Sarah Nazari
Sarah Nazari
In einem Beitrag zur aktuellen Financial Stability Review warnt die Europäische Zentralbank (EZB) eindringlich vor potenziellen Risiken am internationalen Goldmarkt. Insbesondere das zunehmende Volumen physisch erfüllter Gold-Terminkontrakte sorgt für Besorgnis bei den EZB-Volkswirten. Das Analysepapier beleuchtet die wachsende Abhängigkeit vom physischen Goldtransfer und skizziert ein Worst-Case-Szenario: ein massiver Short-Squeeze mit schwerwiegenden Folgen für Banken im Euro-Raum und das globale Finanzsystem.
Terminkontrakte auf Gold (Goldkurs) – insbesondere solche, die auf physische Lieferung abzielen – gewinnen unter institutionellen Investoren weiter an Popularität. Käufer solcher Kontrakte erwarten, dass ihnen zu einem festen Zeitpunkt eine bestimmte Menge Gold tatsächlich geliefert wird. Im Gegenzug verpflichtet sich der Verkäufer zur physischen Auslieferung des Edelmetalls.
Besonders auffällig: Die Zahl der zur Lieferung angemeldeten Kontrakte für Januar 2025 hat laut EZB einen historischen Höchststand erreicht – ein Niveau, das zuletzt im Juli 2007 beobachtet wurde. Diese Entwicklung unterstreicht das Vertrauen in Gold als Inflationsschutz und als sicherer Anlagehafen in geopolitisch instabilen Zeiten, etwa im Kontext der bevorstehenden US-Wahlen.
Ein zentraler Bestandteil der EZB-Analyse ist die Beobachtung zunehmender physischer Goldtransporte von London nach New York. Grund dafür waren unter anderem:
Furcht vor US-Zöllen auf Goldimporte
Preisdifferenzen zwischen den Börsenplätzen: In Spitzenzeiten wurde Gold in New York um über 50 US-Dollar teurer gehandelt als in London.
Solche Preisspreizungen sind unüblich, da der physische Goldpreis in beiden Städten normalerweise weitgehend synchron ist. Der höhere Preis in New York führte zu verstärkten Transportbewegungen – insbesondere durch sogenannte Bullion Banks, die sich durch Short-Positionen an der US-Börse gegen Preisrisiken in ihren physischen Beständen in London absichern.
Ein Beispiel für diese Strategie: Eine Bank verkauft in New York einen Terminkontrakt auf Gold, während sie das physische Edelmetall in London lagert. Bei einem fallenden Preis resultiert ein Gewinn aus dem Rückkauf des Kontrakts, der den Wertverlust des realen Goldes ausgleicht. Steigt der Preis hingegen – wie im Frühjahr 2025 geschehen – drohen hohe Verluste, wenn die physische Lieferung nach New York nicht rechtzeitig erfolgen kann.
Im Vorfeld möglicher US-Zölle im April kam es zu erheblichen logistischen Engpässen. Die Bank of England, als zentrale Verwahrstelle für viele internationale Goldbestände, war auf den Ansturm nicht vorbereitet. Banken mussten Wartezeiten in Kauf nehmen, um ihre Lieferverpflichtungen an der COMEX zu erfüllen. Zwar entspannte sich die Lage nach dem Ausbleiben der US-Zölle, doch die EZB warnt ausdrücklich, dass ähnliche Situationen künftig erneut auftreten könnten – mit womöglich dramatischeren Folgen.
Die zentrale Warnung der EZB betrifft das Risiko eines sogenannten Short-Squeeze. In einem solchen Fall müssten Marktteilnehmer, die auf einen fallenden Goldpreis gesetzt und physische Lieferverpflichtungen eingegangen sind, ihre Positionen in einem Markt mit steigenden Preisen zurückkaufen. Dies würde den Preis weiter in die Höhe treiben – mit dem Effekt einer sich selbst verstärkenden Spirale.
Die Auswirkungen wären erheblich: Banken, die das Gold nicht rechtzeitig physisch liefern können, müssten es zu deutlich höheren Marktpreisen beschaffen. Dies könnte Verluste in Milliardenhöhe verursachen – und im schlimmsten Fall zur Insolvenz einzelner Institute führen.
Laut EZB besteht ein besonderes Risiko darin, dass viele Goldderivate außerbörslich (OTC – Over-the-Counter) gehandelt werden. Diese Märkte sind intransparent, was eine fundierte Risikoabschätzung zusätzlich erschwert.
Fondsmanager Martin Siegel vom Edelmetall-Spezialisten Stabilitas ergänzt in einem Interview ein mögliches geopolitisches Risikoszenario: Sollte ein BRICS-Staat wie Russland über Strohmänner große Mengen physischer Goldlieferung aus bestehenden Derivaten einfordern, könnte dies die Lieferfähigkeit von Investmentbanken übersteigen.
Bei einer hypothetischen Forderung nach 1.000 Tonnen physischem Gold – etwa zehn Prozent der aktuell ausstehenden Derivatevolumina – würde der Markt binnen Tagen überfordert sein. Die Folge: explodierende Preise, panikartige Rückkäufe und eine gefährliche Kettenreaktion auf den Finanzmärkten.
Zentralbanken wie die EZB, die ihre eigenen Goldbestände als "Gold- und Goldforderungen" bilanzieren, tragen laut Siegel zur Intransparenz bei. Damit wird das grundsätzliche Problem des Goldmarktes nochmals deutlich: Es ist oft unklar, wie viel physisches Gold tatsächlich vorhanden und verfügbar ist.
Ein zusätzlicher Faktor, der den physischen Goldmarkt beeinflusst, ist das Verhalten der Zentralbanken, insbesondere Chinas. Wie am 8. Juni durch die People’s Bank of China (Bank of China Aktie) (PBOC) veröffentlicht, wurden im Mai zum siebten Mal in Folge die Goldreserven aufgestockt – auf insgesamt 73,83 Millionen Feinunzen. Dies entspricht einem geschätzten Marktwert von rund 242 Milliarden US-Dollar.
Obwohl der Goldpreis im April mit über 3.500 USD pro Feinunze ein Allzeithoch erreicht hatte, setzte die chinesische Zentralbank ihre Käufe fort. Analysten werten dies als Strategie zur Diversifizierung der Währungsreserven – weg vom US-Dollar, hin zu realen Werten in Form von Gold.
Der Trend zeigt eindeutig: Sowohl institutionelle Investoren als auch Staaten suchen in Gold eine Absicherung gegen geopolitische Spannungen, Inflation und Währungsrisiken. Gleichzeitig steigt die Abhängigkeit vom reibungslosen Funktionieren des globalen physischen Liefernetzwerks.
Die EZB mahnt zu erhöhter Aufmerksamkeit, sowohl bei Marktteilnehmern als auch bei Aufsichtsbehörden. Regulatorische Anpassungen – etwa längere Fristen für physische Lieferverpflichtungen oder erhöhte Transparenzpflichten – könnten Teil der Lösung sein. Eine Eskalation im Goldmarkt, etwa in Form eines flächendeckenden Short-Squeeze, könnte ansonsten nicht nur einzelne Banken gefährden, sondern das Vertrauen in das gesamte Finanzsystem erschüttern.
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