angesehensten Wirtschaftsexperten seiner Zeit, spricht die spaeter
beruehmt gewordenen Worte: "Die Aktien haben ein dauerhaft hohes
Niveau erreicht". Wenige Tage spaeter belehrt ihn die Boerse eines
Besseren. Am Donnerstag, 24. Oktober, sind die Notierungen zunaechst
niedrig, aber noch verhaeltnismaessig fest. Doch bald werden immer mehr
Aktien zu niedrigen Kursen angeboten. Die Notierungen beginnen zu
broeckeln, erst langsam, dann immer schneller. Im Lauf des Tages
beschleunigen Zwangsverkaeufe von Aktien, die auf Pump gekauft wurden,
den Sturz ins Bodenlose. Die Angst geht um. Der Ticker kann die Flut
an Verkaufsauftraegen nicht mehr aufnehmen. Die Panik steigt. Der
Zusammenbruch ist da, Amerika blickt in den Abgrund.
In der Mittagszeit dieses historischen Tages findet in Wall Street
Nr. 1, gegenueber der Boerse, im Haus der Bankfirma JP Morgan, eine
Lagebesprechung fuehrender Bankiers statt. Die Herren im Nadelstreif
beschliessen, die Kurse zu stuetzen, wenigstens die wichtigsten
Papiere. Waehrend an der Boerse die Panik tobt, erscheint Thomas W.
Lamont, einer der groessten Anteilseigner von JP Morgan, vor der Presse
und erklaert mit betont laessiger Stimme: "Es hat einige Notverkaeufe an
der Boerse gegeben. Wir haben daraufhin ein Treffen mit den Vorstaenden
der wichtigsten Finanzinstitute abgehalten. Wir stellten fest, dass
kein Haus in Zahlungsschwierigkeiten ist und Risiko-Reserven in
ausreichender Hoehe gehalten werden." Die Erklaerung beruhigt die blank
liegenden Nerven der Anleger, die Kurse stabilisieren sich. Spaeter
gibt Richard Whitney, Vizepraesident der New Yorker Boerse,
Kaufauftraege fuer die wichtigsten Werte. Der Rest der Geschichte
duerfte bekannt sein.
In den Klauen der Baeren
Bekanntlich suchen Antizykliker nach Unternehmen, die bei der Masse
der Anleger in Ungnade gefallen sind. Nachdem die Baeren nun schon
seit fast zwei Jahren die Weltboersen fest in ihren Klauen haben, ist
das Angebot an derartigen Titeln fast unueberschaubar gross. Die Kunst
besteht darin, Aktien von Unternehmen aufzustoebern, die sich nach
einer Durststrecke wieder erholen werden. Kein leichtes Unterfangen.
Und dennoch wird man bei akribischer Recherche immer wieder fuendig.
Der erste Schritt besteht darin, die Maerkte genau zu beobachten und
aufmerksam zu lauschen, wenn irgendwo ein Unternehmen, im Idealfall
ein sehr grosses und angesehenes, groessere Probleme bekommt. Die
einschlaegigen Medien sind dabei der wichtigste Stimmungs-Indikator.
Eine der groessten Banken der Welt kann sich zur Zeit ueber mangelndes
Presse-Echo nicht beklagen. Leider sind die Schlagzeilen
ausschliesslich negativer Art. Die Rede ist von JP Morgan Chase (JPM;
WKN: 850628). Das nach der Citigroup (C; WKN: 871904) zweitgroesste
Finanzinstitut der Vereinigten Staaten spielte wie beschrieben schon
beim Boersencrash von 1929 eine gewichtige Rolle. Viele Jahre spaeter,
1998, sprang die Bank auch bei der Schieflage eines Hedge Fonds mit
dem vielsagenden Namen "Long-Term Capital Management" in die Bresche.
Durch das beherzte Eingreifen der Bankiers wurde seinerzeit der
drohende Zusammenbruch des internationale Finanzsystem verhindert.
