Tobias Bayer: Oil-Dotcom
von Tobias Bayer
Wiederholt sich die Geschichte? Blase oder nicht Blase? Die Hausse des Ölpreises und die Prohezeiungen mancher Analysten wecken Erinnerungen an den Internethype.
Es ist der 16. Dezember 1998: Internetanalyst Henry Blodget von CIBC Oppenheimer prophezeit, dass der Aktienkurs des Web-Buchhändlers Amazon über den Zeitraum von zwölf Monaten von 200 $ auf 400 $ springt.
Binnen zwölf Tagen ist das Kursziel erreicht - und Blodget ein Star. Mai 2008: Rohstoffanalyst Arjun Murti von Goldman Sachs prophezeit, dass der Ölpreis in den kommenden zwei Jahren auf 150 $ bis 200 $ steigt. Am 22. Mai verteuert sich Rohöl auf über 135 $ - und Murti ist aus der internationalen Presse nicht mehr wegzudenken.
Heute wissen wir, wie es mit Blodget und der Dotcom-Welt weiterging. Der Shootingstar kehrte der Bankenwelt (zwangsweise) den Rücken und schreibt nun für das Onlinemagazin "Slate". Die Amazon-Aktie brauchte fast eine Dekade, um auf alte Höchststände zu klettern, und die Investoren sind nach dem Platzen der Internetblase um Milliarden ärmer.
Was wir nicht wissen, ist, wie es mit Murti und Rohöl ausgehen wird. Ehrlich gesagt: Keiner kann die Frage seriös beantworten, ob die aktuellen Rohölpreise fundamental gerechtfertigt sind oder ob es sich hier um die "Mutter aller Blasen" handelt. Auffällig ist nur, dass sich die Argumentationen auf dem Höhepunkt der Interneteuphorie und heute ähneln. Mag der Ölpreis auch wegen höherer Förderkosten langfristig steigen und die Zeit des billigen schwarzen Goldes vorbei sein: Ein bisschen Skepsis angesichts der Rohstoffrally ist mit Blick ins Geschichtsbuch durchaus angebracht.
Die Welt, wie sie uns gefällt
Dezember 1999: "Kann es sein, dass die alten Bewertungsmodelle der Wall Street, die auf historischen Kurs-Gewinn-Verhältnissen beruhen, grundlegend falsch sind?" (James Glassman, Kevin Hassett, Autoren von "Dow 36.000")
Auch in der Ölwelt hat sich alles geändert - wird zumindest behauptet. Während frühere Preisschocks auf eine Verknappung des Angebots zurückzuführen waren, habe man es heute mit einem Nachfrageboom aus Asien zu tun, lautet die einhellige Analyse. Das ist zwar korrekt - nur muss diese Einschätzung seit fünf Jahren ununterbrochen als Begründung für steigende Preise herhalten. Sie wurde bei 30, 40, 50, 60, 70, 80, 90, 100, 110, 120 und 130 $ gegeben - und sie hat immer noch nicht ausgedient. Barclays Capital hat das zu einem hübschen Konzept verdichtet: Der Ölmarkt sei wie ein Kleinkind, das sich eine neue Preiswelt ertaste. Mit anderen Worten: Jeder Ölpreis ist fair.
10. März 2000, der Nasdaq erreicht das Rekordhoch von 5132,52 Punkten: "Er kann in den nächsten 12 bis 18 Monaten auf 6000 Punkte steigen." (Ralph Acampora, technischer Analyst, Prudential Securities; das Hoch ist seitdem nie wieder in Sichtweite geraten)
Wenn der Preis steigt, korrigieren die Analysten ihre Prognosen nach oben. Das war während der Jahrtausendwende so - und ist auch heute der Fall. Der Zeitpunkt ist kritisch: Gerade jetzt, wo alle vom Ende des Ölzeitalters philosophieren und die alte Peak-Oil-Debatte hervorgekramt wird, zeigen sich die ersten Risse im Gedankengebäude der Ölbullen. In den USA, dem größten Verbraucherland der Welt, fiel die Ölnachfrage im März um 3,5 Prozent. Die Amerikaner legten mit ihren Autos im März elf Milliarden Meilen weniger zurück als im Vorjahr. Das ist der erste Einbruch seit 1979.
Auch in Asien kracht es gewaltig. Viele Länder subventionieren Energiepreise - und geraten zusehends in finanzielle Schwierigkeiten. Im Fall Indonesiens beispielsweise beliefen sich diese Maßnahmen auf 20 Prozent der Staatsausgaben, weshalb die Regierung im Mai die Benzinpreise um 30 Prozent erhöhte. In Indien ächzen die Raffinerien unter Verlusten in Milliardenhöhe, weil die Preise im Inland festgesetzt sind und gleichzeitig die Beschaffungskosten steigen. "Wir halten uns alle Optionen offen", sagt Indiens Ölminister Murli Deora. Das hört sich nicht gut an für den durchschnittlichen Verbraucher in Delhi und Mumbai.
Kommen wir zum entscheidenden Puzzlestück China. Die Ölimportzahlen der Volksrepublik sind erratisch. Ein Plus von 14 Prozent im Februar, 25 Prozent Zuwachs im März - und dann ein Minus von vier Prozent im April. Was das bedeutet? Die Analysten von Lehman Brothers, die in einer Studie von "Oil-Dotcom" sprechen, sehen darin einen Beleg für einen von der Partei verordneten Lageraufbau vor den Olympischen Spielen. Glaubt man der Lehman-These, wird sich ein Teil der Nachfrage also schlicht im Medaillenregen auflösen.
Knapp, knapper, Ölmarkt? Dafür braucht es inzwischen viel Fantasie. Dank einer starken Förderung aus Saudi-Arabien gibt es in diesem Quartal ein Überangebot von 0,8 bis 1 Million Barrel (ein Barrel entspricht 159 Litern) täglich. Produktionsausfälle in Nigeria? Seit 2003 gibt es die, aktuell liegen die Afrikaner jedoch 300.000 Barrel über ihrem Ausstoß im vergangenen Jahr. Wenn jetzt noch Russland nach der Änderung seiner investitionsfeindlichen Steuergesetze alte Förderhöhen erreicht, heizen die Ölverbraucher nicht länger auf einem Engpass, sondern auf einer zwölfspurigen Autobahn.
März 2000: "Im Fokus der Investoren standen weiterhin aussichtsreiche Branchen, wie zum Beispiel der Technologiesektor. So erreichte der am 10. Januar 2000 aufgelegte Deka-Technologie bereits bis Ende März ein Fondsvermögen von 7,8 Mrd. DM." (Geschäftsbericht der Deka-Bank für das Jahr 1999; der Deka-Technologie hat seitdem 80 Prozent verloren)
Bleiben als wichtigster Gefahrenindikator für eine Ölblase die Werbeplakate an Bus- und Bahnhaltestellen. Wenn Ihnen dort statt H&M-Models Bohrtürme ins Auge springen, dann ist es um die Hausse nicht gut bestellt. Wenn dann auch noch vom "Schmierstoff für das Portfolio" die Rede ist, sollten Sie das einzig Vernünftige tun: Denken Sie an schwedische Unterwäsche, und vergessen Sie Arjun Murti.
Tobias Bayer ist Redakteur im FTD-Finanzressort. Er schreibt dienstags im Wechsel mit Lucas Zeise.