( aus Spiegel-online.de) MEDIZIN-NOBELPREIS
Zellen mit falschen Kopien überlisten - das ist der Trick, für den Fire und Mello den Nobelpreis bekommen. Dank ihrer Forschung können heute einzelne Gene stummgeschaltet werden. Vielleicht arbeiten bald auch Medikamente so. Die Preisträger jedenfalls sind echte Nobel-Schnellstarter.
Einen Hinweis gab es für die Wettsüchtigen und Kaffeesatzleser, die auf Websiten hartes Geld darauf setzten, welche Namen am heutigen Montag in Stockholm bekannt gegeben würden: Die Medizin-Nobelpreisträger Fire und Mello hatten bereits im März den mit 100.000 Euro dotierten Paul-Ehrlich-und Ludwig-Darmstädter-Preis erhalten - immerhin den wichtigsten deutschen Medizinpreis.
"Die Preisträger dieses Jahres haben einen fundamentalen Mechanismus entdeckt, um die Weitergabe genetischer Informationen zu kontrollieren", begründete das Nobelkomitee des Karolinska Instituts in Stockholm seine Wahl.
Mit ihrer Arbeit über RNA-Interferenz ehrt die Nobelstiftung gleichzeitig mikrobiologische Grundlagenforschung und die Entwicklung eines potenten Werkzeugs für die biomedizinische Forschung. Ob es eines Tages auch zum klinischen Einsatz kommt und als Therapie Kranken helfen wird, muss sich noch zeigen.
Die Wissenschaft beschäftigt der geheimnisvolle Mechanismus seit rund 15 Jahren. Erstmals aufmerksam wurden Genforscher im Jahr 1990 auf den Stummschalter für Gene - auch wenn sie sich ihn damals noch nicht erklären konnten: Um die Blütenfarbe von Petunien zu verstärken, hatten Wissenschaftler ein bestimmtes Gen in die Blumen eingeschleust, von dem man wusste, dass es die Produktion von Blütenfarbstoffen anregte. Doch zur allgemeinen Überraschung blieben die genveränderten Blümchen beinahe weiß. Nicht nur hatten die eingeschleusten Gene versagt, auch hatten sich offenbar die natürlich vorhandenen weniger stark bemerkbar gemacht.
Diese plötzliche Unterdrückung blieb zunächst geheimnisvoll. In den nächsten Jahren wurde aber klar: Nicht nur beim Ablesen vom DNA-Doppelstrang können Gene abgeschaltet werden. Auch später noch können die RNA-Abschriften einzelner Gene in den Zellen abgebaut werden - normalerweise hingegen würden nach der Anleitung in diesen Kopien Proteine gefertigt.
Strickleiter-Molekül schaltet Gene aus
Wenn die Zelle eines der Gene abliest, fertigt sie dafür zunächst eine Abschrift der gewünschten Erbanlage, die Boten-RNA (auch mRNA von Messenger, englisch für Bote). Nur sie verlässt den Zellkern. Die Abfolge der chemischen Bausteine darauf bestimmt darüber, welches Protein nach dieser Vorlage entsteht und seine Wirkung im Organismus entfalten kann. Die Boten-RNA ist stets als einzelner Strang, während die DNA doppelsträngig vorliegt.
Im Jahr 1998 wurde das Erbgut des Fadenwurms Caenorhabditis elegans sequenziert. Und die US-Forscher Andrew Fire von der kalifornischen Stanford University und Craig Mello von der University of Massachussets sorgten mit einem Experiment für Aufsehen.
Mello und Fire spritzten den winzigen Fadenwürmern künstliche RNA-Moleküle. Im Gegensatz zum Original waren diese zweisträngig - ähnlich einer Strickleiter. Als Reaktion auf die ungewohnten RNA-Schnipsel bauten die Zellen der Würmer nicht nur das irreguläre doppelte, sondern auch das normale einsträngige RNA-Molekül ab. Daher wurde das Protein, das in der RNA beschrieben war, nicht produziert. Forscher sprechen hier auch vom Gen-Knockdown.
Die Medizinnobelpreisträger 2006 hatten also einen natürlichen Mechanismus als Verfahren für die Forschung nutzbar gemacht: Wer die Reihenfolge der Original-Bauvorlage kennt, kann die passenden RNA-Doppelstränge im Labor herstellen und in die Zelle spritzen. Jedes Gen oder gleich mehrere lassen sich so ausschalten. Ein - wesentlich komplizierterer - Eingriff in die Erbsubstanz der DNA im Zellkern ist nicht nötig.
In den folgenden Jahren fanden viele Gruppen heraus, auf welche Weise Zellen die doppelten RNAs und das einsträngige Original entdecken und vernichten. Dabei stellte sich heraus, dass viele Organismen dieses Verfahren auch natürlicherweise nutzen: Viren etwa bringen häufig doppelsträngige RNA-Moleküle mit, um die Verteidigung befallener Zellen zu schwächen.
Nobelpreis für junge Entdeckung - und junge Forscher
Mit sogenannter Mikro-RNA (miRNA) lassen sich auch beim Menschen gezielt die Abschriften einzelner Gene stummschalten. 2002 kürte das Wissenschaftsmagazin "Science" diese Erkenntnis zum "Durchbruch des Jahres".
"RNA-Interferenz eröffnet uns aufregende Möglichkeiten in der Gentechnik", sagte das Nobelkomitee am heutigen Montag. "Es gibt bereits Pläne, RNA-Stummschaltung als Therapie bei Virusinfektionen, Herzkreislaufkrankheiten, Krebs, hormonellen Störungen und einer Reihe anderer Krankheiten zu entwickeln."
Er habe es für möglich gehalten, den Preis für die Entdeckung der RNA-Interferenz zu gewinnen, sagte Craig Mello, "aber ich bin erst 45 Jahre alt, daher dachte ich, dass es in zehn oder zwanzig Jahren passieren würde." Sein Kollege Fire ist 47 Jahre alt.
Seit rund fünfzehn Jahre beschäftigen sich Wissenschaftler mit diesem Phänomen, vor acht Jahren veröffentlichten Fire und Mello ihren Aufsatz zum Fadenwurm-Experiment. Das ist an den Maßstäben des Nobel-Komitees gemessen ein relativ überschaubarer Zeitraum: Der Forscher Peyton Rous etwa musste mehr als 50 Jahre warten, bis ihm der Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung Krebs-verursachender Viren zuteil wurde.
stx/AFP/AP/dpa/rtr
BILD: Andrew Fire (links) und Craig Mello