Der Ausgang des Afghanistan-Abenteuers ist ungewiss. Die USA sind dabei, die moralische Überlegenheit, basierend auf unserem Verständnis von Menschenrechten, zu verspielen. (Hatten die USA jemals moralische Überlegenheit besessen, angesichts von Todesstrafe, Einsatz von international geächteten Waffen wie z.B. Splitterbomben, den Atombomben auf Japan, ... ?)
Ein Gespenst geht um in Deutschland: der Anti-Amerikanismus. Als anti-amerikanisch wird hier zu Lande schon denunziert, wer die Frage stellt, ob die US-Militärs noch die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren, wenn sie international umstrittene Streubomben auf Afghanistan regnen lassen. Wenn sie Waffen wie die "Daisy Cutter" einsetzen, die "Gänseblümchen-Abmäher", die im Umkreis von fast 400 Metern alles Leben vernichten.
Wenn sie die im Bombeninferno umgekommenen Zivilisten achselzuckend als unvermeidliche Kollateralschäden abbuchen.
Die Befürworter eines flächendeckenden Kriegs triumphieren: Seht her, wir haben schon immer gesagt, brachiale Gewalt kann das Böse besiegen. Sie haben ihre Argumente. Wen hat es nicht mit Freude erfüllt, dass die schrecklichen Taliban aus Kabul und anderen afghanischen Großstädten vertrieben wurden. Wen könnten die Bilder von lachenden, tanzenden, glücklich entschleierten Menschen kalt lassen. Und doch wird man sagen dürfen: Die eigentlichen Kriegsziele wurden bis jetzt auch nicht annähernd erreicht. Der Ausgang des Afghanistan-Abenteuers: ungewiss. Die moralische Überlegenheit, basierend auf unserem Verständnis von Menschenrechten: dabei, verspielt zu werden.
Viele Taliban haben sich in die Berge zurückgezogen und gruppieren sich zum Guerrillakrieg, gefährlich für westliche Bodentruppen. Der fatalerweise zum "Weltfeind" hochstilisierte Osama Bin Laden ist noch nicht gefunden. Und einige unserer Neu-Verbündeten der Vereinigten Front entpuppen sich unter den Augen der Amerikaner als das, was sie wohl schon immer waren: als in ihrer Brutalität und Skrupellosigkeit den Taliban durchaus ebenbürtige Schlächter.
Vieles spricht dafür, dass die Truppen des usbekischen Generals Dostam in Masar-i-Scharif ein Massaker begingen. "Wir mussten sie töten", sagt Dostam, der gleichzeitig auf ein hohes Regierungsamt in Kabul pocht. In Takhteh Pol nahe Kandahar richteten vorletzte Woche paschtunische Verbündete des Westens 160 Kriegsgefangene hin; nicht nur für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein "Kriegsverbrechen". Bei den Übergriffen anwesende amerikanische Soldaten protestierten angeblich hilflos gegen die Gräuel.
Ist ein Anti-Amerikaner, wer das anprangert? Undankbar trotz der Carepakete nach dem Zweiten Weltkrieg und alles anderen Guten, was wir Deutschen den USA verdanken?
Mit dem Wort von der "uneingeschränkten Solidarität" zu den Vereinigten Staaten hat sich Kanzler Schröder nach dem 11. September eine Falle gestellt. Wie gefährlich diese ist, zeigt sich jetzt, da in Washington schon Pläne für die "Phase II" des Anti-Terror-Kriegs diskutiert werden: mögliche Angriffe gegen den Irak und Somalia. Präsident Bush nennt inzwischen als Ziele alle Staaten, die "Massenvernichtungswaffen entwickeln, um sie für terroristische Zwecke zu gebrauchen" - ein erweitertes Bedrohungsszenario, da früher nur von den "Terroristen beherbergenden" Staaten die Rede war.
Offensichtlich fühlt sich Washington dabei durch eine Entscheidung der Nato ermutigt, die durch die Anschläge in New York und Washington auf amerikanischen Druck hin den Bündnisfall festgestellt hat, mit für alle Mitglieder bindenden Maßnahmen. Einen "Blankoscheck der europäischen Alliierten für Washington" nennt der amerikanische Militärexperte Daniel Benjamin diesen Beschluss im US-Magazin "Time" - auch das ein von der leichtgläubigen Regierung Schröder mitgetragener Fehler?
Bush verlangt jetzt vom irakischen Diktator, wieder Uno-Rüstungsinspekteure ins Land zu lassen. Und was passiert, wenn Saddam sich nicht fügt? "Das wird er herausfinden", sagte der US-Präsident vor Journalisten kryptisch. Mit Hilfe der Europäer - und Moskaus - setzte Washington in der vergangenen Woche eine sechsmonatige Verlängerung der Uno-Sanktionen gegen Bagdad durch; die sind nun schon elf Jahre in Kraft und haben weniger der irakischen Führungsclique als den Ärmsten im Land geschadet.
