Erst hoch gelobt, dann abgestürzt: Die turbulente Geschichte des Elektroriesen ABB
Von Kolja Rudzio
Die Geschichte beginnt mit einem Festessen, 198 Overhead-Folien und einer Bibel. Damit wurde im Januar 1988 in Cannes der Weg für eine der meistuntersuchten Erfolgsgeschichten Europas geebnet – und der Grundstein für ein grandioses Scheitern gelegt. An jenem Wochenende trafen sich im Saal Galuchat des Luxushotels Martinez 250 Topmanager aus aller Welt, um sich zu beschnuppern. Zwei mehr als hundert Jahre alte Elektrokonzerne – die schwedische Asea und ihr Schweizer Rivale Brown Boveri & Cie (BBC) – hatten wenige Wochen zuvor beschlossen, sich zu vereinigen. Nun sollte ihre gemeinsame Führungsriege der Welt beweisen, dass gelingt, wofür der Zusammenschluss allgemein gehalten wurde – den ersten großen Versuch in Europa, sich durch eine Fusion für ein damals bereits heraufziehendes Phänomen zu wappnen: die Globalisierung.
„Als ich in den riesigen Festsaal trat, kam ich mir vor wie bei einer Hochzeit, wo die Familie des Bräutigams auf der einen Seite sitzt und die der Braut auf der anderen“, erinnert sich Eric Drewery, damals Asea-Chef Großbritannien. „Links standen meine Kollegen, rechts ein Haufen Fremder.“ Dass daraus am Ende des dreitägigen Treffens eine wenn nicht zusammengeschweißte, so doch zumindest enger zusammengerückte Truppe entstanden war, lag weniger an der Tischordnung, die zum Diner je einen Asea-Mann neben einen BBC-Vertreter zwang. Wichtiger war eine Person, der es gelang, alle für sich und sein Ziel zu begeistern: Percy Barnevik, bis dahin Chef von Asea und nun Chef von Asea Brown Boveri – kurz ABB.
Man kann sich seinem Charisma kaum entziehen, sagen alle, die einmal mit dem fast zwei Meter großen Schweden zusammengearbeitet haben. Nicht weil Barnevik besonders laut würde, sondern weil er entschlossen auftritt, weil er schnell denkt und, ohne zu zögern, entscheidet, weil er rhetorisch begabt ist und sein Gegenüber oft mit Argumenten überschüttet. In Cannes redet Barnevik mehrere Stunden, seziert auf 198 Folien die Gründe und das Konzept für die Fusion und erklärt seinen Zuhörern, warum sie mit ihren kombinierten Kräften als Hersteller von Kraftwerken, Elektromotoren, Industrierobotern und vielen anderen Errungenschaften der Elektrotechnik zur Weltspitze gehören. Barnevik pflanzt den Managern erfolgreich einen neuen Glauben ein – und drückt ihnen eine so genannte policy bible in die Hand. Darin sind Leitsätze der neuen Gemeinschaft niedergelegt. Etwa: Bei der Besetzung neuer Posten sind immer mehrere Kandidaten unterschiedlicher Nationalität zu prüfen. Am Ende der drei Tage verlassen die Manager das Hotel voller Enthusiasmus – und mit dem Auftrag im Gepäck, die „Cannes-Bibel“ in alle Sprachen zu übersetzen und ihre Botschaft innerhalb von 60 Tagen an 30000 Mitglieder der nächsten Führungsebene weiterzugeben.
Dass ABB in den neunziger Jahren als „beliebteste Fallstudie der Welt“ gerühmt wurde, an der der Manager-Nachwuchs in Eliteschulen wie Harvard oder der französischen Insead studierte, wie man einen globalen Konzern schmiedet, lag nicht allein an Cannes. ABB wurde auch deshalb zum Vorbild, weil es die Antwort auf ein anderes Problem zu wissen schien, das die Globalisierung aufwarf: Wie forme ich aus zwei regional starken Unternehmen einen weltweiten Konzern, ohne ein schwerfälliges, kaum steuerbares Monstrum zu schaffen?
