boerse.de: Wahrheit und Hofberichterstattung

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boerse.de: Wahrheit und Hofberichterstattung

 
06.12.01 11:11
Ronald Gehrt

Wahrheit und Hofberichterstattung


Es ist schon beeindruckend, was der Anleger in den
Medien an Absurdem zu hören bekommt. Und nicht selten
wird die Wahrheit schlicht und ergreifend zu Gunsten einer
ins Bild passenden Aussage "zurechtgebogen". Ein
Paradebeispiel war die Rallye an der Wall Street am
Dienstag. Nachdem die Kurse bis 20:00 Uhr unserer Zeit
mehr oder weniger müde mit leichten Gewinnen seitwärts
tendierten, zogen Dow Jones und Nasdaq plötzlich an. Für
die Berichtersatter Alarmstufe Rot: Jetzt galt es blitzschnell,
Begründungen zu finden. Die Wahrheit war:

Die Rallye war technischer Natur. Mehr nicht (als ob das
nicht reichen würde). Dow und Nasdaq hatten am Vortag
ihre 20-Tage-Durchschnittslinien und zugleich ihre
September-Aufwärtstrendlinien angelaufen und verteidigt.
Nachdem sich zwei Stunden vor Handelsschluss
abzeichnete, dass kein weiterer Verkaufsdruck zu erwarten
wäre, stiegen die kurzfristig orientierten Trader ein. Und
bitte: Warum denn nicht? Wo kauft man den sinnvoller als
an einer Aufwärtstrendlinie?

Aber "technisch" klingt nach Ansicht vieler Reporter
immer noch wie "unecht", also galt es, sich schnell etwas
zusammenzureimen. Da wurde zunächst die Heraufstufung
der Halbleiterbranche durch UBS Warburg hervorgeholt.
Ein Triumph! Die Wende! Ignoriert wurde, dass gerade
diese Branche in den vergangenen zwei Monaten von gut
der Hälfte der Brokerhäuser herauf- und von der anderen
Hälfte herabgestuft wurde – im heiteren Wechselspiel.
Denn Fakt ist, dass sich kein Abschwung ohne kurze
Gegenreaktionen abspielt. Dass die Stabilisierung bei der
Auftragslage im November daher die definitive Wende

darstellt, wie es die Berichterstatter dann am Mittwoch
Morgen feierten, ist nicht mehr als eine starke Behauptung.

Nicht ins Bild passte, dass der bekannte Morgan
Stanley-Analyst Barton Biggs ebenfalls am Dienstag
warnte, hier einer gefährlichen, spekulativen Blase
aufzusitzen, die jederzeit platzen könne. Begründung: Die
Kurse steigen extrem schnell und antizipieren eine baldige
Wende zum Besseren, für die es aber noch keinerlei
greifbare Hinweise gibt. Das passte nicht ins Bild, wurde
daher am Dienstag Nachmittag kurz erwähnt und
verschwand dann sofort aus der Berichterstattung, als die
Kurse ihre Rallye begannen. Doch das "Zurechtbiegen" der
Wahrheit war damit nicht zu Ende:

Die Analystenkonferenz bei Cisco Systems wurde zur
Wallfahrt für Börsenbullen. CEO Chambers sagte hier,
dass die Umsatz- und Auftragentwicklung im November
genau im Plan gelegen hätte. Ist das nicht unfassbar? Das
ist die Wende, ist doch ganz klar! Überlegen Sie: Ein
ganzer Monat im Plan! Klang aber doch irgendwie dünn.
Und so wurde aus "genau im Plan" in den Medien nur
Stunden später "über den Erwartungen".. Besonders
peinlich:

In der Morgen-Telebörse am Mittwoch sprach der
Wall-Street Reporter von "im Plan", in der selben Sendung
die Moderatorin von "über den Erwartungen". Nicht ganz
glaubhaft gelungen, das Zurechtbiegen. Zudem: Wenn die
Good News" bei Cisco das Zugpferd der Rallye gewesen
sein soll, warum stieg dann der Nasdaq 100 um 4,3
Prozent, Cisco selbst aber nur um 3,3 Prozent? Verehrte
Leser:

Ich finde an einer Aufwärtsbewegung, die initiiert wurde,
weil eine Trendlinie gehalten hat, nichts Problematisches.
Außer vielleicht, dass dadurch nicht garantiert werden
kann, dass die Kurse eben diese Linie nicht ein paar Tage
später doch noch durchbrechen. Aber so ist eben die
Realität. Natürlich klingt "Wende" besser. Aber wenn sich
diese Sprüche als heiße Luft erweisen, ist dieser
leichtfertige Umgang mit der Wahrheit einfach ein Skandal.
Und auch, wenn die Mehrzahl der Anleger nicht mit
Derivaten arbeitet, von fallenden Kursen daher nicht
profitieren kann und folgerichtig auf steigende Kurse hofft,
ist es inakzeptabel, den Hoffnungen nach dem Mund zu
reden, wenn dadurch finanzielle Schäden entstehen
können. Denn bitte erinnern Sie sich:

Genau die selben "Hurra-Sprüche" haben wir im Mai und
Juni diesen Jahres gehört. Keine Rezession, markante
Erholung der Gewinne, die Wende ist vollzogen. Starke
Behauptungen, null Beweise. Fakt war: Wochen später
sackten die Börsen durch und markierten neue
Tiefststände. Und zwar, weil sich die Jubelparolen als
heiße Luft erwiesen hatten. Aber wie viele Investoren hatten
auf diese "Analysen" gebaut und im Bereich der
Zwischenhochs im Juni gekauft? Ich persönlich schließe
mich den Aussagen von Barton Biggs an, nicht zuletzt, weil
ich genau diese Warnung bereits seit Wochen immer
wieder abgebe. Es ist nun einmal so, dass Kursrallye und
Fundamentals aktuell sogar noch krasser auseinander
gelaufen sind wie im Frühsommer. Und daher ist die
Wahrscheinlichkeit, dass die Kurse eben nicht einfach ewig
weiter steigen, sondern noch einmal deutlich schwächer
gehen werden, im Moment sehr hoch.

Doch zunächst einmal haben Dow und Nasdaq ihre
Trendlinien verteidigt, und das ist kurzfristig bullish.
Vergessen Sie Cisco und UBS Warburg. Denn die
Hofberichterstatter der Hausse werden sie auch vergessen
haben, wenn es erneut gilt, einen Grund für eine Rallye
oder einen Kursrutsch zu finden, der bitte auf keinen Fall
"technisch" sein darf!

Mit besten Wünschen Ihr

Ronald Gehrt
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