Bush lässt sich mit seinem Säbelrasseln gegen Saddam Hussein, wie Bin Laden einst Verbündeter der USA, auf ein gefährliches Spiel ein. Schon haben die Israelis wissen lassen, sie rechneten in spätestens drei Monaten mit einem US-Angriff auf Bagdad. Und sie forderten Angriffe auf ein weiteres Ziel. Um den islamistischen Terror auszurotten, müssten die USA unbedingt die Ausbildungslager der Hisbollah im libanesischen Bekaa-Tal bombardieren. Beirut ist nicht in der Lage, diese zu schließen.
Die Hisbollah steht nach den Anschlägen vom 11. September auf der US-Liste der Terrororganisationen - in den Augen der meisten Nachbarn Israels aber führt sie als "Befreiungsorganisation" um die von Israel besetzten Gebiete einen gerechten Kampf.
Nicht nur arabische Staatschefs laufen gegen eine nahöstliche Ausweitung des Afghanistan-Kriegs Sturm. Die Franzosen machten klar, dass ein solcher Schritt das Ende der Anti-Terror-Koalition bedeuten würde. Selbst der sonst so Amerika-hörige, fast messianisch auftretende britische Premier - "Vorwärts, christlicher Soldat", überschrieb das US-Magazin "Newsweek" kürzlich sein Blair-Porträt - mahnte zur Vorsicht.
Und, siehe da, auch die deutsche Regierung zeigt sich plötzlich nur noch kritisch solidarisch. Im Nahen Osten "könnte uns mehr um die Ohren fliegen, als jeder von uns zu tragen in der Lage ist", sagte ein nachdenklicher Kanzler im Bundestag. Sprachlich keine Offenbarung, inhaltlich schon.
Möglich, dass sich ein euphorischer Bush bei einem optimalen Kriegsverlauf in Afghanistan von der Irak-Bombardierungsfraktion um den Vizeverteidigungsminister Wolfowitz überzeugen ließe. Wahrscheinlicher allerdings ist dann doch, dass der besonnenere Außenminister Powell auf die Bremse tritt. Für die "Phase II" fehlt die für Washington unerlässliche Koalition. Noch. Aber Militärs sind allzeit bereit. Große Knüppel, kleine Geister.
Wer könnte amerikanische Ideale eher gefährden als die Amerikaner selbst - und zwar mit ihrer Politik im eigenen Land?
Militärgerichte mit Schnellurteilen, Massenverhöre von 5000 männlichen, überwiegend legal in den USA residierenden Ausländern aus dem Nahen Osten: Die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten nach dem 11. September, verordnet vom Präsidenten und seinem scharfmacherischen Justizminister Ashcroft, machte in den USA zunächst kaum Schlagzeilen.
Noch weniger Beachtung fand in der Öffentlichkeit ein Votum der Vereinten Nationen vom vergangenen Dienstag. Es passt so gar nicht zu Washingtons Weltbild, gerade jetzt, da die US-Regierung - nach Jahren der Nichtbeachtung - die Nützlichkeit der Uno erkannt hat und Beschlüsse des Sicherheitsrats zur Bekämpfung des Taliban-Terrors als Kriegslegitimation heranzieht. Die Uno-Vollversammlung hat zwei Tage vor ihrem Irak-Beschluss das amerikanische Handelsembargo gegen Havanna verurteilt. Es besteht seit 1962, verhängt nach dem Sieg der Revolution auf der Zuckerinsel.
Neunmal schon hat die Uno eine ähnliche Resolution verabschiedet; alle diese Beschlüsse wurden von Washington ignoriert, diesmal wird es nicht anders sein. Die Champions der freien Welt (und Chefpropagandisten des freien Güterverkehrs) lassen die Weltgemeinschaft links liegen, wenn es ihnen passt.
Sie handeln damit nach Ansicht von Kuba-Experten auch gegen ihre eigenen Interessen: Die ungerechte Behandlung durch Washington ist der Kitt, mit dem Fidel Castro sein bankrottes Regime noch zusammenhält - das Embargo und der Hass auf die arroganten Gringos gelten als ausschlaggebend dafür, dass der ewiggestrige Verfechter des Machismo-Leninismo bis heute neun amerikanische Präsidenten im Amt überlebt hat. Er sitzt weiter fest im Sattel.
Das Armenhaus Kuba steht rätselhafterweise ebenfalls auf der amerikanischen Liste der Schurkenstaaten - sollen wir, falls Herr Bush es wünscht, auch einen Krieg gegen Havanna unterstützen?
167 Länder stimmten jetzt in der Vollversammlung für ein Ende des US-Handelsembargos gegen Kuba. Bei einigen Enthaltungen sprachen sich ganze drei Mitglieder gegen die Resolution aus: die Vereinigten Staaten selbst, ihr Ex-Protektorat Marshall Islands, ihr ewiger Schützling Israel. Auch Berlin bezog in dieser Frage Stellung gegen Washington, und mit den Deutschen taten das alle EU-Mitglieder. Anti-Amerikaner, so weit das Auge reicht.
Sollte sich George W. Bush wirklich zu einer Ausweitung des so genannten Anti-Terror-Kriegs mit Bomben gegen den Irak entschließen, er stünde verlassen von seinen europäischen und arabischen Verbündeten da, unbequem platziert: zwischen allen Stühlen.
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