Barneviks Lösung war eine einzigartige Organisationsstruktur: Statt alle Macht an sich zu ziehen, zerlegte er den Konzern in tausend Einzelteile. Aus ABB wurden 1200 rechtlich selbstständige Firmen mit wiederum fast 5000 Profitcentern. Über Nacht gehörten die Arbeiter im Mannheimer ABB-Werk für Kraftwerkstechnik zu fünf unterschiedlichen Profitcentern, ebenso wie die Werkskantine im schweizerischen Birr eigenständig wurde oder die Technikerschule in Baden. Jede dieser Einheiten musste nun zusehen, dass sie wirtschaftlich arbeitete. So wollte Barnevik den unternehmerischen Elan kleiner, überschaubarer Einheiten wecken.
Um gleichzeitig aber die Vorteile eines großen Unternehmensverbundes nutzen zu können, wurden alle ABB-Gliederungen in eine doppelte Hierarchie eingebunden: die Matrix. So musste sich etwa der Chef der ABB-Hochspannungs-Schalttechnik in Zürich sowohl mit dem Gebietsleiter für die Schweiz abstimmen als auch mit dem Produktchef für Hochspannungstechnik. Diese hatten ihrerseits je zwei Vorgesetzte – wiederum einen mit Verantwortung für Regionen und Werke sowie einen für die Produktsparte.
Im Zentrum dieses Konzerngeflechts saß Barnevik – der zwar formal Macht abgab, aber dennoch als ungeduldiger Antreiber überall eingriff, wo etwas hakte. Um schnell an jeden Punkt in seinem 140 Länder umspannenden Reich zu gelangen, hatte er einen Jet, der, nur Minuten von seinem Büro entfernt, auf dem Züricher Flughafen Kloten parkte. Um sofort erkennen zu können, wenn sich in irgendeinem Winkel seines Imperiums Staub ansammelte, hatte Barnevik ABACUS. Das gleich nach der Fusion errichtete Computersystem versorgte ihn – und alle anderen Manager – laufend mit den Zahlen jeder Tochter und jedes Profitcenters. Wo immer jemand sein Budget überschritt, eine Planzahl verfehlte oder schlechter abschnitt als ein vergleichbares Zweigwerk, klingelte bald das Telefon. Oder der Chef selbst stand höchstpersönlich auf der Matte – rund 200 Tage im Jahr war Barnevik auf Achse.
Doch der umtriebige Schwede ließ es nicht dabei bewenden, das neue Haus hübsch einzurichten – er fügte gleich noch jede Menge Anbauten an. Kurz nach der Fusion übernahm er große Teile des amerikanischen Elektrokonzerns Westinghouse und kaufte für 1,6 Milliarden Dollar den US-Kraftwerksbauer Combustion Engineering. Dank enormer Finanzpolster, die BBC in die Firmenehe eingebracht hatte, konnte Barnevik aus dem Vollen schöpfen. Innerhalb von zwei Jahren gibt er 3,5 Milliarden Dollar aus und fügt seinem Imperium 60 neue Firmen hinzu – zeitweilig eines pro Woche. Für Barnevik zählt Tempo. Ständig predigt er seinen Mitarbeitern: „Mir sind zehn Entscheidungen lieber, von denen sich drei als falsch erweisen, als Perfektion im Schneckentempo.“
Zwar warnten einzelne Kritiker, dieses eilig zusammengezimmerte Firmenkonglomerat könne leicht zum „Albtraum eines Managers“ werden (so 1990 die Financial Times). Aber Barnevik konnte vom Start weg steigende Gewinne ausweisen, und bald galt die Fusion als bahnbrechender Erfolg. ABB wurde mal als „tanzender Riese“ gefeiert, mal als „individualisierter Konzern“ voller unternehmerisch denkender Mitarbeiter. Viermal hintereinander kürten Manager ABB zum „meistrespektierten Unternehmen Europas“, zahllose Titelblätter schmückten sich mit Barnevik, dem neuen Star. Als sich der Schwede 1996 vom Tagesgeschäft verabschiedet und als Präsident in den Verwaltungsrat, das oberste Kontrollgremium der ABB, aufrückt, kann er einen Rekordgewinn verbuchen – zwei Milliarden Dollar vor Steuern.
