Europas neue Rüstungsökonomie: Dimensionen, Akteure und Herausforderungen
Verteidigungsausgaben auf historischem Höchststand
Mehr als 800 Milliarden Euro – so hoch beziffert die Unternehmensberatung McKinsey das Volumen der jährlichen Verteidigungsausgaben europäischer Staaten bis zum Jahr 2030. Das entspricht nahezu einer Verdopplung im Vergleich zu den heutigen Ausgaben von rund 440 Milliarden Euro. Der Anteil für Neuanschaffungen, also Panzer, Drohnen, Software und Aufklärungstechnik wird sich laut McKinsey von 140 Milliarden Euro auf 335 Milliarden Euro mehr als verdoppeln.
Die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung ist die politische Entscheidung der NATO-Staaten, ihre Verteidigungsausgaben auf 3,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben. Dieses Ziel will Deutschland laut Finanzminister Lars Klingbeil bereits 2029 erreichen. Demnach sind Verteidigungsausgaben in Höhe von 153 Milliarden Euro geplant, zuzüglich etwa 9 Milliarden Euro zur Unterstützung der Ukraine.
Deutschland als Wachstumstreiber: Politischer Wille trifft industrielle Kapazität
Mit dem Bekenntnis zu massiven Investitionen in die Bundeswehr etabliert sich Deutschland stetig als der führende Akteur in der neuen europäischen Rüstungsökonomie. Ex-Kanzler Olaf Scholz hatte bereits mit der Ankündigung des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro ein Signal gesetzt. Nun folgt der strukturelle Umbau der Wehrindustrie.
Insbesondere der Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall steht im Zentrum dieser Entwicklung. Vorstandschef Armin Papperger kündigte bei der Vorstellung der Halbjahreszahlen an, dass die Bundeswehr deutlich mehr Panzer und militärische Fahrzeuge bestellen werde, als bisher angenommen. Bloomberg berichtete von bis zu 3.500 Radpanzern des Typs Boxer, gefertigt gemeinsam mit KNDS. Dies entspricht einem Auftragsvolumen im zweistelligen Milliardenbereich.
Industrie unter Druck: Aufträge verdoppeln sich aber Produktion hinkt hinterher
Die Analyse von McKinsey zeigt jedoch auch: Die Auftragseingänge wachsen derzeit fast doppelt so schnell wie die Produktionskapazitäten. Derzeit befinde sich die Industrie in einer Übergangsphase von einer projektbezogenen, weitgehend manuellen Fertigung hin zu einer standardisierten Serienproduktion.
Verteidigungsminister Boris Pistorius forderte zuletzt bei der Einweihung eines neuen Rheinmetall-Artilleriewerks in Niedersachsen mehr Tempo: „Jetzt“ sei die Devise, nicht „irgendwann“. Auch KNDS und Zulieferer wie Renk, Spezialist für Panzergetriebe, arbeiten unter Hochdruck an der Skalierung ihrer Fertigung.
Renk-CEO Alexander Sagel spricht sich für Rahmenverträge mit jährlichen Abnahmemengen aus, um Planungssicherheit zu gewährleisten. Bei steigenden Mengen seien auch Mengenrabatte realistisch. Parallel dazu entstehen unter anderem in Litauen, Rumänien und Bulgarien neue Werke.
Effizienzdebatte: Ökonomische Wirkung und Kritik der Rechnungshöfe
Trotz der wachsenden Rüstungsbudgets gibt es auch kritische Stimmen. Der Bundesrechnungshof warnte vor „verwalterischer Beliebigkeit“ bei der Mittelverwendung. Der Ausbau müsse effizient erfolgen, sonst drohten Fehlallokationen auf Kosten anderer Bereiche.
Studien der Universität Mannheim zeigen zudem, dass ein Euro in die deutsche Rüstungsindustrie im besten Fall 50 Cent an zusätzlicher wirtschaftlicher Aktivität erzeugt. Das ist deutlich weniger als in den USA. Hauptgründe seien Engpässe in der Fertigung, steigende Materialpreise und ineffiziente Strukturen.
Importabhängigkeit: Europa verliert Terrain an Südkorea und die USA
Ein strukturelles Problem bleibt die technologische Abhängigkeit von Nicht-EU-Staaten. Fast die Hälfte der seit 2021 vergebenen Rüstungsaufträge europäischer Länder ging an Anbieter aus den USA oder Südkorea. Deutschland orderte etwa F-35-Kampfjets von Lockheed Martin (Lockheed Martin Aktie) und Chinook-Helikopter von Boeing (Boeing Aktie). Polen wiederum bevorzugte den südkoreanischen Kampfpanzer K2.
