Die internationalen Mineralölunternehmen waren genauso risikoscheu. Obwohl der
Einfluss dieser Ölmultis auf den Weltölmarkt nur gering war und ist – ihre Verträge
mit den Förderländern brachten ihnen den Zugang zu kaum mehr als 20 Prozent der
globalen Erdölreserven und die Kontrolle über lediglich 7 bis 8 Prozent dieser
Reserven – ist ihr Verhalten lehrreich. Angesichts niedriger Preise und eines nur
schwachen Verbrauchswachstums – und unter der Annahme, dass die Ölindustrie
mittlerweile ihren Höhepunkt überschritten hätte – quetschten sie so viel Produktion
aus ihren Anlagen wie nur möglich und beschränkten ihre Investitionen auf neue
Explorationsvorhaben. Die traditionellen Energieunternehmen wurden allmählich –
insbesondere in den 1990er Jahren – als Dinosaurier bezeichnet, während Enron
und andere Multis, die jegliche Investition in Industrieanlagen ablehnten, als die
Energieunternehmen der Zukunft gepriesen wurden. Zwischen 1986 und 2005 fiel
die Reservekapazität in der Ölverarbeitung weltweit von ca. 15 auf nur zwei bis drei
Prozent der globalen Nachfrage.
Da wo es herkommt gibt’s noch mehr
Die OPEC- und Nicht-OPEC-Länder stehen nicht vor einer Rohölknappheit. Im
Gegenteil: Viele von ihnen, vor allem am Persischen Golf, verfügen nach wie vor
über ein riesiges Ölförderungspotenzial. Die Ölreserven im Iran und Irak, in Kuwait,
Oman, Qatar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten sind noch
relativ unterentwickelt und wenig erschlossen – und das, obwohl in diesen Ländern
Öl bereits seit vielen Jahren gefördert wird.
Die relative wenig entwickelte Förderung in den Ländern am Persischen Golf geht
auf eine Zeit zurück, die lange vor den 1980er Jahren liegt. Von den 1920er bis zu
den 1970er Jahren wurde die Industrie in der Region von den wichtigsten
Ölunternehmen – den so genannten Sieben Schwestern (Exxon, Shell, BP, Mobil,
Chevron, Gulf, und Texaco) – dominiert, die ihre Exploration und Produktion
drastisch zurückschraubte, um so eine Überschwemmung des Marktes mit
überschüssigem Rohöl zu vermeiden. Dann wurden die westlichen Ölunternehmen
infolge einer Welle der Verstaatlichung in den 1970er Jahren aus den meisten
Ländern im Nahen Osten hinausgeworfen. In der Folge ging der Zugang zu
technischem Know how in der Region stark zurück – und damit auch die
Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft. Im Irak zum Beispiel sind 3D-Seismik,
Leonardo Maugeri – Ein zweifaches Hoch auf teures Öl 3
Tief- und Horizontalbohrungen sowie hoch entwickelte Fördertechniken nie
eingesetzt worden, obwohl diese Verfahren die Ölindustrie im Rest der Welt seit den
1980er Jahren revolutioniert haben.
Auch im Vergleich zu anderen Regionen der Welt liegt der Persische Golf unter dem
Explorationsstandard. Bislang wurden dort lediglich ca. 2.000 Probebohrungen in
neuen Feldern abgeteuft – verglichen mit über einer Million in den USA. In den
letzten 20 Jahren fanden mehr als 70 Prozent aller Explorationsaktivitäten der Welt in
den USA und Kanada statt, d.h. in zwei Ländern, die als ältere Ölproduzenten gelten,
ihre besten Jahre hinter sich haben und zusammen über weniger als drei Prozent der
nachgewiesenen Reserven weltweit verfügen. Nur drei Prozent aller
Explorationsaktivitäten fanden bis jetzt im Nahen Osten statt, obwohl die Region über
ca. 70 Prozent der nachgewiesenen Reserven verfügt. Zwischen 1995 und 2004
wurden im Persischen Golf weniger als 100 Probebohrungen in neuen Feldern
abgeteuft. Zum Vergleich: In den USA waren es 15.700. Im selben Zeitraum wurden
im Persischen Golf nur ca. 150 Bohrungen zur Untersuchung der Förderkapazität
eines Ölfeldes und weniger als 5.000 Bohrungen zur Vorbereitung eines Ölfeldes auf
die eigentliche Förderung abgeteuft. In den USA hingegen waren es 12.300 bzw.