Trotz der beeindruckenden Zahlen waren zu diesem Zeitpunkt jedoch schon die Probleme bei ABB vorgezeichnet – auch wenn erst die Asienkrise, ein Konjunkturabschwung und eine ungeahnte Klagewelle sie entblößen sollten. Die dezentrale Matrix-Struktur erwies sich in der Praxis als furchtbar konfliktträchtig und kostspielig. „Wenn wir für Opel oder Krupp ein kleines Kraftwerk bauen sollten, war daran ein Dutzend eigenständiger ABB-Einheiten beteiligt, die eine für die Transformatoren, eine andere für die Leitungen und wieder andere für die Schalter“, sagt Peter Toussaint, langjähriger Aufsichtsratsvize bei ABB-Deutschland. „Jede dieser Gruppen hatte aber ihre eigenen Interessen. Keiner hat das richtig koordiniert.“ Neben Abstimmungsproblemen führte insbesondere die Frage, zu welchen Preisen eine ABB-Tochter einer anderen ihre Leistungen in Rechnung stellen sollte, oft zu Streit. Dass das auseinander driftende Gefüge dennoch zusammenhielt, lag vor allem daran, dass Barnevik viele Konflikte selbst entschied. Dennoch räumte er später ein, er hätte die Matrix früher abschaffen sollen.
Trotz großer Anstrengungen gelang es auch nicht, in dem Tempo kostspielige Dopplungen zu beseitigen, wie sie durch die Fusion und die Übernahmen entstanden. Zeitweilig produzierten 40 verschiedene ABB-Fabriken Transformatoren. Oft balgten sich mehr ABB-Akquisiteure um einen Kunden als Vertreter der Konkurrenz. Schließlich erwiesen sich viele Firmen, die Barnevik erworben hatte, als Fehlgriff. Prominentestes Beispiel: Combustion Engineering. Der Kraftwerksspezialist bescherte ABB immense Schadensersatzforderungen, weil er in den siebziger Jahren Asbest verbaut hatte. Fast eine Milliarde Dollar musste ABB zahlen. Mehr als 100000 Klagen laufen aber noch. Sie könnten den finanziell angeschlagenen Konzern ruinieren, wenn ein angestrebter Vergleich scheitert, den zurzeit ein US-Richter prüft.
Sicher konnte 1989 niemand ahnen, dass die Asbestklagen einmal dieses Ausmaß annehmen würden. Nur: Combustion war auch ohne Asbest ein Flop. ABB stieß die Firma 1998 zusammen mit zwei kompletten Geschäftsbereichen, in deren Ausbau Barnevik Milliarden investiert hatte, wieder ab – Kraftwerke und Triebköpfe für Züge baut ABB seitdem nicht mehr.
Wahrscheinlich hätte der Konzern alle diese Schläge wegstecken können, ohne so nah an den Abgrund zu geraten, wie das heute der Fall ist. ABB leidet unter acht Milliarden Dollar Schulden und schrieb im vergangenen Jahr einen Rekordverlust von 787 Millionen Dollar. Es würde als Beispiel dafür in die Managementliteratur eingehen, wie einer ein geniales und doch zu verworrenes System schuf, außerdem ein paar falsche Entscheidungen traf – und das war’s dann. Heute weiß man eben, dass Profitcenter und Matrix-Strukturen nur in moderater Form handhabbar sind.
Doch im Fall ABB steckt noch eine andere Lehre: Nicht nur ein einzelner Missgriff kann für ein Unternehmen tödlich sein, gefährlich ist auch die bloße Häufung vieler – allzu vieler – radikaler Schnitte, Umbauten und Strategiewechsel. Denn was Percy Barnevik als Gründungschef noch mit Erfolg betrieb, nämlich die Neuschöpfung eines ganzen Konzerns, setzte sich unter seiner Präsidentschaft im Verwaltungsrat fort.
