(von Helga Zepp-LaRouche, Bundesvorsitzende der Bürgerrechtsbewegung Solidarität)
Wir erleben heute eine deutlich verschlechterte Lage der Realwirtschaft, horrende Einbrüche beim sog. Neuen Markt, systemische Gefahren, die von der Zahlungsunfähigkeit von Ländern wie Argentinien oder der Türkei ausgehen - und es wird im dritten und vierten Quartal dieses Jahres um Größenordnungen dramatischere Turbulenzen geben. Es ist eine Existenzfrage für Deutschland und ganz Europa, wie wir die Wirtschaft vor einem vollständigen Zusammenbruch bewahren können. Die Welt ist heute an dem Punkt angelangt, vor dem Lyndon LaRouche seit langem gewarnt hat: Das Weltfinanzsystem ist am Rande der vollständigen Desintegration. Nur mit einem großangelegten Wiederaufbau des Ostens und dem Ausbau der Eurasischen Landbrücke kann ein Absturz in das Chaos verhindert werden.
Im Augenblick halten es die meisten Wirtschaftsexperten und Politiker noch für ein unumstößliches Axiom, daß es zur Globalisierung und zur freien Marktwirtschaft keine Alternative gäbe. Ich wage hier die Prognose, daß dieses Axiom in kurzer Zeit von den Ereignissen hinweggefegt werden wird, und mit ihm alle Politiker und Regierungen, die daran festzuhalten versuchen. Das ganze existierende Finanzsystem auf der Basis flexibler Wechselkurse und alle Abkommen, die auf dieser Grundlage getroffen worden sind, werden in Frage gestellt sein. Eine Kombination von Finanz- und Währungskrisen, Hyperinflation sowie Depression der Realwirtschaft wird bald deutlich machen, daß die Existenz unserer Gesellschaft gefährdet ist, und dann wird nur eine Rückbesinnung auf die wahren "Grundtatsachen" eine Lösung ermöglichen.
Eine solche Grundtatsache ist es, daß Deutschland nach wie vor von wachsenden Exportmärkten abhängig ist und stets reicher werdende Kunden braucht, die unsere technologisch hochwertigen Produkte kaufen können. Unter dem Diktat der IWF-Bedingungen und der Globalisierung sind viele unserer traditionellen Exportmärkte verschwunden. Es gibt für Deutschland heute nur eine einzige Perspektive - die aber ist eine hervorragende: nämlich zusammen mit den anderen kontinentaleuropäischen Staaten die infrastrukturelle und wirtschaftliche Integration Eurasiens zu verwirklichen. Das bedeutet, daß sich die Politik Westeuropas grundlegend ändern muß - in vielen Teilen der Welt ist dieser Wandel bereits im vollen Gange.
Fortschritt der eurasischen Perspektive
Der Ausbau der Eurasischen Landbrücke ist nämlich längst nicht mehr nur eine Idee, sondern wird schon viel weitgehender realisiert, als dies von den westlichen Medien berichtet wird. Eine Schlüsselrolle spielt dabei z.B. die Shanghai Cooperation Organization (SCO), deren Mitglieder China, Rußland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan auf ihrem Gipfel am 15. Juni 2001 u.a. umfangreiche wirtschaftliche Kooperationen beschlossen. Ziel der SCO ist eine "neue politische und ökonomische Weltordnung auf der Basis von Demokratie, Gerechtigkeit und Vernunft". Kasachstans Präsident Naserbajew schlug in diesem Zusammenhang vor, die SCO solle die "Seidenstraße" wieder aufbauen. Dem Gipfel wurde auch ein Memorandum über den Bau der Eisenbahn von Shanghai nach Paris vorgelegt. Sie von Kashi in der chinesischen Provinz Xinjiang über Torugat und Djalalabad nach Bishek führen, wobei sehr hohe Gebirge durchquert werden müssen, und vom Ferganatal aus weiter nach Europa.
Hinzu kommt die Gründung der Eurasischen Transportunion und was daraus noch alles werden kann. Am 16. Mai 2001 gab der russische Verkehrsminister Sergej Frank den offiziellen Beginn dieser Transportunion bekannt, die schon im September letzten Jahres in St. Petersburg zwischen Rußland, Indien und Iran beschlossen worden war und der alle Staaten (außer bisher Pakistan) entlang des sog. Nord-Süd-Korridors - u.a. die Ukraine, Kasachstan, Armenien und Aserbaidschan - beizutreten beabsichtigen. Am 27. Juni gab Sergej Frank im Rahmen des Achtjahresplans für Verkehr und Infrastruktur die Absicht der russischen Regierung bekannt, den Ost-West-Korridor, der schon intakt und an das schwedische Netz angeschlossen ist, auszubauen, ebenso wie den Nord-Süd-Korridor, bei dem noch größere Strecken etwa in Thailand und Malaysia fehlen.