250.000. Lediglich 2.500 Bohrungen überhaupt wurden bislang im Irak abgeteuft. Im
US-Bundesstaat Texas allein beträgt die Zahl eine Million.
Der größte Ölproduzent der Welt, Saudi-Arabien, verfügt immer noch über ein
riesiges Potenzial, um seine Ölförderung zu steigern – trotz der in der letzter Zeit laut
gewordenen Behauptungen, das Land werde bald die Spitze seiner Ölförderung
erreichen. Diese düsteren Prognosen basieren auf Übertreibungen und dem
Verkennen der Entwicklung im saudi-arabischen Ölbereich. Hierzu gehört vor allem
die vermeintliche Erschöpfung des Ghawar-Feldes. Aus diesem größten Ölfeld der
Welt stammt mehr als die Hälfte des saudi-arabischen Rohöls. Dass Ghawar
„ausgetrocknet“ sei, ist angeblich durch die große Wassermenge bewiesen, die
während des Bohrens mit dem Öl an die Erdoberfläche kommt. Zwar steigen solche
Wassermengen in der Tat mit fortschreitendem Alter des Feldes – und im Falle von
Ghawar betrug die Wassermenge im Jahre 2000 37 Prozent gegenüber einem Wert
von 25 Prozent für die gesamte Ölindustrie. (Das heißt, pro 100 in Ghawar geförderte
Barrel wurden gleichzeitig 37 Barrel Wasser mitgefördert.) Aber auch andere
Faktoren als die Erschöpfung des Feldes können zu einer erhöhten Wassermenge
führen. Hierzu gehören z.B. unzulängliche Bohrsysteme, schlechtes
Feldmanagement, das Fehlen moderner Techniken zur Verbesserung der
Ölförderung sowie die Übernutzung bestimmter Teile eines Feldes. Außerdem haben
ein verbessertes Lagerstättenmanagement sowie die Einführung neuer Technologien
zur effizienteren Ölgewinnung diese Wassermenge bereits auf ca. 30 Prozent
gesenkt.
Wichtiger noch ist, dass die riesigen Ölvorkommen Saudi-Arabiens untererschlossen
sind. Die 260 Mrd. Barrel nachgewiesener Vorkommen des Landes, die ca. 25
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Prozent der Gesamtvorkommen der Welt betragen, machen nur ein Drittel der
Gesamtmenge des Öls aus, das erwiesenermaßen dort unter der Erde liegt. Und es
kann sein, dass sich noch mehr Öl dort befindet, denn seit dem Beginn der
Bohrtätigkeiten in Saudi-Arabien Anfang der 1930er Jahre wurden weniger als 300
Probebohrungen in neuen Feldern abgeteuft. Zwischen 1995 und 2004 waren es
weniger als 30. Das ist die Erklärung dafür, warum das Königreich – trotz der
Vorhersagen der Schwarzseher, dass das Land seinen Zenit bereits erreicht hätte –
vor kurzem bekannt gegeben hat, dass es seine Produktion um ca. zwei Mio. Barrel
auf etwa 12 Mio. Barrel pro Tag erhöhen will.
Das Potenzial Russlands, das zurzeit der zweitgrößte Ölproduzent der Welt ist, wird
ebenfalls oft unterschätzt. Nach Meinung von DeGolyer and McNaughton, dem
führenden Unternehmen der Welt für die Schätzung von Ölreserven, sind die
potenziellen russischen Reserven drei Mal so groß wie die 50 Mrd. Barrel bereits
nachgewiesener Reserven des Landes.
Seit 1965 wurden in Russland lediglich etwa 8.500 Probebohrungen in neuen
Feldern abgeteuft (etwa so viele, wie in den letzten fünf Jahren in den USA). Die
russische Ölindustrie hat auch mit zwei Konsequenzen aus der Sowjet-Ära zu
kämpfen – mit unzulänglichem technischem Know how und schlechtem
Feldmanagement. Diese Faktoren haben die Menge an Rohöl, das die russische
Ölindustrie fördert, begrenzt. In der Regel werden weniger als 20 Prozent des Inhalts
eines Feldes gewonnen, das entspricht etwa der Hälfte des Weltdurchschnitts.
