in seiner Wut die Grenze seiner Selbstbeherrschung offensichtlich überschritten hat, übt wenigstens in diesem Moment große Macht aus.
Glaubwürdigkeit durch Selbstfesselung spielt besonders dann eine Rolle, wenn Normen und Regeln nicht durch staatliche Macht garantiert werden, wie z.B. in der Pionierzeit des Wilden Westens, bei Straßengangs, beim organisierten Verbrechen. Die publik gemachte Entschlossenheit zur Rache und ein unerbittlich durchgesetztes Ehrgefühl sorgen dann für eine gewisse Ordnung. Dabei entsteht jedoch das Problem der Fälschung. Wie kann ich sicher sein, daß die Bestimmtheit des anderen nicht ein Bluff ist, der Autoverkäufer z.B. nur so tut als sei er gebunden? Jeder Mensch ist in der Lage, seine Gefühle schauspielerisch etwas zu verfälschen, zu akzentuieren, herunterzuspielen oder auch ganz zu simulieren. Allerdings verstehen es Menschen auch wieder sehr gut, solche Fälschungen zu erkennen, z.B. ein falsches Lächeln oder ein manipulatives Weinen. Nicht nur bei Menschen gibt es einen Rüstungswettlauf zwischen der Fähigkeit, Signale zu fälschen und gefälschte Signale zu erkennen. Die Eier des Kuckuck ähneln z.B. in ihrer Musterung sehr gut denen seiner Wirtsvögel, welche wiederum feine Unterschiede wahrnehmen können und zuweilen ein Kuckucksei rechtzeitig aus dem Nest werfen .
Betrachten wir eine weitere Parallele aus dem Tierreich: Bei Vögeln werben normalerweise die Männchen, indem sie den Weibchen ein prachtvolles Gefieder oder raffinierte Balztänze vorführen. Weibchen sind sehr wählerisch darin, mit welchem Partner sie ihre kostbaren Gene verbinden, weil ihre Investition in die Fortpflanzung nicht beliebig oft wiederholbar ist. Jetzt könnte bei den Männchen, salopp gesprochen, die Versuchung aufkommen, die Signale ihrer Fitness zu fälschen. Daher ist es im Interesse [7] der Weibchen, nur auf nicht fälschbare Signale zu reagieren, was Männchen begünstigt, die solche Signale bieten. Ein Beispiel dafür ist der prachtvolle Schwanz des Pfaus. Nur gesunde Pfauen mit guter genetischer Fitness können sich eine so luxuriöse Pracht leisten; die weniger gesunden haben aber keine andere Wahl, als ihnen nachzueifern und dieses nicht fälschbare Signal ebenfalls hervorzubringen.
Es kann daher vorteilhaft sein, Signale auszusenden, die das Gütesiegel der Nichtfälschbarkeit tragen. Vielleicht hat dieser Grund, so vermutet Pinker , dazu beigetragen, daß unsere Emotionen schwer vorzutäuschen sind. Sie sollen eben auch nicht fälschbar sein, weil sonst die Existenz des Signalsystems von Bluffern ausgenutzt werden kann. Emotionaler Ausdruck ist an körperliche Systeme angekettet, die nicht dem Willen unterliegen, Systeme, die Herzschlag, Atemfrequenz, Blutkreislauf, Schweißabsonderung, Tränenfluß und vieles andere steuern. Diese Körperfunktionen können uns verraten. Aber gerade, weil sie es können, vermögen sie auch dem Beobachter eine gewisse Garantie für die Echtheit unserer Gefühlsbewegungen zu liefern und das liegt auch im eigenen Interesse.