Erst baute ABB mit Volldampf seine Kraftwerks- und Eisenbahnsparte aus, dann sprang der Elektroriese auf den Zug der New Economy auf. Barneviks Nachfolger Göran Lindahl investierte auf dem Höhepunkt des Dotcom-Wahns Hunderte Millionen in E-Business, versuchte nebenbei eine Mobilfunklizenz zu ergattern und erklärte ABB zum „Wissenskonzern“. So schnell, wie die allgemeine E-Euphorie wieder verflog, war auch Lindahl verschwunden. Nach ihm kam Jörgen Centerman, der den Konzern auf vier Säulen stellen wollte, zu denen Industrieroboter und auch ganz altmodische Geschäfte wie der Bau von Ölraffinerien und Umspannwerken gehörte. Sein Nachfolger wiederum, der heutige Chef Jürgen Dormann, will mit höherem Tempo fortsetzen, was Centerman zuletzt begonnen hatte: den reihenweisen Verkauf ganzer Konzernbereiche – von dem Öl-, Gas- und Petrochemiegeschäft bis zur Sparte Gebäudetechnik. Nun soll sich ABB nur noch der Automations- und der Energietechnik widmen. Allerdings stehen laut Dormann auch sie zur Disposition, wenn sich eine der beiden Sparten bis 2005 nicht so entwickelt wie erhofft.
Parallel zu all den Richtungswechseln wurde auch der Konzern laufend umgekrempelt: Erst kam die Matrix, dann sortierten sich die Manager nach Produkten, später nach Kunden. Aus der radikalen Dezentralisierung wurde eine Diktatur der Zentrale, und nun ist Konzernchef Dormann wieder da angelangt, wo Percy einst begonnen hatte: beim Abbau des Wasserkopfes am Hauptsitz Zürich-Oerlikon. Ständig änderten sich bei ABB die Aufgabenbereiche und oft auch die Köpfe: Bei der deutschen Tochter in Mannheim gaben sich seit der Fusion sechs Vorstandschefs die Klinke in die Hand. Und neben den großen Umwälzungen hielten kleine Umbauten die Manager permanent auf Trab – mal ging es um time based management, mal um den customer focus. „Wir hatten Hunderte solcher Programme“, sagt Exmanager Drewery. „Das war ein Restrukturierungsrausch“, sagt Aufsichtsrat Toussaint.
Als Barnevik im November 2001 auch als Präsident abtritt, hinterlässt er einen tief verunsicherten, dutzendmal durchgeschüttelten, unter hohen Schulden und schwachen Erträgen leidenden Konzern. Zuletzt hatten auch ein dubioser Aktienrückkauf und ein Zwist zwischen den Großaktionären – dem schwedischen Industriellen-Clan Wallenberg und dem Schweizer Finanzinvestor Martin Ebner – zur Krise beigetragen. Dennoch hat Barneviks Ruhm stark gelitten. Dafür sorgte nicht zuletzt der Pensionsskandal, den Jürgen Dormann kurz nach dem Abschied des Schweden aufdeckte: Mit 233 Millionen Schweizer Franken hatten sich Barnevik und sein Nachfolger Lindahl ihren Ruhestand vergolden lassen, nach einer, so Dormann, „ungenügenden Zustimmungsprozedur“. Die Ertappten gaben mehr als die Hälfte zurück, doch ihr guter Ruf war dahin.
Heute hat sich Barnevik, der in London wohnt, weitgehend ins Privatleben zurückgezogen. Charismatische Führer wie er werden in der Managementliteratur inzwischen mit Skepsis betrachtet. „Sie destabilisieren absichtlich ihre Organisation“, warnt Rakesh Khurana, Führungsexperte in Harvard. Das sei manchmal nützlich, ende oft aber im Desaster.