Auch andere Gebiete sind viel versprechend. In der gesamten Kaspischen Region
steckt die Erschließung von Ölfeldern noch in den Kinderschuhen. Die
nachgewiesenen Reserven in Aserbaidschan und Kasachstan liegen bei etwa 18
Mrd. Barrel. Die Gesamtmenge förderbarer Reserven in diesen Ländern wird jedoch
auf 70 bis 80 Mrd. Barrel geschätzt. Auch in lange übersehenen Gegenden Afrikas
wurde erst vor einigen Jahren mit Explorations- und Erschließungsarbeiten
begonnen, und zwar ungefähr zu der Zeit, als die riesigen Teersande in Kanada
begannen, größere Investitionen anzuziehen. Aber nur hohe Preise schaffen die
Anreize für Produzenten, die riesigen Ölvorkommen anzuzapfen, die auf Förderung
warten. In den letzten Jahren haben höhere Preise die Ölindustrie sowie die Öl
fördernden Länder dazu veranlasst, neue Investitionen zu tätigen. Seit 2002 sind die
Investitionen in Exploration und Produktion real gestiegen, und zwar –
inflationsbereinigt – um mehr als 10 Prozent. Es hat schon immer etwas gedauert,
ehe sich die Ergebnisse gestiegener Investitionen in die Ölförderung zeigten.
Durchschnittlich verstreichen in der Regel sechs bis acht Jahre zwischen der
Entdeckung eines neuen Ölvorkommens in einem Feld mittlerer Größe und dem
Beginn der Ölförderung. Sobald die Förderung jedoch begonnen hat, kann sie nur
schwer gestoppt werden.
Leonardo Maugeri – Ein zweifaches Hoch auf teures Öl 5
Neuere Schätzungen der Cambridge Energy Research Associates (CERA) auf der
Basis individueller Felder lassen die Annahme zu, dass die weltweite
Produktionskapazität bis 2010 100 Mio. Barrel pro Tag übersteigen wird. Heute liegt
sie bei knapp unter 86 Mio. Barrel pro Tag. CERA zufolge wird ein Großteil der
gestiegenen Produktion aus Nicht-OPEC-Ländern wie Angola, Aserbaidschan und
Kasachstan kommen. Man geht davon aus, dass es der OPEC (mit Ausnahme von
Saudi-Arabien) in naher Zukunft schwer fallen wird, die für ihre Mitglieder geeigneten
Marktanteile zu finden. Längerfristig müsste die OPEC jedoch Marktanteile
zurückgewinnen können, solange sie die weniger konventionellen Lieferquellen (d.h.
neue Lieferanten in Afrika und Asien bzw. venezolanische Schweröle und
kanadische Teersande) sowie neue Technologien (wie z. B. diejenigen, die eine
verbesserte Ölgewinnung bzw. die Konversion von Erdgas in leichter zu
transportierende Flüssigprodukte ermöglichen) berücksichtigt. Ganz einfach
ausgedrückt: Die Welt wird weiterhin über genug Öl verfügen.
Nadelöhr Raffinerie
Eine beträchtliche Erhöhung der Produktion allein kann jedoch die aktuellen hohen
Preise nicht senken. Rohöl gibt es in sehr vielen verschiedenen Qualitäten, und
Ölsorten, die eine schlechte Qualität haben, können nur in sehr komplexen
Raffineriesystemen verarbeitet werden. Rohöl mit guter Qualität – wie z.B. die Sorten
West Texas oder Brent, das wenig Schwefel enthält und leicht ist bzw. eine niedrige
Dichte hat – liefert mehr Benzin und andere Produkte mit hohem Mehrwert und
weniger Rückstandsöl und andere ungewollte Produkte als Ölsorten mit niedriger
Qualität wie z.B. die Sorten Mexican Maya oder Iranian Heavy. (Der Anteil an
umweltfreundlichen Raffinerieprodukten mit hohem Mehrwert steigt ebenfalls
merklich, wenn Rohölsorten mit schlechter Qualität in komplexen Raffineriesystemen
verarbeitet werden, die über hoch entwickelte Konversionsanlagen verfügen.) Die
Entwicklung von mehr Verarbeitungskapazität reicht daher alleine nicht aus; solche
neuen Kapazitäten müssen in der Lage sein, unterschiedliche Rohölqualitäten in
diejenigen Raffinerieprodukte, wie Benzin und Diesel, zu verwandeln, die benötigt
werden. Ohne eine solche Flexibilität werden auch überschüssige Rohöllieferungen
die Nachfrage auf den Märkten nicht stillen können.