Nicht nur Menschen können etwas vortäuschen, auch Tiere senden Signale aus, die nicht der Wahrheit entsprechen. So fälschen gewisse Leuchtkäfer das Paarungssignal der Weibchen einer verwandten Spezies, um heranfliegende Bewerber dann zu verspeisen. Für Biologen ist Täuschung die opportunistische Ausnutzung eines existierenden Systems korrekter Information, eine Art Parasitismus . Wenn zum Beispiel eine giftige Eidechse durch ihre auffällige Färbung signalisiert, daß sie nicht gut bekömmlich ist, dann gibt sie ihren Verfolgern ein der Wahrheit entsprechendes Signal, das diese gewöhnlich auch beachten. Damit entsteht für eine verwandte Spezies die Möglichkeit, von diesem Schutz zu profitieren, indem sie – obwohl selbst nicht giftig – sich ebenfalls die auffällige Färbung zulegt und dabei den biologischen Aufwand für die Herstellung toxischer Stoffe im eigenen Körper einspart. Bluff ist in Rivalitätskämpfen die Regel. Schimpansen vermögen sogar ambivalente Emotionen zu unterdrücken und ein Gesicht aggressiver Entschlossenheit aufzusetzen, das in unbeobachteten Momenten schnell wieder verschwindet . Allerdings ist der Ausdruck von Emotionen so eng an unwillkürliche Körperfunktionen gekoppelt, daß verräterische Signale leicht hindurchschlüpfen. Eine Möglichkeit, das zu verhindern wäre, sich selbst ebenfalls zu täuschen. Wenn es dem Schimpansen, der sich unterlegen fühlt, gelänge, sich selbst über seine Stärke etwas vorzumachen, sich also zu überschätzen, dann könnte er einen überzeugenden Eindruck abliefern. Ob Primaten tatsächlich dazu in der Lage sind, ist eine offene Frage . Menschen können es ganz gewiß. Die Psychologen Gur und Sackeim zählen folgende Bedingungen für Selbsttäuschung auf:
Wahre und falsche Information wird simultan gespeichert.
Die wahre Information ist unbewußt und die falsche bewußt.
Selbsttäuschung ist motiviert durch einen pragmatischen Zweck.
Ein Experiment verdeutlicht das: Menschen reagieren auf das Hören einer Stimme mit einer psychogalvanischen Reaktion. Wenn es sich um die eigene Stimme handelt ist diese Reaktion stärker als bei einer fremden Stimme. Im Experiment wurden Versuchspersonen nach dem Vorspielen einer Stimme gefragt, ob es die eigene oder eine fremde war. Zugleich wurde die psychogalvanische Reaktion gemessen. Beide Informationsquellen stimmten nicht immer überein. Fast immer war die psychogalvanische Reaktion korrekt, die verbale Auskunft aber falsch. Der Irrtum hatte zudem Methode: Versuchspersonen, deren Selbstbewußtsein zuvor durch Mißerfolge geschwächt worden war, weil der Experimentator ihnen eine angeblich leichte, tatsächlich aber schwer lösbare Aufgabe gegeben hatte, erkannten ihre eigene Stimme seltener als andere, deren Selbstbewußtsein durch einen ebenfalls manipulierten Erfolg gestärkt worden war. Die "erfolgreichen" Versuchspersonen glaubten, sich selbst zu hören, auch wenn es nicht stimmte und ihre psychogalvanische Reaktion erhöht war, die Stimme also auf dieser Ebene richtigerweise als fremd "erkannt" worden war. Es scheint, als brächten Erfolge die Selbstrepräsentation zur Ausweitung, während Mißerfolge sie schrumpfen lassen. Das Experiment zeigt, daß Wissen auf unterschiedlichen Ebenen gespeichert sein kann, die nicht unmittelbar miteinander in Berührung kommen müssen. Der Kranke, der seinen bedrohlichen Zustand nicht wahrzuhaben scheint, aber dennoch in vielen Reaktionen zu erkennen gibt, daß er sich darauf eingestellt hat, ist ebenfalls ein Beispiel dafür - ein Phänomen, das Avery Weisman als middle-knowledge bezeichnet hat.
