HANDELSBLATT, Donnerstag, 24. November 2005, 15:44 Uhr
INTERVIEW
Lehman: "Viele Chancen in Deutschland"
Lehman Brothers will im deutschen Investmentbanking kräftig zulegen. Das verkündetet Vorstands-Chef Richard Fuld im Handelsblatt-Interview.
Handelsblatt: Herr Fuld, Sie haben stark in ihr Deutschlandgeschäft investiert. Was interessiert Sie an diesem Standort mit geringem Wachstum und stockender Reformpolitik?
Richard Fuld: Wir reden über ein Land, das seine Probleme erkannt hat und sie jetzt ernsthaft anpackt; über ein Land, das bereits eine Menge von Reformen auf den Weg gebracht hat. Ich sehe für Lehman viele Chancen in Deutschland - vom Handel mit notleidenden Krediten über zukünftige Infrastruktur-Projekte, Übernahmen und Fusionen bis zu Wachstumsperspektiven beim Handel mit Anleihen und Aktien.
Welche Rolle kann Lehman in diesen Bereichen spielen?
Mit der Platzierung notleidender Kredite am Kapitalmarkt befreien wir die Bilanzen deutscher Banken von Altlasten. Das hilft den Banken, wieder neues Geschäft aufzunehmen, und das hilft wiederum der deutschen Wirtschaft. Beim Thema Infrastruktur denke ich an mögliche öffentlich-private Partnerschaften bei Autobahnen und Flughäfen, aber da kennen sich unsere Experten vor Ort besser aus. In ganz Europa beobachte ich zudem einen Trend, der Wachstumschancen für uns birgt: Unternehmen, die sich einst nur über Bankkredite finanzieren, zapfen zunehmend direkt den Kapitalmarkt an.
Setzen Sie in Deutschland auf Wachstum aus eigener Kraft oder suchen Sie auch Akquisitionsziele?
In Deutschland und Europa haben wir in den vergangenen Jahren viel Geld in neue Leute und neue Kapazitäten investiert. Jetzt liegt der Fokus auf organischem Wachstum. Falls ich jedoch ein passendes Übernahmeziel fände, zum Beispiel in der Anlageverwaltung, dann würde ich schon morgen zuschlagen. Habe ich morgen gesagt? Falsch, ich würde noch heute loslegen!
Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit hat Lehman seinen Rivalen in den vergangenen Jahren Marktanteile abgejagt. Was steckt dahinter?
Seit Lehman 1994 vom US-Finanzdienstleister American Express abgetrennt wurde, haben wir uns vom Anleihehaus zur viertgrößten Investmentbank der Welt gewandelt. Seit sechs Jahren haben wir im Investmentbanking jedes Jahr Marktanteile gewonnen. Wie? Ich antworte gerne mit einem Zitat aus dem alten US-Film "Feld der Träume". Darin baut ein Mann irgendwo mitten auf dem Acker ein Baseball-Stadium. Auf die Frage, wie um Gottes Willen er Spieler und Zuschauer in die Einnöde bringen will, antwortet er: "Wenn du es baust, werden sie kommen." Das Gleiche gilt für Lehman Brothers.
Was heißt das konkret?
In Europa zum Beispiel beschäftigen wir heute 4600 Banker. Das sind fast 50 Prozent mehr als vor drei Jahren. Damals rangierten wir im europäischen Wertpapierhandel und im Investmentbanking unter ferner liefen. Heute haben wir eine absolut konkurrenzfähige Plattform, und wir liegen auf Platz eins im Aktienhandel auf dem Xetra-System der Deutschen Börse, wir sind die Nummer eins an der London Stock Exchange und die Nummer zwei an der Euronext in Paris.
Wie steht Lehman im europäischen Investmentbanking da?
Wir haben mehr Kunden denn je. Beim Einfädeln von Fusionen und Übernahmen haben wir zuletzt für den Aufsichtsrat der Hypo-Vereinsbank zur Fusion mit Unicredito beraten. Wir helfen der niederländischen Bank ABN Amro bei der Übernahme der Banca Antonveneta in Italen. Damit sind wir an zwei der wichtigsten Fusionen im europäischen Finanzgewerbe beteiligt. Das hätte uns vor drei Jahren niemand zugetraut.
Das klingt nach einem langwierigen, riskanten Projekt mit hohen Anlaufkosten. Bekamen Sie keinen Druck von Lehmans Aktionären?
Druck herrscht immer. Aber entweder man glaubt an das, was man tut, oder nicht. Alles Weitere ist keine Magie: Man braucht ein klar formuliertes Ziel, das man ansteuert; eine Strategie, um dorthin zu kommen; und die richtigen Leute, um die Strategie umzusetzen. Der letzte Punkt ist entscheidend. Ohne die richtigen Leute könnte ich in meinem Büro schlaue Reden halten, aber passieren würde nichts. Wenn meine Leute gute Leistung bringen, umarme ich sie, und ich bezahle sie fair.
Und wenn jemand die Erwartungen nicht erfüllt?