Peanuts?
Doch jetzt, so scheint es, ist der Dow Jones-Titel in ernsthaften
Schwierigkeiten. Ob Enron, Argentinien, Global Crosing oder K-Mart -
JP Morgan Chase hat in der juengsten Vergangenheit keine Gelegenheit
ausgelassen, durch negative Pressemeldungen aufzufallen.
Zusammengenommen sind in den genannten Faellen Kredite in
zweistelliger Milliardenhoehe notleidend geworden. Allein wegen des
Enron-Debakels stehen 2,6 Milliarden US-Dollar auf der Kippe. 2,25
Milliarden sind es bei Global Crossing, 1,6 Milliarden bei K-Mart.
Keine Peanuts.
In den Geschaeftszahlen ist der Trend eindeutig: Anders als bei den
grossen Konkurrenten Citigroup und Bank of America, die im vierten
Quartal trotz des schwierigen Umfeldes ansehnliche Gewinne einfahren
konnten (Citigroup: vier Milliarden US-Dollar; Bank of America: zwei
Milliarden), musste JPM einen Verlust von 332 Millionen US-Dollar
einstecken. Vor Jahresfrist noch hatte ein Gewinn von 708 Millionen
US-Dollar zu Buche gestanden. Immerhin wird fuer das Gesamtjahr mit
einem Gewinn von 1,6 Milliarden US-Dollar gerechnet.
Kopfzerbrechen macht auch der Einbruch in einem der zentralen
Geschaeftsfelder. Die Flaute im Technologie-Sektor, die Rezession und
der 11. September haben das Investmentgeschaeft fast zum Erliegen
gebracht. Junge Firmen beispielsweise verschieben den Gang an die
Boerse lieber auf unbestimmte Zeit. Noch in 2000 hatte man in diesem
Bereich 47 Prozent der Umsaetze generiert.
Saubere Bilanz?
Zu allem Uebel sind jetzt auch noch die Bilanzierungspraktiken des
Unternehmens in die Schusslinie geraten. Im Zusammenhang mit dem
Enron-Konkurs untersucht die Federal Reserve Bank (Fed) von New York
derzeit die Buchhaltung des Konzerns. Ziel der Nachforschungen sei
ein Abkommen mit der Mahonia Ltd, berichtet das "Wall Street Journal"
unter Berufung auf bankinterne Dokumente. Die einstige Chase
Manhattan Bank hatte als Geschaeftspartner von Enron die Finanzierung
der Enron-Tochter uebernommen.
Auch aus Europa weht dem Unternehmen ein eiskalter Wind ins Gesicht.
Die italienische Grossbank UniCredito Italiano hat JP Morgan Chase
wegen seiner Rolle als Finanzier des Energiehaendlers verklagt.
UniCredito, ebenfalls Enron-Kapitalgeber, wirft JP Morgan Chase vor,
andere Institute in finanzielle Arrangements gelockt zu haben, obwohl
der US-Bank die schwierige Finanzlage bei Enron bekannt gewesen sei.
Feuchte Haende
Jetzt ist´s aber genug der schlechten Nachrichten? Noch nicht ganz.
Zuletzt hat das Gold mit seinen Bockspruengen ueber die Marke von 300
US-Dollar fuer Aufsehen gesorgt. Bei JPM duerfte man die Entwicklung
mit feuchten Haenden beobachten. Sollte das Edelmetall naemlich
nachhaltig ueber die magische Grenze steigen, hat das Unternehmen ein
weiteres Problem. Hintergrund: Da man bei JP Morgan von einem
dauerhaft niedrigen Goldpreis ausgeht, hat man sich das Edelmetall
jahrelang zu einem Zinssatz von einem Prozent bei der Bank von
England geliehen. Dieses Gold wurde auf dem freien Markt verkauft,
der Erloes in Anlagen geparkt, die zwischen fuenf und sechs Prozent
Zinsen brachten. Das Problem ist nur, dass das geliehene Gold
natuerlich irgendwann zurueck gegeben werden muss. Sollte der Goldpreis
nachhaltig steigen, wird das fuer JPM eine extrem teure Angelegenheit.
