Die satanische Frage (Teil II)
Ebenso wenig, wie die krawattenbewehrten Wegweiser der Aktienmärkte imstande oder bereit sind sich in die Lage eines amerikanischen Normalbürgers zu versetzen, dem die aktuellen Entwicklungen brutal an den Geldbeutel und nicht selten bereits an die finanzielle Existenz gehen, ist auch nicht davon auszugehen, dass diese Leute bezüglich Asien ihre Rechnung mit dem Wirt machen würden.
Daher sollte man sich als privater Investor durchaus die Frage stellen, warum Asien als Allzweckwaffe imstande sein soll, um die USA aus ihrer Misere heraus zu pauken.
Was amerikanische Kurs-Wahrsager schon bei uns Europäern nicht hinbekommen, schaffen sie bei Asiaten wohl erst recht nicht: Sich wirklich in die Menschen hinein zu versetzen. Man sieht die Bevölkerung als „Element“, das Dinge tun wird. Und zwar genau das, was man vorhersagt und der US-Wirtschaft gut tut: konsumieren. Natürlich in rapide steigendem Umfang und – klar – vor allem die begehrten Waren aus Amerika. Soso.
Amerikanische Analysten haben schon mit uns Europäern Probleme. Sie schätzen unser Verhalten oft grottenfalsch ein, weil sie davon ausgehen, dass jeder Mensch auf der Welt wie ein Amerikaner denkt oder handelt oder er, sofern ihm dazu die Mittel fehlen, danach strebt, diese Mittel zu erlangen.
Schon die seltsame, verquere Neigung der Europäer, Geld für schlechte Zeiten auf die Seite zu legen, mit Krediten vorsichtiger zu sein und Dinge viel intensiver nach ihrem Nutzen und ihrer Notwendigkeit zu beurteilen, stößt oft auf Unverständnis. Was wohl schlicht daran liegt, dass die letzte wirklich tiefe Wirtschaftskrise mit hungernder Bevölkerung in den USA in den 30er Jahren auftrat und nahezu allen Konsumenten nicht mal mehr als Erinnerung gegenwärtig ist ... während ganz Europa bis in die 60er Jahre hinein die Auswirkungen des II. Weltkrieges spürte. Alleine deshalb ist die Zahl derer, die leichtsinnig mit ihrem Geld umgehen, in Europa deutlich kleiner. Die Vergleiche der Wachstumsraten im Konsum und bei Kreditaufnahmen zwischen Europa und den USA sprechen hier Bände.
Warum sollte Asien die USA aus dem Matsch ziehen?
Und nun stellen sich die Experten hin (die sich aufgrund ihrer Gehälter eigentlich sowieso selbst disqualifizieren, das Verhalten einfacher Bürger beurteilen und vorhersehen zu wollen) und erklären uns, was die Bürger in Indien, China und den anderen boomenden Staaten Asiens tun werden. Lustig. So lange man es nicht ernst nimmt.
Also: Warum wird der Konsum in China und Indien rapide anwachsen und damit Amerika einen zweiten Frühling bescheren? Nun, eines ist sicher: Er muss, sonst sitzen die Amerikaner tief in der Tinte. Aber schert das Asien?
Ist den asiatischen Ländern daran gelegen, einen Konkurrenten wieder stark zu machen, der den freien Welthandel predigt ... solange er im Interesse der USA ist ... und ihnen permanent in Wirtschaft und Politik hineinquatscht ohne sich für die Mentalität dieser Länder auch nur einen Deut zu interessieren? Es könnte dafür nur einen Grund geben: Wenn diese Boom-Staaten die USA brauchen, um weiter voranzukommen. Also: Brauchen sie die USA?
Braucht Asien die USA?
Als Lieferant von Know How und Material ... vor fünf Jahren sicherlich. Heute kann Europa fast all das, was Asien brauchen kann, ebenso gut liefern. Außer Hamburgern. Und die deutschen Exportraten beispielsweise deuten an, dass diese Alternativen gerne genutzt werden, trotz „billigem“ US-Dollar.
Als Absatzmarkt – sicher, das wäre wünschenswert. Aber nicht zu jedem Preis. Der ja nicht zufällig so extrem gedrückte Dollar erzeugt Preisdruck. Die asiatischen Waren müssen in den USA mit geringeren Gewinnspannen verkauft werden als in Europa. Da die Rohstoffkosten auch für Asien steigen und die Löhne dort ebenfalls steigen müssen, ist schnell ein Punkt erreicht, wo man es auch gleich bleiben lassen kann, da man beim Export in die USA nichts mehr verdient ... aber der ganze Rest der Welt weiter ein lukratives Absatzgebiet bleibt.