Dann finde ich jemand anders, der den Job erledigt. Wir haben zum Beispiel 1997 unser Aktiengeschäft von Grund auf erneuert und dabei 26 der 29 Führungskräfte ausgewechselt. Lehman Brothers galt damals als reines Anleihehaus. Bis wir in der Aktiensparte die Gewinsschwelle erreichten, vergingen zwei schwierige Jahre, aber heute ernten wir die Früchte: Das Magazin Institutional Investor kürte Lehman kürzlich zum besten Aktienhändler, an der New Yorker Börse und an der Nasdaq.
Was wird Lehmans nächstes großes Expansionsprojekt?
Das verrate ich nicht. Aber ich komme gerade zurück von einer Reise durch China, Hongkong und Korea. Asien hat enormes Potenzial. In den vergangenen Jahren haben wir dort Unternehmen geholfen, ihre Bilanzen zu restrukturieren, zum Beispiel über den Verkauf notleidender Kredite. Im nächsten Schritt bauen wir unsere Investmentbanking-Kapazitäten in der Region aus. Auch im asiatischen Wertpapierhandel stecken enorme Wachstumschancen, weil viele regionale Finanzmärkte noch in einer frühen Entwicklungsphase stehen.
Können Sie sich weltweit auch Übernahmen vorstellen?
Falls wir eine Gelegenheit finden, die alle unsere Kriterien erfüllt - ja. Wir wollen uns vor allem in Bereichen verstärken, in denen Wachstum aus eigener Kraft an Grenzen stößt. Das gilt für Hedge-Fonds, Anlageverwaltung und für die Vermittlung von Hypotheken-Darlehen. Jede Akquisition muss jedoch drei Kriterien erfüllt: Sie muss strategisch Sinn machen, die Unternehmenskultur muss zu uns passen, und der Preis muss stimmen.
Wie bewerten Sie die Aussichten für die Finanzbranche insgesamt?
Die Leitzinsen sind vor allem in den USA deutlich gestiegen, aber im Unterschied zu früheren Zinserhöungszyklen haben die Finanzmärkte bislang wenig darunter gelitten. Ich erwarte, dass sich das Wirtschaftswachstum in den USA nächstes Jahr etwas verlangsamt, auf immer noch robuste zwei bis zweieinhalb Prozent Jahr. Europa scheint langsam aus der Flaute zu segeln, Japans Wirtschaft sieht stark aus, und der Rest Asiens stützt das globale Wirtschaftswachstum. Damit stehen die Chancen gut für anhaltendes, kräftiges Wachstum im Wertpapierhandel und im Investmentbanking.
Investmentbanken mit starker Anleihesparte wie Lehman profitierten lange vom Boom bei US-Hypothekenanleihen. Droht dort ein Einbruch?
Manche Leute erwartet einen Rückgang beim Volumen neuer Hypothekenanleihen nach den Rekorden der vergangenen Jahre. Die Sorge ist berechtigt. Denn so lange die Zinsen sanken, schuldeten zahlreiche US-Hausbesitzer ihre Baukredite um, weil sie günstigere Kreditkonditionen erhielten. Diese Refinanzierungen fallen wegen der höheren Zinsen nun weg.
Was bedeutet das für Lehman?
Wir werden dieses Jahr vielleicht zehn, vielleicht Prozent weniger Hypothekendarlehen vermitteln als 2004. Aber wir haben ein breit diversifiziertes Anleihegeschäft, um das ich mir keine Sorgen mache. Denn wenn die Zinsen steigen und dadurch die Märkte stärker schwanken, werden die zuletzt stark geschrumpften Gewinnmargen im Handel mit Hypothekenanleihen wieder wachsen. Davon profitiert unsere Handelssparte.
Wie schlägt Lehman als reinrassige Investmentbank sich gegenüber ungleich größeren Universalbanken im Wettbewerb um Kapitalbeteiligungsgesellschaften, die immer größere Finanzierungen brauchen?
Größe ist nicht entscheidend. Je umfangreicher Private-Equity-Transaktionen werden, desto mehr beobachte ich einen Trend zu so genannten "Gruppen-Deals": Auf der einen Seite schließen sich mehr Beteiligungsfirmen zusammen, um das Risiko riesiger Übernahmen breiter zu streuen. Auf der anderen Seite schließen sich mehr Banken zu Konsortien zusammen, um die Finanzierung zu organisieren. So lange wir gute Ideen liefern, werden wir dort unseren Platz finden.
Noch vor zwei Jahren dachten viele Analysten, reinrassige Wertpapierhäuser hätten auf Dauer keine Chance gegen Finanzriesen wie Citigroup und Deutsche Bank. Werden Sie doch irgendwann geschluckt?
Diese Debatte hat sich aus meiner Sicht erledigt. Die reinrassigen Investmentbanken haben gelernt, ihr Kapital intelligent einzusetzen. Beim Wettbewerb um Kunden entscheiden Ideen, nicht Größe. Ich glaube, dass Kopfarbeit sich immer auszahlen wird. Nebenbei: Lehman hat 80 Mrd. Dollar Eigenkapital und eine Bilanzsumme von fast 400 Mrd. Dollar. Dieses Geld setze ich sehr aggressiv, aber gezielt dort ein, wo es für Lehman und unsere Kunden Sinn macht. Dabei kann ich jederzeit mit den Universalbanken konkurrieren.