(c) DIE ZEIT
Von Kolja Rudzio
Die Geschichte beginnt mit einem Festessen, 198 Overhead-Folien und einer Bibel. Damit wurde im Januar 1988 in Cannes der Weg für eine der meistuntersuchten Erfolgsgeschichten Europas geebnet – und der Grundstein für ein grandioses Scheitern gelegt. An jenem Wochenende trafen sich im Saal Galuchat des Luxushotels Martinez 250 Topmanager aus aller Welt, um sich zu beschnuppern. Zwei mehr als hundert Jahre alte Elektrokonzerne – die schwedische Asea und ihr Schweizer Rivale Brown Boveri & Cie (BBC) – hatten wenige Wochen zuvor beschlossen, sich zu vereinigen. Nun sollte ihre gemeinsame Führungsriege der Welt beweisen, dass gelingt, wofür der Zusammenschluss allgemein gehalten wurde – den ersten großen Versuch in Europa, sich durch eine Fusion für ein damals bereits heraufziehendes Phänomen zu wappnen: die Globalisierung.
„Als ich in den riesigen Festsaal trat, kam ich mir vor wie bei einer Hochzeit, wo die Familie des Bräutigams auf der einen Seite sitzt und die der Braut auf der anderen“, erinnert sich Eric Drewery, damals Asea-Chef Großbritannien. „Links standen meine Kollegen, rechts ein Haufen Fremder.“ Dass daraus am Ende des dreitägigen Treffens eine wenn nicht zusammengeschweißte, so doch zumindest enger zusammengerückte Truppe entstanden war, lag weniger an der Tischordnung, die zum Diner je einen Asea-Mann neben einen BBC-Vertreter zwang. Wichtiger war eine Person, der es gelang, alle für sich und sein Ziel zu begeistern: Percy Barnevik, bis dahin Chef von Asea und nun Chef von Asea Brown Boveri – kurz ABB.
Man kann sich seinem Charisma kaum entziehen, sagen alle, die einmal mit dem fast zwei Meter großen Schweden zusammengearbeitet haben. Nicht weil Barnevik besonders laut würde, sondern weil er entschlossen auftritt, weil er schnell denkt und, ohne zu zögern, entscheidet, weil er rhetorisch begabt ist und sein Gegenüber oft mit Argumenten überschüttet. In Cannes redet Barnevik mehrere Stunden, seziert auf 198 Folien die Gründe und das Konzept für die Fusion und erklärt seinen Zuhörern, warum sie mit ihren kombinierten Kräften als Hersteller von Kraftwerken, Elektromotoren, Industrierobotern und vielen anderen Errungenschaften der Elektrotechnik zur Weltspitze gehören. Barnevik pflanzt den Managern erfolgreich einen neuen Glauben ein – und drückt ihnen eine so genannte policy bible in die Hand. Darin sind Leitsätze der neuen Gemeinschaft niedergelegt. Etwa: Bei der Besetzung neuer Posten sind immer mehrere Kandidaten unterschiedlicher Nationalität zu prüfen. Am Ende der drei Tage verlassen die Manager das Hotel voller Enthusiasmus – und mit dem Auftrag im Gepäck, die „Cannes-Bibel“ in alle Sprachen zu übersetzen und ihre Botschaft innerhalb von 60 Tagen an 30000 Mitglieder der nächsten Führungsebene weiterzugeben.
Dass ABB in den neunziger Jahren als „beliebteste Fallstudie der Welt“ gerühmt wurde, an der der Manager-Nachwuchs in Eliteschulen wie Harvard oder der französischen Insead studierte, wie man einen globalen Konzern schmiedet, lag nicht allein an Cannes. ABB wurde auch deshalb zum Vorbild, weil es die Antwort auf ein anderes Problem zu wissen schien, das die Globalisierung aufwarf: Wie forme ich aus zwei regional starken Unternehmen einen weltweiten Konzern, ohne ein schwerfälliges, kaum steuerbares Monstrum zu schaffen?