Ich meine: Diese Boomstaaten haben sicher nichts gegen gute Absätze in den USA. Aber werden die Konditionen hierfür weiter schlechter, können sie es auch bleiben lassen. Erpressbar wie vor fünf oder zehn Jahren ist die asiatische Wirtschaft auf jeden Fall nicht mehr. Während zugleich die imperialen Gehirne in den USA weiter denken und planen, als sei dem so. Amerikaner, kauft amerikanische Waren (und lasst die asiatischen liegen) und helft eurer Wirtschaft. Asiaten, kauft amerikanische Waren und helft uns ... sonst haben wir euch nicht mehr lieb.
Die USA denken und handeln, als würde der Rest der Welt von ihnen abhängig sein. Sie haben nicht bemerkt, dass es oft längst anders herum ist. Und dass man Besserwissern, die sich permanent in alles einmischen, sich aufführen, als seien sie alleine das Salz der Erde und dann auf einmal beweisen, dass sie nicht einmal ihren eigenen Laden ansatzweise im Griff haben, nicht auch noch gratis unter die Arme greift.
Werden die asiatischen Konsumenten immer mehr konsumieren?
Aber die Bürger dort, so erklärt man uns, die werden weiter kaufen, kaufen und noch mal kaufen. Sie wollen Autos, Kühlschränke, Flachbildschirme und Handys. Heißt es. Wollen sie? Sicher. Aber die prognostizierten Absatzzahlen der Zukunft, mit denen sich viele Experten gegen die fallenden Absätze in den USA „immunisieren“, basieren auf folgenden Annahmen:
Der Bevölkerungsanteil, der von den neuen Segnungen profitieren kann und wird, wird schnell zunehmen und das freie Einkommen in diesen Boomregionen wird zügig weiter ansteigen. Ich bin kein Prophet und kann daher nicht ausschließen, dass es so kommt. Aber ich will ein paar Fragezeichen in den Weg stellen:
Zunächst meine ich, dass der Anteil derer, die plötzlich aus Lebensumständen der 3. in die 1. Welt katapultiert werden, nicht besondern schnell wachsen kann und wird. Die weniger als 20% der Menschen, die diesen rapiden Wechsel der Lebensumstände erleben (oder kurz davor stehen, diesen Sprung zu machen), ballen sich in den großen, aus den Nähten platzenden Metropolen. Wenngleich Länder wie China und Indien mit aller Kraft und auf Kosten der restlichen 80% der Menschen ebenso wie auf Kosten der Umwelt versuchen, den Fortschritt mit der Brechstange zu forcieren, dürfte die flächendeckende, spürbare Verbesserung der Lebensumstände in den kommenden Jahren langsamer voranschreiten, weil die Infrastruktur es einfach nicht zulässt.
Ein zweiter Aspekt ist, dass Chinesen und Inder im Gegensatz zu den überwältigenden Mehrheit der Amerikaner das Elend sehr wohl kennen ... und auch die Risiken, dort wieder zu landen. Nehmen wir mal die kleine spielsüchtige Gruppe der Neu-Börsianer in Bombay, Shenzen und Shanghai aus. Der Rest wird ähnlich auf dem Teppich bleiben wie wir Europäer in den 50er und 60er Jahren. Man wird sparen, vorsichtig bleiben und die kleinen Schritte genießen ... aber sicherlich nicht, wie sich manch ein US-Analyst das vorstellt, wie wild Kredite aufnehmen, um alles sofort und doppelt und dreifach zu bekommen, was die neue Welt ihm an Segnungen bietet. Zumal ich einfach mal behaupte:
Der Anteil der Menschen, die sich in diesen Regionen vor einer Anschaffung fragen, warum sie das tun wollen und ob der Nutzen hoch genug ist, um sie zu rechtfertigen, liegt wohl noch lange Zeit höher als in den USA oder bei uns. Was manch einer nicht bedenkt ist: Der Reichtum ist neu ... aber Weisheit, Bildung und Verstand sind in Asien zu Hause. Ob man das von den USA – nur in ihrer Gesamtheit natürlich – ebenso behaupten kann?