Diese Entscheidungen reflektieren wohl auch die unzureichende Lieferfähigkeit europäischer Hersteller. Während asiatische Anbieter kurzfristig liefern können, brauchen europäische Unternehmen teils Jahre, um Kapazitäten aufzubauen. Die Konsequenz: Ein strategischer Rückstand bei zentralen Waffensystemen.
Neue Strategien: Deutschland als Beschaffer und Wiederverkäufer
Zur besseren Auslastung der Produktionslinien plant das Bundesverteidigungsministerium offenbar ein neues Beschaffungsmodell. Der Staat könnte Rüstungsgüter über den Eigenbedarf hinaus kaufen und sie im Rahmen von „Government-to-Government“-Verträgen an Partnerstaaten weiterverkaufen.
Für die Industrie ergibt sich daraus eine höhere Planungssicherheit. Besonders kleinere Anbieter könnten mit den staatlichen Anzahlungssummen ihre Kapazitäten erweitern. Bereits heute arbeitet das BAAINBw an 12.000 Beschaffungsverträgen, davon 100 mit einem Volumen über 25 Millionen Euro.
Beratungsbranche im Aufwind: Roland Berger, McKinsey und Alix Partners profitieren
Auch die Managementberatungen stellen sich auf den Boom ein. Roland Berger erwartet für 2025 ein Umsatzwachstum von bis zu 10 %. Treiber sind laut CEO Stefan Schaible vor allem Projekte aus der Rüstungsbranche. Diese sei ein „Turbo für Innovationen und Wachstum“ – auch mit Ausstrahlungseffekten auf die Logistik, den Maschinenbau und die Automobilindustrie.
McKinsey rechnet ebenfalls mit weiterem Wachstum und positioniert sich aktiv in der Verteidigungsberatung. Alix Partners sieht in der Transformation der Lieferketten und Produktionsprozesse der Rüstungsindustrie erhebliches Potenzial.
Geheime Einkaufsliste und strategische Investitionen
Ein internes Dokument des Bundesverteidigungsministeriums, das dem Handelsblatt vorliegt, listet 81 geplante Großvorhaben für 2025. Darunter: weitere Eurofighter, Boxer-Radpanzer, Puma-Schützenpanzer, Drohnen des Typs Heron TP und ein KI-gestütztes Überwachungssystem für die Nato-Ostflanke.
Für militärische Beschaffungen stehen dieses Jahr rund 32 Milliarden Euro zur Verfügung was zehn Milliarden mehr als im Vorjahr entspricht. Allein für neue Eurofighter wurden Mittel in Höhe von 797 Millionen Euro bereitgestellt. Dagegen wurde der deutsche Beitrag zur Beschaffung eines Awacs-Nachfolgers wegen Verzögerungen um 3,3 Milliarden Euro gekürzt.
Rheinmetall baut Marktführerschaft aus – Einstieg in den Schiffbau
Eine bedeutende strategische Entscheidung fiel mit der geplanten Übernahme der Marinesparte NVL (Naval Vessels Lürssen) durch Rheinmetall. Die Akquisition soll vorbehaltlich der kartellrechtlichen Genehmigungen Anfang 2026 abgeschlossen werden. . Damit steigt Rheinmetall (Rheinmetall Aktie) erstmals in den Schiffbau ein.
NVL betreibt vier Werften in Deutschland – darunter Blohm+Voss in Hamburg und die Peene-Werft in Wolgast – sowie Standorte in Bulgarien, Kroatien und Ägypten. Das Unternehmen beschäftigt rund 2.100 Mitarbeiter und erzielte 2024 einen Umsatz von etwa einer Milliarde Euro. Für Rheinmetall ist dies ein bedeutender Schritt zur Diversifizierung des Portfolios.
Fazit: Europas neue Industriearchitektur ist sicherheitsgetrieben
Mit dem strategischen Umbau der Wehrindustrie erlebt Europa einen der größten wirtschaftspolitischen Umbrüche seit Jahrzehnten. Die Verteidigungsausgaben steigen massiv, was nicht nur neue Geschäftsfelder für Konzerne wie Rheinmetall, KNDS, Renk und MBDA eröffnet, sondern auch Beratungsfirmen, Zulieferer und Technologieunternehmen in die Pflicht nimmt.
Deutschland spielt dabei eine doppelte Rolle. Zum einen als Initiator der politischen Entscheidung zur Aufrüstung und zum anderen als führender industrieller Akteur in der praktischen Umsetzung. Dabei muss die Politik einen Balanceakt meistern: Sicherheit gewährleisten, wirtschaftliche Impulse setzen und gleichzeitig für Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit sorgen.
Die europäische Souveränität in der Rüstungsproduktion steht damit genauso auf dem Prüfstand wie die Fähigkeit der Industrie, in Serie zu denken und auch zu liefern.