Seit 20 Jahren schon ist die Verarbeitung das schwache Glied in der Kette. In den
1970er Jahren, als man schätzte, dass der Mineralölverbrauch jährlich um mehr als
fünf Prozent steigen würde – und das noch mindestens 25 Jahre lang – wurde sehr
viel investiert. Aber der Mineralölverbrauch stieg nicht ständig, sondern stagnierte
Anfang der 1980er Jahre auf der Höhe von 64 Mio. Barrel pro Tag. In den
Folgejahren ging der Verbrauch sogar etwas zurück. Im selben Zeitraum stieg die
Verarbeitungskapazität auf 80 Mio. Barrel pro Tag. Das hieß, dass das
Hauptproblem für die Branche zwischen 1980 und 2000 darin bestand, diese
überschüssige Kapazität zu absorbieren. Der Überhang blieb auch bestehen,
nachdem die Nachfrage wieder gestiegen war, denn diese Nachfrage stieg dann
Leonardo Maugeri – Ein zweifaches Hoch auf teures Öl 6
wesentlich langsamer (um weniger als zwei Prozent pro Jahr) als in den so
genannten goldenen Jahren zwischen 1950 und 1970, als sie jährlich um sage und
schreibe sieben Prozent stieg. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde die
Situation durch neue Umweltbestimmungen erschwert, die die bestehenden
Raffinerien mit strengen Auflagen belasteten. Außerdem widersetzten sich lokale
Gruppen, die nach dem Sankt-Florians-Prinzip handelten, vehement dem Bau neuer
Anlagen. Anfang des neuen Jahrtausends kamen viele Faktoren zusammen, die die
Probleme im Verarbeitungsbereich noch weiter verschärften. Immer strengere
Umweltbestimmungen bei Kraftstoffqualitäten und Emissionen führten zu einer
deutlich höheren Nachfrage (und damit zu deutlich höheren Preisen) nach
Rohölsorten mit besserer Qualität und hohen Ausbeuten. Unzureichende
Investitionen in neue bzw. verbesserte Verarbeitungskapazitäten führten zu weiteren
Problemen. Aufgrund der Tatsache, dass nur etwa 20 Prozent der Rohölsorten in die
Kategorie leicht bzw. schwefelarm fallen, führte die fehlende Verarbeitungskapazität
für Rohölsorten mit niedriger Qualität zu Knappheiten bei den Produkten.
In der Folge gibt es heute spürbare Ungleichgewichte in jedem regionalen Markt. In
Europa ist der Lieblingskraftstoff Diesel knapp, während es Benzin in Hülle und Fülle
gibt, das jedoch nicht in die USA exportiert werden kann, weil es die dortigen
Qualitätsstandards nicht erfüllt. Der Ölmarkt in Asien ist weitgehend ineffizient, weil
die Raffinerien in der Region technisch auf nur mittlerem Niveau sind and daher mit
mittelschweren und schweren Rohölsorten nicht gut fertig werden können.
In den USA ist die Situation besonders gravierend. Und weil das Land fast 25
Prozent des Öls in der Welt verbraucht, machen sich seine Probleme auch im
globalen Markt bemerkbar. In den letzten 30 Jahren wurde keine einzige neue
Raffinerie gebaut; außerdem haben die an bestehenden Anlagen vorgenommenen
Verbesserungen mit der wachsenden Nachfrage bzw. mit immer strengeren
Umweltbestimmungen nicht Schritt gehalten. Die USA ist jetzt der einzige Markt
weltweit mit einem Nettodefizit an Verarbeitungskapazität (die etwa 20 Prozent der
Inlandsnachfrage ausmacht).