In der Berliner SPD gärt es
Sonderparteitage von SPD und PDS gaben dem rot-roten Senat von Berlin ihren Segen.
Aufrechte Sozialdemokraten verlassen die Partei
Von Jochen Kummer
Die Würfel sind gefallen: Am Samstag segnete ein PDS-Sonderparteitag den künftigen SPD/PDS-Senat von Berlin ab. Am Freitagabend hatte ein SPD-Sonderparteitag die rot-rote Koalitionsvereinbarung gebilligt - aber bei 44 Gegenstimmen und 16 Enthaltungen (231 Ja-Stimmen), obgleich SPD-Landesvorstand und Fraktion den Delegierten noch einstimmig eine Annahme empfohlen hatten. Die Stimmung war gedrückt.
An der Basis der Berliner SPD gärt es. In Briefen entlädt sich Unmut bis Wut.
"Auch ich bin aus der SPD - nach 38 Jahren Mitgliedschaft - ausgetreten", schrieb beispielsweise ein ehemaliger Betriebsratvorsitzender aus dem West-Berliner Bezirk Spandau.
Ein Ehepaar aus Zehlendorf im Westteil Berlins formulierte: "Für uns steht der Austritt am Tage der Wahl eines rot-roten Senats unverrückbar fest."
Ein Mann aus dem Ost-Berliner Friedrichsfelde schrieb: "Da auch ich nach Unterschrift des Koalitionsvertrages die SPD verlasse, kann ich nachvollziehen, welche Gewissenskonflikte Sie mit sich auszutragen hatten. Ich bin 64 Jahre alt, habe 40 Jahre Kommunistendiktatur in der DDR erlebt, um dann seit Januar 1990 in einer Partei zu sein, die ein entschiedener politischer Gegner der Kommunisten ist. Aber ich habe mich geirrt!"
Zwanzig, dreißig solcher Briefe hält Walter Sickert, 82, in den Händen. 53 Jahre lang, seit 1948, ist Sickert Mitglied der SPD gewesen. Nicht irgendein SPD-Genosse, sondern ein enger Weggefährte von Willy Brandt, einem der großen sozialdemokratischen Regierenden Bürgermeister von Berlin und SPD-Idole im Freiheitskampf um das eingekesselte Berlin. Sickert war als junger Mann selbst Kommunist: Schon mit neun war er im "Jung-Spartakusbund". Er kennt den Unterschied zwischen Kommunist und Sozialdemokrat. Sickert wusste also, was er tat, als er jetzt sein SPD-Parteibuch zurückgab. Der ehemalige Berliner Polizeipräsident Klaus Hübner, 77, auch SPD-Mitglied, tat es ihm gleich.
Als DGB-Vorsitzender von Berlin ab 1960, ein Jahr vor dem Mauerbau, hat Sickert 400 000 Menschen zu den Maikundgebungen geführt, die Freiheitsbekundungen waren: "Berlin muss frei sein!" Sickert war Präsident des Abgeordnetenhauses, dem auch Brandt angehört hatte. "Willy Brandt würde sich heute im Grabe umdrehen", sagt Sickert. Man müsse sich vorstellen: SPD und PDS haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass sie ein Denkmal für Rosa Luxemburg errichten, die 1919 am Berliner kommunistischen Aufstand teilnahm und erschossen wurde. "Das ist die, die 1919 die Sozialdemokraten als stinkenden Leichnam bezeichnet hat", sagt Sickert.
Manchen schaudert es bei dem Gedanken, dass am kommenden Donnerstag der letzte SED-Vorsitzende der DDR ausgerechnet zum Wirtschaftssenator und Bürgermeister gewählt werden soll: Rechtsanwalt Gregor Gysi von der PDS. Der Händedruck zwischen Berlins Regierendem Bürgermeister Wowereit (SPD) und Gysi, Charmeuren nach außen, zur Besiegelung der Verbrüderung trifft den Nerv der SPD und erinnert an den Händedruck von Wilhelm Pieck (KPD) und Otto Grotewohl (SPD) 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei SED - und zum Ende der SPD im Osten.
Bei US-Investoren löst der PDS-Wirtschaftssena-tor Irritationen aus. "Man versteht das weniger, je weiter man von Berlin weg ist", sagte der Geschäftsführer der amerikanischen Handelskammer in Deutschland, Dierk Müller.
Die agierende Berliner SPD aber jubelt. Gysi könne "nur nützlich sein, gerade im wirtschaftlichen Bereich zu zeigen, dass er auch seinen ganzen Einfluss ausübt, seinen ganzen Charme einsetzt, um Investoren nach Berlin zu holen", sagte Walter Momper (SPD), einer der ehemaligen Regierenden Bürgermeister und heutiger Parlamentspräsident.