Leider geht es dabei naemlich nicht nur um ein paar Millionen
US-Dollar. Nach dem Motto, nicht kleckern sondern klotzen, summieren
sich die ausstehenden Short-Positionen auf mehrere Milliarden. Ein
Argument uebrigens, das zumindest kurzfristig gegen einen steigenden
Goldpreis spricht, denn natuerlich wird man seitens JPM alles tun, um
eben dies zu verhindern.
Schnee von gestern
Jede Menge Futter also fuer ueberzeugte Antizykliker. Derzeit fast zu
viel des Schlechten. Das zeigt sich auch sehr deutlich am Chart: Seit fast zwei Jahren
kennt der Titel nur noch eine Richtung: abwaerts. Die gleitenden 100-
und 200-Tage-Linien sind laengst Schnee von gestern. Knapp unterhalb
von 30 US-Dollar verlaeuft eine sehr wichtige Unterstuetzungszone, die
der Titel derzeit testet. Sollte das Papier hier durchrutschen, droht
ein Absturz bis auf 20, schlimmstenfalls sogar bis auf zehn
US-Dollar. Der Trendfolger MACD jedenfalls signalisiert bereits
weiteres Unheil, lediglich der Relative-Staerke-Index RSI deutet auf
eine ueberverkaufte Tendenz hin. Kurzfristig koennte eine technische
Gegenbewegung anstehen.
Doch fuer schwachbruestige Spekulanten, die auf einen schnellen Gewinn
hoffen, ist der Titel nichts. Fundamental steht es naemlich ebenfalls
nicht zum Besten: Die Gesamtsumme der Verbindlichkeiten hat sich
binnen eines Jahres fast verdoppelt - auf die unglaubliche Zahl von
756 Milliarden US-Dollar. Dem stehen allerdings Vermoegenswerte von
rund 800 Milliarden gegenueber. Beruhigen kann dies dennoch nicht. Die
kurzfristig, also innerhalb der kommenden zwoelf Monate zu tilgenden
Schulden, sind noch staerker gestiegen: Sie kletterten von 14,5 im
September 2000 auf rund 41 Milliarden US-Dollar in 2001. Dies alles
bei einem jaehrlichen Umsatz von etwa 32 Milliarden US-Dollar und
einer Marktkapitalisierung von etwa 60 Milliarden US-Dollar. Starker
Tobak. Einziger Trost: Aktuell wird die Gesellschaft in etwa zum
Buchwert gehandelt.
Bankrott-Erklaerung
Und doch: Es scheint kaum vorstellbar, dass ein Unternehmen dieser
Kategorie "ueber die Klinge springt". Ein Konkurs des
Vorzeige-Unternehmens JP Morgan Chase, das seit mehr als 200 Jahren
die Geschichte Amerikas entscheidend mitgestaltet hat, kaeme einer
Bankrott-Erklaerung der US-Finanzbranche gleich. Das wissen auch die
zustaendigen politischen Stellen und werden entsprechende Vorkehrungen
treffen - unmoeglich freilich ist gar nichts.
Was also ist zu tun? Antizykliker sollten den Titel in den kommenden
Monaten sehr genau beobachten. Es ist gut moeglich, dass hier eine
Kaufchance aller erster Guete heranreift. Derzeit freilich sollte man
sich in Zurueckhaltung ueben. Zwar duerften im gedrueckten Aktienkurs
bereits eine ganze Menge Schlechtigkeiten enthalten sein. So lange
jedoch nicht klar ist, welche Folgen sich aus dem Debakel bei Enron,
K-Mart und Co. fuer den Finanzriesen ergeben, ist ein Engagement zu
risikoreich.
So long,
Calexa
www.carstenlexa.de
www.direcdesign.de