Wir haben alle die Tendenz, uns als gutwillig und effektiv wahrzunehmen und zu präsentieren. Der Biologe Robert Trivers nennt diesen Zug "beneffectance". Wenn wir andere verletzt haben, neigen wir dazu, unsere Beteiligung herunterzuspielen oder zu verleugnen. An guten Ergebnissen sehen wir unser eigenes Mitwirken wie durch ein Vergrößerungsglas. Passiert etwas Schlimmes, dann sind wir Opfer der Umstände und beschreiben den Vorgang im Passiv, etwa wie der Autofahrer, der den Baum auf sich zukommen sah. In zwischenmenschlichen Beziehungen nehmen wir bevorzugt die Position des Altruisten ein, dessen Motive rein sind und der andere nicht auszunutzen sucht, sondern eher von ihnen ausgenutzt wird. Wir schreiben fortlaufend die Vergangenheit um, so daß sie mit unseren gegenwärtigen Erfahrungen und Bedürfnissen konsistent bleibt.
Das besondere an der Evolutionspsychologie ist, daß sie auf eine einzige, allerdings weit entfernte Ursache rekurriert, den Reproduktionserfolg. Die Bereitschaft zur Selbsttäuschung ist über viele Zwischenschritte mit dieser ultimaten Ursache verbunden und der Weg sieht folgendermaßen aus: Reproduktiver Erfolg erfordert sozialen Erfolg und dieser wiederum hat reziproke Austauschbeziehungen zur Voraussetzung, in denen man nicht weniger sondern möglichst mehr bekommen sollte [8] als man gibt, was dadurch erleichtert wird, dass man andere etwas täuscht, was wiederum leichter ist, wenn man auch sich selbst täuscht. Menschen, die sich fälschlich als Altruisten betrachten, sind besonders gut in der Lage andere auszunutzen und das ohne Gewissensbisse.
Die korrekte Wahrnehmung der Realität ist für den Erfolg in Wissenschaft und Technik zweifellos eine Voraussetzung. Für das Alltagsleben gilt das nicht immer. Depressive Menschen sind oft genauer in der Wahrnehmung der Situation, in der sie sich befinden und ihrer Möglichkeiten als Nicht-Depressive, die alles ein bißchen zu rosa sehen, mit ihrer unrealistischen Zuversicht aber besser durchs Leben kommen .
In hierarchischen Gruppen, z.B. im Arbeitsleben, ist es für Personen in untergeordneten Positionen vorteilhaft, den Mächtigen zu signalisieren, daß sie keine Bedrohung darstellen, jedenfalls solange sie einer Rivalität nicht gewachsen sind. Dieses Signal ist umso glaubwürdiger, je stärker ein Mensch auch tatsächlich glaubt, daß er kein großes Potential besitzt, sich also nicht viel zutraut oder sich gar durch sein Verhalten selbst Niederlagen beibringt .
Das Konzept der Selbsttäuschung hat Ähnlichkeit mit dem psychoanalytischen Konzept der Verdrängung . Der Psychoanalytiker Malcom O. Slavin interpretiert Verdrängung als adaptive Selbsttäuschung. Zwischen den Wünschen von Eltern und Kindern gibt es immer Konflikte, die gewöhnlich zugunsten der Eltern ausgehen, denn das Kind kann wegen seiner Abhängigkeit die fürsorgliche Zuwendung der Eltern nicht aufs Spiel setzen. Es muß unerlaubte Wünsche und Impulse aber nicht ganz aufgeben; möglich ist auch den Eltern vorzumachen, die Wünsche und Impulse seien nicht vorhanden, und damit die Täuschung wirkungsvoll ist, auch sich selbst so zu täuschen. Die Wünsche und Impulse verschwinden dann nicht ganz, sondern werden gleichsam aufgespart, aufgehoben für Zeiten, in denen sie sich vielleicht besser realisieren lassen. So werden wichtige Teile des Selbst davor geschützt zum falschen Zeitpunkt Unheil anzurichten, aber auch nicht aufgegeben, sondern im Schlummerzustand gehalten
Text zur Anzeige gekürzt. Gesamten Beitrag anzeigen »