Das ist einmalig in Europa: Ausländer und Einwanderung sind in Deutschland kein Thema der Auseinandersetzung.“ So wunderte sich die römische Zeitung La Repubblica nach den beiden Fernsehduellen von Schröder und Stoiber.
In der Tat: Zur allgemeinen Überraschung spielt Stoibers einstiges Leib- und Magenthema, mit dem er sich als bayerischer Innenminister profiliert hat und das zu seinem Ruf als Eisenfresser beitrug, in diesem Bundestagswahlkampf keine Rolle: Kaum ein Plakat, kein großer öffentlicher Streit, keine Parolen – Stoibers Satz „Deutschland kann nicht mehr Zuwanderung verkraften“, gesprochen am gestrigen Freitag im Bundestag, war eine der wenigen Ausnahmen.
In den Wahlkämpfen der vergangenen zwei Jahrzehnte gab es wilde Debatten über angeblichen Asylmissbrauch oder einen Missbrauch der Sozialsysteme, kein Vorurteil war zu primitiv, um nicht politisch bedient zu werden. Mit Anti-Asyl- und Anti-Ausländerdebatten hat die Union, vor allem die CSU, die SPD in vielen Wahlkämpfen vor sich hergetrieben. Diesmal nicht.
Diesmal hält sich die Union zurück. Denn sie müsste sich gegen einen breiten gesellschaftlichen Konsens stellen, der von Kirchen und den Wohlfahrtsverbänden über die Gewerkschaften bis hin zu den Arbeitgeberverbänden reicht. In der von der Bundesregierung eingesetzten Süssmuth-Kommission – deren Bericht Grundlage für das Zuwanderungsgesetz war und hinter dessen Vorschlägen das Zuwanderungsgesetz weit zurückbleibt – waren alle Verbände und Gruppen vertreten, die irgendwie mit Ausländern zu tun und in Deutschland Rang und Namen haben. Mit einem harten Wahlkampf gegen das Gesetz würde die Union also auch einen Teil der eigenen Klientel gegen sich aufbringen. Stoiber muss als Unions-Kandidat den gesamten Laden zusammenhalten. Es darf ihm nicht passieren, dass, wie einst bei der Kandidatur von Franz Josef Strauß, Teile der CDU gegen ihn opponieren – ansonsten hätte er von vornherein keine Chance gehabt. Und mit einem rechten Flügelthema hätte Stoiber die Einheit der Union im Wahlkampf nicht schaffen und nicht halten können. Ein Zerbröseln der Union im Wahlkampf würde als Beleg für Stoibers Unfähigkeit zur Integration ausgelegt werden. Also setzt er auf das Thema, das die Union über alle Flügel und Gruppierungen hinweg eint, über das es keinen Streit und keinen Dissens gibt – Wirtschaft, Arbeitsplätze, Steuern.
Angst verschluckt das Thema
Der Wahlkampf zum Themenbereich Zuwanderung läuft deshalb ab, als hätten beide große Parteien Angst vor der eigenen Courage. Und so ist es wohl auch: Stoiber hat Angst davor, dass ein Anti-Zuwanderungs-Wahlkampf, wie er ihm eigentlich liegt, ihn als Hardliner und Strauß-Epigonen entlarven würde. Und die SPD hat die Befürchtung, dass sie mit dem Thema Zuwanderung bei der Arbeiterschaft schlecht ankommt. Also betonen die Sozialdemokraten, je näher die Bundestagswahl rückt, eher das Wort „Begrenzung“ als das Wort „Zuwanderung“.
Und Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) meint gar, dass die beste Integration die Assimilation darstelle – als seien kulturelle Unterschiede und Eigenheiten ein Makel, der weggeschliffen werden müsse. Um den „Aufstand der Anständigen“, den der Bundeskanzler im Sommer 2001 nach einer Serie von ausländerfeindlichen Anschlägen ausgerufen hat, ist es in der SPD schon zu Beginn des Wahlkampfes ruhig geworden, nur Bundestagspräsident Wolfgang Thierse reist unverdrossen durch den Osten und redet wider die Ausländerfeindlichkeit.
Allein die Grünen versuchen als Gesamtpartei, die Integration von Ausländern mit Aktionen gegen Rassismus zu verbinden. Und die FDP? Auf die Liberalen, die beim Zuwanderungsgesetz mit SPD und Grünen gestimmt haben, hat das Spiel ihres Vize Möllemann mit antisemitischen Klischees einen braunen Schatten geworfen.
Als der Hamburger Innensenator Ronald Schill bei der Hochwasser-Debatte im Bundestag seine unsägliche fremdenfeindliche Rede hielt, wurde die Wahlkampfleitung der Union zwar unruhig, und diese Unruhe spürte man auch bei der gestrigen Bundestags-Rede Stoibers. Angesichts des zu erwartenden knappen Ausgangs der Wahl können ein paar tausend Stimmen, die zu Schill abwandern, entscheidend sein. Aber die Union ist, vorerst jedenfalls, bei ihrer Linie geblieben.
Kampf im Untergrund
Diese läuft so: Die unionsregierten Länder klagen zwar gegen das neue Zuwanderungsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht; die Union kündigt auch an, das Zuwanderungsgesetz nach einem Wahlsieg „unverzüglich“ zu ändern. Aber der politische Kampf findet nicht auf den Marktplätzen und in den Politik-Talkshows, statt sondern im Untergrund. Der Untergrund ist in diesem Fall die Länder-Bürokratie: Die CDU/CSU-regierten Länder weigern sich, an den einschlägigen Verordnungen zur Ausführung des Zuwanderungsgesetzes mitzuarbeiten. Es handelt sich vor allem um die Verordnungen zu den Sprachkursen (sechs Monate lang, insgesamt 600 Stunden) und zum Orientierungskurs (30 Stunden) für ausländische Zuwanderer.