Da traf CSU-Landesgruppenchef Michael Glos eine ganz andere Stimmung unter SPD-Mitgliedern: "Gysi als Wirtschaftssenator - ein Treppenwitz der Weltgeschichte" und der "Brandstifter wird zum Feuerwehrhauptmann gemacht".
Was mag im Kopf des auffällig schweigsamen Kanzlers und SPD-Vorsitzenden Schröder vorgehen, der doch der Bildung eines rot-roten Senats seinen Segen gegeben haben muss? Jetzt sickerte aus seiner Umgebung Katzenjammer durch: "Die Berliner SPD konnte noch nie über den Tellerrand blicken", klagt ein Kanzler-Vertrauter.
Schon tauchen Irritationen über Gysis Methoden zur Anwerbung von Investoren auf. Vor der Wiedervereinigung soll Gysi, der jüdischer Abstammung ist, im Februar 1990 an die Juden in aller Welt appelliert haben, in der DDR zu investieren. Damit wollte er die Wiedervereinigung bremsen, habe der jüdische Rabbiner Zvi Weinman berichtet. Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) meldete dies im Februar 1990.
Gysi reagierte mit einem Dementi: "Ausgemachter Quatsch." Aber er bestätigte seine Versuche zur Investoren-Anwerbung: "Ich habe gewiss Unternehmer aus vielen Ländern bei verschiedenen Treffen aufgefordert, in der DDR zu investieren. Allerdings ging es da nicht um die Frage der deutschen Einheit, sondern um die kritische soziale Situation in der DDR."
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU im Abgeordnetenhaus, Frank Henkel, sagte WELT am SONNTAG: "Das ist ein Beweis, dass Gysi nicht begriffen hatte, wie bankrott die DDR damals war."
Nicht leugnen kann Gysi, dass er im August 1990 in der Ost-Berliner Volkskammer vehement den Beitritt der DDR per 3. Oktober bekämpft und die Vereinigung in einer persönlichen Erklärung als "Untergang der DDR" bejammert hat. "Die CDU wird Gysis Rolle gegen die Vereinigung hinterfragen, sobald er im Amt ist", kündigte Henkel an.
Das sagen drei Ex-Bürgermeister von Berlin
Klaus Schütz (SPD), 75, Regierender Bürgermeister 1967-1977:
"Die Stadt ist in einer politisch kritischen Situation. Ich hoffte auf eine Ampelkoalition. Es hätte manche Gelegenheit zum Austritt aus der Partei gegeben. Ich habe Klaus Wowereit gesagt: ,Du kannst machen, was du willst, ich trete nicht aus. Das ist nicht mein Stil.' Ich weiß, was Stadtpolitik machen kann - das ist nicht viel. Versucht das! Wowereit und Böger (Schulsenator) traue ich zu, dass sie sich bemühen werden. Das Problem ist: Was ist an neuen Maßnahmen vorgesehen, die meine Lebenswelt berühren? Meine Enkelkinder sollen nicht noch schlechtere Schulen haben. Der hervorragende Nahverkehr soll funktionieren. Ob sich Willy Brandt jetzt im Grab umdreht? Das sind so Begriffe, mit denen ich nichts anfangen kann."
Hans-Jochen Vogel (SPD), 75, Regierender Bürgermeister 1981:
"Die Entscheidung erfreut mich nicht. Aber nach dem Scheitern der Bemühungen um eine Ampel-Koalition gab es keine realistische Alternative. Eine neuerliche große Koalition mit der CDU hätten die Wähler wohl zu Recht als eine Verhöhnung empfunden. Jetzt muss die Berliner SPD aus ihrer Entscheidung das Beste machen."
Richard von Weizsäcker (CDU), 81, Regierender Bürgermeister 1981-1984, bleibt bei seiner Beurteilung, die er im Dezember gegenüber der Frankfurter Rundschau äußerte:
"Ich finde es demokratisch ehrlich, wenn die beiden Parteien, die in den beiden Hälften Berlins jeweils mit Abstand die meisten Stimmen bekommen haben, auch den Versuch machen, gemeinsam zu regieren. Das wird schwer genug. Es geht aber um den Respekt vor den Wählern. Es geht nicht um eine Reverenz vor einer Partei oder vor ihrem Programm. Die PDS hat lange genug in der Gewissheit gelebt, Opposition sein zu müssen und zu dürfen. Dementsprechend sind die Programme, die sich dem Test in der Realität nie stellen mussten. Nun wird sich das womöglich überprüfen lassen."