Barneviks Lösung war eine einzigartige Organisationsstruktur: Statt alle Macht an sich zu ziehen, zerlegte er den Konzern in tausend Einzelteile. Aus ABB wurden 1200 rechtlich selbstständige Firmen mit wiederum fast 5000 Profitcentern. Über Nacht gehörten die Arbeiter im Mannheimer ABB-Werk für Kraftwerkstechnik zu fünf unterschiedlichen Profitcentern, ebenso wie die Werkskantine im schweizerischen Birr eigenständig wurde oder die Technikerschule in Baden. Jede dieser Einheiten musste nun zusehen, dass sie wirtschaftlich arbeitete. So wollte Barnevik den unternehmerischen Elan kleiner, überschaubarer Einheiten wecken.
Um gleichzeitig aber die Vorteile eines großen Unternehmensverbundes nutzen zu können, wurden alle ABB-Gliederungen in eine doppelte Hierarchie eingebunden: die Matrix. So musste sich etwa der Chef der ABB-Hochspannungs-Schalttechnik in Zürich sowohl mit dem Gebietsleiter für die Schweiz abstimmen als auch mit dem Produktchef für Hochspannungstechnik. Diese hatten ihrerseits je zwei Vorgesetzte – wiederum einen mit Verantwortung für Regionen und Werke sowie einen für die Produktsparte.
Im Zentrum dieses Konzerngeflechts saß Barnevik – der zwar formal Macht abgab, aber dennoch als ungeduldiger Antreiber überall eingriff, wo etwas hakte. Um schnell an jeden Punkt in seinem 140 Länder umspannenden Reich zu gelangen, hatte er einen Jet, der, nur Minuten von seinem Büro entfernt, auf dem Züricher Flughafen Kloten parkte. Um sofort erkennen zu können, wenn sich in irgendeinem Winkel seines Imperiums Staub ansammelte, hatte Barnevik ABACUS. Das gleich nach der Fusion errichtete Computersystem versorgte ihn – und alle anderen Manager – laufend mit den Zahlen jeder Tochter und jedes Profitcenters. Wo immer jemand sein Budget überschritt, eine Planzahl verfehlte oder schlechter abschnitt als ein vergleichbares Zweigwerk, klingelte bald das Telefon. Oder der Chef selbst stand höchstpersönlich auf der Matte – rund 200 Tage im Jahr war Barnevik auf Achse.
Doch der umtriebige Schwede ließ es nicht dabei bewenden, das neue Haus hübsch einzurichten – er fügte gleich noch jede Menge Anbauten an. Kurz nach der Fusion übernahm er große Teile des amerikanischen Elektrokonzerns Westinghouse und kaufte für 1,6 Milliarden Dollar den US-Kraftwerksbauer Combustion Engineering. Dank enormer Finanzpolster, die BBC in die Firmenehe eingebracht hatte, konnte Barnevik aus dem Vollen schöpfen. Innerhalb von zwei Jahren gibt er 3,5 Milliarden Dollar aus und fügt seinem Imperium 60 neue Firmen hinzu – zeitweilig eines pro Woche. Für Barnevik zählt Tempo. Ständig predigt er seinen Mitarbeitern: „Mir sind zehn Entscheidungen lieber, von denen sich drei als falsch erweisen, als Perfektion im Schneckentempo.“
Zwar warnten einzelne Kritiker, dieses eilig zusammengezimmerte Firmenkonglomerat könne leicht zum „Albtraum eines Managers“ werden (so 1990 die Financial Times). Aber Barnevik konnte vom Start weg steigende Gewinne ausweisen, und bald galt die Fusion als bahnbrechender Erfolg. ABB wurde mal als „tanzender Riese“ gefeiert, mal als „individualisierter Konzern“ voller unternehmerisch denkender Mitarbeiter. Viermal hintereinander kürten Manager ABB zum „meistrespektierten Unternehmen Europas“, zahllose Titelblätter schmückten sich mit Barnevik, dem neuen Star. Als sich der Schwede 1996 vom Tagesgeschäft verabschiedet und als Präsident in den Verwaltungsrat, das oberste Kontrollgremium der ABB, aufrückt, kann er einen Rekordgewinn verbuchen – zwei Milliarden Dollar vor Steuern.