Asien ist keine Insel
Dennoch, zweifellos wird der Absatz an Konsumgütern in dieser Region wachsen, keine Frage. Aber nicht in dem erhofften Ausmaß ... und es gibt zudem eben trotz des schwachen Dollars nicht die Tendenz, die USA als Lieferanten besonders zu bevorzugen. Aber es gibt andererseits noch drei weitere Aspekte, welche die Suppe böse versalzen können und die momentan einfach nicht diskutiert werden:
Warum boomt Asien? Weil sie Waren oder Dienstleistungen herstellen, die in Europa und den USA reißenden Absatz finden. Davon profitieren europäische und US-Unternehmen, die in Asien produzieren oder beraten, aber vor allem die dortigen Firmen. Viele Menschen finden dadurch qualifiziertere und besser bezahlte Arbeit ... und können sich dadurch mehr leisten. Schön. Aber:
Was früher in diesen Ländern nicht hergestellt wurde und teilweise nicht einmal frei zu kaufen war, wird dort nun hergestellt. Aber eben keineswegs nur von europäischen und US-Unternehmen, die dort operieren. Ob Elektronik oder Automobile, die dortigen Marken wachsen, verbessern sich und machen den „alten Marken“ der Industriestaaten zusehends harte Konkurrenz. Nicht nur dort, auch in Europa und den USA. Haken Nummer 1 ist also: Auch, wenn die Bürger dort immer mehr konsumieren ... es kann sein, dass Europa und die USA in den nächsten Jahren weniger davon profitieren als sie sich erhoffen.
Der zweite, volkswirtschaftlich eigentlich simpel auf der Hand liegende, potenzielle Haken ist die Basis all dessen. Richtig ist zwar, dass der Binnenkonsum in den Boomstaaten zügig steigt. Aber die Basis und das Rückgrat des Aufstiegs war ja der rapide steigende Absatz von Gütern in die USA.
Doch dort klemmt die Nachfrage jetzt und der schwache Dollar erschwert gewinnbringende Exporte aus Asien in die USA zusätzlich. So, und jetzt muss man sich überlegen: Kann die Binnennachfrage einen Rückgang der US-Exporte ausbügeln? Möglich. Aber um weiteres Wachstum im Konsum in China oder Indien zu erzielen, müsste diese Binnennachfrage diese Einbußen ja klar überkompensieren. Kann sie das?
Das ist eben fraglich, denn das steigende Einkommen der Konsumenten ist eben genau davon abhängig – dass der Absatz dieser Unternehmen wächst. Wird nicht mehr verkauft, dann steigen die Gewinne nicht. Steigen die Gewinne nicht, steigen die Gehälter nicht. Steigen die Gehälter nicht, wird nicht mehr verkauft. Und der Kreis ist geschlossen.
In den USA wurde dieser Kreis jahrelang durchbrochen, indem US-Regierung und –Familien sich immer mehr verschuldeten. Aber – siehe oben – ob die Bürger der Boomstaaten Asiens diesen Aspekt des „American Way Of Life“ übernehmen werden, wage ich zu bezweifeln ... zumal sie ja gerade vorgeführt bekommen, wie wunderbar man damit auf die hoch getragene Nase fallen kann! Und der letzte Haken:
Die Inflationsspirale gibt Gas
Die Preise steigen in Asien rapide. Alleine die neueste, entsetzliche „Idee“ einiger Spekulanten und Spieler hat das Potenzial, katastrophale Folgen zu zeitigen: Der Preis für Reis, der Nahrungsbasis von drei Milliarden Menschen, hat sich in den letzten 12 Monaten mehr als verdoppelt und wird nun von den Spielern am Futuresmarkt immer schneller nach oben gezockt. Folge:
Das beschneidet die Kaufkraft zahlloser Menschen in den asiatischen Boomländern brutal. Dabei leiden diese ohnehin ebenso wie der Rest der Welt unter haussierenden Energiekosten und steigenden Preisen anderer Rohstoffe. Was heißt:
Viele, die gerade dabei waren, sich über die stacheldrahtbewehrten Mauern der Armut zu ziehen, werden so wieder zurück geworfen. Und vielen, die bereits ein gutes Einkommen haben, fehlt auf einmal das Geld, das für ein Handy oder einen Fernseher vorgesehen war. Und hinzu kommt, dass die Produktionskosten der asiatischen Unternehmen ebenso steigen wie andernorts ... und das bescheidet den Absatz und/oder Gewinn, was nicht erwarten lässt, dass Lohnsteigerungen erfolgen können, die die schnell steigenden Inflationsraten ausgleichen.