Diese Verordnungen sind im Bundesrat zustimmungspflichtig. Die parallelen Verordnungen, welche die Sprach-und Orientierungskurse für Aussiedler regeln, sind zwar nicht zustimmungspflichtig; sie sollen aber genauso ausschauen wie die für Ausländer.
Ungünstige Voraussetzung für ein Jahrhundertgesetz
Das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (BAMF), wie das frühere Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge jetzt heißt, lässt sich zwar von der Unionsblockade nicht irritieren. Präsident Albert Schmid versucht, die Unionisten auf informellem Weg in die Vorbereitungen einzubinden. „Mit den etwa 750 Ausländerbehörden in Deutschland“, so sagt er, „sind wir in täglichem Kontakt.“ Aber die politischen Voraussetzungen für die Umsetzung eines Jahrhundertgesetzes könnten fürwahr günstiger sein.
Am 1.Januar 2003 müssen laut Gesetz die Kurse für Zuwanderer und Aussiedler beginnen.
Schmid vertraut felsenfest darauf, dass das funktioniert. Es geht darum, dort, wo das Zuwanderungs-und Integrationsgesetz die Trasse für eine neue Politik aufgeschüttet hat, nun auch die Geleise zu verlegen: „Ausführung und Ausfüllung des Gesetzes“, nennt man das landläufig. „Integration ist vor allem Sprache“, sagt Albert Schmid, „nicht nur, aber vor allem.“
Und so bildet die Sprachförderung die erste von vier Säulen des Integrationsprogramms – die einzige allerdings, die schon über das Stadium einer groben Planungsskizze hinaus ist. Die Säulen zwei bis vier – soziale Betreuung, berufliche Integration, gesellschaftliche Integration – existieren noch nicht einmal auf Konzeptpapier.
Sprachkurse: 122000 Zuwanderer, so schätzt das BAMF, werden im Jahr 2003 Anspruch auf Sprachförderung haben, zuzüglich 80000 Aussiedler. Man rechnet mit einem „Schwund“ von 20 Prozent, bleiben 98000 plus 64000, also insgesamt 202000. Sie sollen in 600 Stunden Sprachkursus (Teilnehmerzahl maximal 25) in die Lage versetzt werden, sich „alltagssprachlich im Behördenumgang und auch am Arbeitsplatz verständlich zu machen“, so Albert Schmid.
Sanktionen bei fehlendem Lernerfolg sind nicht vorgesehen. Am 30.November will das BAMF den knapp 700 Bewerbern, die sich als potentielle Träger für die Sprachkurse gemeldet haben, den Zuschlag erteilen: „Es geht bei uns zu wie in einem Taubenschlag“, kommentiert Schmid. Und die Frage werde dabei „weniger sein, wen wir nehmen, sondern ob die Anbieter reichen, um die gesetzlich geforderte flächendeckende Sprachversorgung sicherzustellen. Wahrscheinlich brauchen wir alle“.
Zwölf Stunden Verfassungsstaat
Für das Nürnberger Amt, bis vor kurzem mehr ein Flüchtlingsabwehramt, ist die Aufgabe, fürs Deutschlernen und für Integration zu sorgen, so neu wie für Zuwanderer die deutsche Sprache. Jugendliche Ausländer erhalten nach der Basisförderung mit 600 Stunden und nach einem Test weitere drei Monate Aufbauförderung mit dem Schwerpunkt Berufsorientierung. Ähnliches geschieht mit erwachsenen Spätaussiedlern (nicht mit Ausländern), die nach 600 Stunden Sprachkurs noch nicht auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können: Für sie sind „Aufbauförderung oder Abendunterricht“ vorgesehen. In den „Orientierungskursen“ sollen Grundzüge der deutschen Rechtsordnung, der Kultur und Geschichte vermittelt werden.
Nach den der SZ vorliegenden Konzepten sehen die Schwerpunkte so aus: Zwölf Stunden über den demokratischen Verfassungsstaat; acht Stunden über politische Strukturen, wie: „Gang der Gesetzgebung an einem tagespolitischen Beispiel“; dazu zehn Stunden mit Themen, welche die Länder bestimmen können. Das alles klingt nicht schlecht, aber: Alle Ansprüche gelten laut Gesetz nur für künftige Zuwanderer, für die also, die nach dem 1.Januar 2003 kommen. Die Ausländer, die schon in Deutschland leben und noch dringend Sprachkurse bräuchten, werden nur dann gefördert, „wenn Kapazitäten frei bleiben“. Die Zahl derer, die der „nachholenden Integration“ bedürfen, schätzt Schmid auf 200000.
Wahrscheinlich sind es noch erheblich mehr. Eigentlich müsste sich die Union mit den anderen Parteien einen Wettlauf um die besseren Integrationskonzepte liefern: Integration ist nämlich auch ein Element präventiver Sicherheitspolitik. Und bei der Sicherheitspolitik wollen sich Stoiber, Beckstein & Co. ja von niemandem übertreffen lassen.
Süddeutsche vom 14. Sept.02