Trotz der beeindruckenden Zahlen waren zu diesem Zeitpunkt jedoch schon die Probleme bei ABB vorgezeichnet – auch wenn erst die Asienkrise, ein Konjunkturabschwung und eine ungeahnte Klagewelle sie entblößen sollten. Die dezentrale Matrix-Struktur erwies sich in der Praxis als furchtbar konfliktträchtig und kostspielig. „Wenn wir für Opel oder Krupp ein kleines Kraftwerk bauen sollten, war daran ein Dutzend eigenständiger ABB-Einheiten beteiligt, die eine für die Transformatoren, eine andere für die Leitungen und wieder andere für die Schalter“, sagt Peter Toussaint, langjähriger Aufsichtsratsvize bei ABB-Deutschland. „Jede dieser Gruppen hatte aber ihre eigenen Interessen. Keiner hat das richtig koordiniert.“ Neben Abstimmungsproblemen führte insbesondere die Frage, zu welchen Preisen eine ABB-Tochter einer anderen ihre Leistungen in Rechnung stellen sollte, oft zu Streit. Dass das auseinander driftende Gefüge dennoch zusammenhielt, lag vor allem daran, dass Barnevik viele Konflikte selbst entschied. Dennoch räumte er später ein, er hätte die Matrix früher abschaffen sollen.
Trotz großer Anstrengungen gelang es auch nicht, in dem Tempo kostspielige Dopplungen zu beseitigen, wie sie durch die Fusion und die Übernahmen entstanden. Zeitweilig produzierten 40 verschiedene ABB-Fabriken Transformatoren. Oft balgten sich mehr ABB-Akquisiteure um einen Kunden als Vertreter der Konkurrenz. Schließlich erwiesen sich viele Firmen, die Barnevik erworben hatte, als Fehlgriff. Prominentestes Beispiel: Combustion Engineering. Der Kraftwerksspezialist bescherte ABB immense Schadensersatzforderungen, weil er in den siebziger Jahren Asbest verbaut hatte. Fast eine Milliarde Dollar musste ABB zahlen. Mehr als 100000 Klagen laufen aber noch. Sie könnten den finanziell angeschlagenen Konzern ruinieren, wenn ein angestrebter Vergleich scheitert, den zurzeit ein US-Richter prüft.
Sicher konnte 1989 niemand ahnen, dass die Asbestklagen einmal dieses Ausmaß annehmen würden. Nur: Combustion war auch ohne Asbest ein Flop. ABB stieß die Firma 1998 zusammen mit zwei kompletten Geschäftsbereichen, in deren Ausbau Barnevik Milliarden investiert hatte, wieder ab – Kraftwerke und Triebköpfe für Züge baut ABB seitdem nicht mehr.
Wahrscheinlich hätte der Konzern alle diese Schläge wegstecken können, ohne so nah an den Abgrund zu geraten, wie das heute der Fall ist. ABB leidet unter acht Milliarden Dollar Schulden und schrieb im vergangenen Jahr einen Rekordverlust von 787 Millionen Dollar. Es würde als Beispiel dafür in die Managementliteratur eingehen, wie einer ein geniales und doch zu verworrenes System schuf, außerdem ein paar falsche Entscheidungen traf – und das war’s dann. Heute weiß man eben, dass Profitcenter und Matrix-Strukturen nur in moderater Form handhabbar sind.
Doch im Fall ABB steckt noch eine andere Lehre: Nicht nur ein einzelner Missgriff kann für ein Unternehmen tödlich sein, gefährlich ist auch die bloße Häufung vieler – allzu vieler – radikaler Schnitte, Umbauten und Strategiewechsel. Denn was Percy Barnevik als Gründungschef noch mit Erfolg betrieb, nämlich die Neuschöpfung eines ganzen Konzerns, setzte sich unter seiner Präsidentschaft im Verwaltungsrat fort.