Fazit: Die USA haben keine Chance. Und das werden sie nutzen
So, nun bin ich durch. Und diese Gesamtsituation in Asien soll also angetan sein, um die USA aus der Tinte zu ziehen? Ich kann mir vorstellen, dass es möglich sein wird, dass die Boomregionen Asiens bei behutsamer Politik imstande sein werden, nicht wieder vergleichbar zurück in die Tiefe zu rutschen wie Ende der 90er Jahre die Tigerstaaten, als sich die USA (offiziell natürlich unbeteiligt) durch den Devisenkrieg unliebsame Konkurrenten vom Hals schaffte.
Aber die Erwartung vieler so genannter Experten, dass aus Asien die Rettung für die US-Konjunktur kommen wird, stufe ich angesichts obiger Punkte als sehr zweifelhaft ein (eigentlich schließe ich es aus, formuliere es aber freundlicher).
Was aber kann nun die Wende bringen? Denn rein theoretisch könnten diese Spiralen des Abstiegs ja endlos weitergehen. Könnten sie in der Tat. Man muss die Bremse reinhauen. Bei uns klappte das immer mit Regierungsaufträgen und ein paar mehr Krediten. Sprich, wenn z.B. Mitte der 70er oder Anfang der 80er (und ganz viel früher auch mal) nichts mehr ging, kam die Regierung, gab für ein paar Milliarden Bundesanleihen mit attraktivem Zins heraus und vergab für das Geld Aufträge: Hochhäuser, Straßen, Brücken, Denkmäler etc ... Dinge, die man brauchte oder auch nicht – Hauptsache der Kessel dampfte wieder. Es kamen wieder mehr Menschen in Arbeit, die konnten sich wieder was leisten und die Spirale begann, wieder in die andere Richtung zu laufen.
Das klappte bislang immer. Zurück blieben halt die Defizite im Staatshaushalt, aber da jedes Land vom anderen pumpte, glich sich das irgendwie wieder aus und der Wert des Geldes fiel nur langsam.
Selbst reingeritten ... und schadenfroh sitzen gelassen
Blöd nur, dass die USA das alles schon hinter sich haben. Im dämlichen Bestreben, seit Jahrzehnten unbedingt jedwede Rezession (die ja nur ein Teil des natürlichen Wirtschaftskreislaufs ist) zu vermeiden, hat man seit Jahren sinnlose oder zumindest oft sinnarme Regierungsaufträge verteilt (siehe Irak-Krieg), Staatsanleihen in Klopapier verwandelt und den Geldwert des Dollars völlig ruiniert. Und nicht nur der Staat, sondern auch die Privathaushalte sind per saldo so brutal verschuldet, dass es nun nicht mehr verfängt, noch eine kleine Schippe draufzupacken.
Ich meine, dass Europa und Asien in diesen Sog mit hinein gezogen werden, aber momentan den Anschein erwecken als würde man dort weise genug agieren, um die Auswirkungen in Grenzen zu halten. Aber für die USA sehe ich keinen natürlichen Weg, um aus dem Schlamassel zeitnah und auch nur mit eineinhalb blauen Augen herauszukommen. Und ein solcher „Meltdown“, um auch mal einen blöden Fachausdruck zu benutzen, wäre auch gut so.
Das erste Stück des Abstiegs machten die USA alleine. Der zweite Teil läuft momentan und wird uns ebenfalls beeinträchtigen. Aber der dritte Teil, das große Finale, werden die USA alleine feiern dürfen. Das kann noch dauern – Monate, vielleicht sogar ein Jahr. Aber dann wird wohl etwas funktionieren, was heute noch nicht vorstellbar ist: In US-Aktien und dem Dollar Short gehen und in Europa und Asien Long – und in beidem zeitgleich verdienen. Denn ich gehe wirklich davon aus, dass das Erkennen, dass all die seichten Beschönigungen der US-Experten und –Politiker mehr als nur daneben sind, wirklich dazu führen wird, dass wir, anders als so viele Jahre bis heute, eine zweigeteilte Börsenwelt sehen werden. Vergleichbar mit dem isolierten Abstieg und „liegen bleiben“ des japanischen Aktienmarkts in den 90ern.
Bis dahin aber erwarte ich zunächst das reine „Erkennen“ mit dem Automatismus, dass alle Börsen der Welt darauf stereotyp mit reagieren ... und sammle seit Montag wieder Puts ein.
Herzliche Grüße
Ihr
Ronald Gehrt
www.system22.de