Erst baute ABB mit Volldampf seine Kraftwerks- und Eisenbahnsparte aus, dann sprang der Elektroriese auf den Zug der New Economy auf. Barneviks Nachfolger Göran Lindahl investierte auf dem Höhepunkt des Dotcom-Wahns Hunderte Millionen in E-Business, versuchte nebenbei eine Mobilfunklizenz zu ergattern und erklärte ABB zum „Wissenskonzern“. So schnell, wie die allgemeine E-Euphorie wieder verflog, war auch Lindahl verschwunden. Nach ihm kam Jörgen Centerman, der den Konzern auf vier Säulen stellen wollte, zu denen Industrieroboter und auch ganz altmodische Geschäfte wie der Bau von Ölraffinerien und Umspannwerken gehörte. Sein Nachfolger wiederum, der heutige Chef Jürgen Dormann, will mit höherem Tempo fortsetzen, was Centerman zuletzt begonnen hatte: den reihenweisen Verkauf ganzer Konzernbereiche – von dem Öl-, Gas- und Petrochemiegeschäft bis zur Sparte Gebäudetechnik. Nun soll sich ABB nur noch der Automations- und der Energietechnik widmen. Allerdings stehen laut Dormann auch sie zur Disposition, wenn sich eine der beiden Sparten bis 2005 nicht so entwickelt wie erhofft.
Parallel zu all den Richtungswechseln wurde auch der Konzern laufend umgekrempelt: Erst kam die Matrix, dann sortierten sich die Manager nach Produkten, später nach Kunden. Aus der radikalen Dezentralisierung wurde eine Diktatur der Zentrale, und nun ist Konzernchef Dormann wieder da angelangt, wo Percy einst begonnen hatte: beim Abbau des Wasserkopfes am Hauptsitz Zürich-Oerlikon. Ständig änderten sich bei ABB die Aufgabenbereiche und oft auch die Köpfe: Bei der deutschen Tochter in Mannheim gaben sich seit der Fusion sechs Vorstandschefs die Klinke in die Hand. Und neben den großen Umwälzungen hielten kleine Umbauten die Manager permanent auf Trab – mal ging es um time based management, mal um den customer focus. „Wir hatten Hunderte solcher Programme“, sagt Exmanager Drewery. „Das war ein Restrukturierungsrausch“, sagt Aufsichtsrat Toussaint.
Als Barnevik im November 2001 auch als Präsident abtritt, hinterlässt er einen tief verunsicherten, dutzendmal durchgeschüttelten, unter hohen Schulden und schwachen Erträgen leidenden Konzern. Zuletzt hatten auch ein dubioser Aktienrückkauf und ein Zwist zwischen den Großaktionären – dem schwedischen Industriellen-Clan Wallenberg und dem Schweizer Finanzinvestor Martin Ebner – zur Krise beigetragen. Dennoch hat Barneviks Ruhm stark gelitten. Dafür sorgte nicht zuletzt der Pensionsskandal, den Jürgen Dormann kurz nach dem Abschied des Schweden aufdeckte: Mit 233 Millionen Schweizer Franken hatten sich Barnevik und sein Nachfolger Lindahl ihren Ruhestand vergolden lassen, nach einer, so Dormann, „ungenügenden Zustimmungsprozedur“. Die Ertappten gaben mehr als die Hälfte zurück, doch ihr guter Ruf war dahin.
Heute hat sich Barnevik, der in London wohnt, weitgehend ins Privatleben zurückgezogen. Charismatische Führer wie er werden in der Managementliteratur inzwischen mit Skepsis betrachtet. „Sie destabilisieren absichtlich ihre Organisation“, warnt Rakesh Khurana, Führungsexperte in Harvard. Das sei manchmal nützlich, ende oft aber im Desaster.
(c) DIE ZEIT