In diese Projekte sollen innerhalb von acht Jahren mindestens 137 Mrd. Dollar investiert werden. (Für alle Projekte dieser Art wird sich in naher Zukunft mit Sicherheit eine völlig andere Berechnungsgrundlage ergeben.) Man beschloß dazu die Einrichtung einer nationalen Koordinationsbehörde in Nowgorod - der Hauptstadt des Bundesbezirks Wolga, durch den beide Korridore verlaufen - , die über ein eigenes Budget verfügt und dem Verkehrsministerium angegliedert ist.
Bezüglich des Ost-West-Korridors ist eine Weiterentwicklung der Transsibirischen Eisenbahn als Verbindung des Fernen Ostens mit Westeuropa im Gespräch. Dies schließt die berühmte Baikal-Amur-Magistrale ein, deren letzter großer Tunnel vor wenigen Monaten fertiggestellt wurde, so daß jetzt Güter uneingeschränkt innerhalb von zwei Wochen von Westeuropa nach Fernost und umgekehrt transportiert werden können. Der Ausbau der Eisenbahnverbindung zwischen Süd- und Nordkorea, ein Projekt, dem Präsident Putin bei seinem Besuch in Pjöngjang große Bedeutung beimaß, muß im Rahmen des Ausbaus dieses nördlichen Korridors gesehen werden. Als der iranische Präsident Chatami kürzlich in Moskau war, wurde weiterhin die Eröffnung eines sehr wichtigen Kommunikations- und Entwicklungskanals zwischen Süden und Norden, vom Iran über das Kaspische Meer und die Wolga in den nördlichen Teil Rußlands und zur Nordsee vereinbart.
In diesem Zusammenhang ist eine Entwicklung höchst bedeutsam, über der offizielle indische Nachrichtendienst Press Trust of India (PTI) am 16. Juli aus Beijing berichtete, die sich als "die wichtigste politische Entwicklung der Periode nach dem Kalten Krieg" herausstellen könnte: daß nämlich China seine anfängliche Zurückhaltung aufgegeben habe und nun bereit sei, zusammen mit Indien und Rußland ein "strategisches Dreieck" zu bilden. Der PTI zitierte die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums Zhang Qiyue, China, Rußland und Indien hätten bezüglich vieler internationaler Themen "ähnliche oder fast identische" Ansichten und Besorgnisse.
LaRouches Vorschläge
Zugegeben, die arrogante Konfrontationspolitik der Administration von George W. Bush hat eine Menge dazu beigetragen, einige der Nationen Eurasiens von ihren bisherigen Illusionen zu befreien. Aber die neue eurasische Kooperation, wie sie in der SCO oder dem strategischen Dreieck zwischen China, Rußland und Indien zum Ausdruck kommt, ist nicht durch Negation zustandegekommen. Auch wenn dies dem von den Medien mit tieferen Wahrheiten nicht eben verwöhnten Bundesbürger überraschend vorkommen mag: Lyndon LaRouche, das internationale Schiller-Institut und ich selbst hatten den wahrscheinlich wichtigsten konzeptionellen Beitrag am Zustandekommen der nun realen Perspektive der Eurasischen Landbrücke.
Fakt ist, daß LaRouche der einzige Wirtschaftswissenschaftler und Politiker war, der bereits 1983 den Kollaps der Sowjetunion prognostizierte, falls diese an der Ogarkow-Doktrin festhielte.
Fakt ist: Am 12. Oktober 1988, als kein einziger Politiker in Deutschland dies auch nur annähend für möglich hielt, hat LaRouche angesichts der bevorstehenden Desintegration der Sowjetunion die baldige Wiedervereinigung Deutschlands mit der Hauptstadt Berlin vorhergesagt und die wirtschaftliche Entwicklung Polens mit Hilfe westlicher Technologie als Modell für den gesamten Comecon (RGW) vorgeschlagen.
Nach dem Fall der Mauer schlug LaRouche das Programm des "Produktiven Dreiecks Paris-Berlin-Wien" vor, das die wirtschaftliche Integration West- und Osteuropas durch Infrastrukturkorridore vorsah. Auch wenn dieses Aufbauprogramm für den Osten damals nicht verwirklicht wurde und man statt dessen mit dem "polnischen Modell" und der Privatisierung eine Politik wirtschaftlichen Kahlschlags durchsetzte, so begann die Idee der "Entwicklungskorridore" doch zu zirkulieren.
Nach der Desintegration der Sowjetunion schlug LaRouche vor, das "Produktive Dreieck" mit ganz Eurasien zu verbinden und die "Eurasische Landbrücke" durch eine Vielzahl von Korridoren zu vernetzen, um vor allem den zu erwartenden Anstieg von Produktion und Handel in den Bevölkerungszentren Ost-, Südost- und Südasiens mit den Industriezentren Europas zu verbinden. Insbesondere Rußland und die anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion mußten allerdings erst einmal das Gegenteil erleiden, nämlich die weitgehende Degradierung zu bloßen Rohstofflieferanten, die aus geopolitischen Motiven von anglo-amerikanischer Seite betrieben wurde.
Heute, fast zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer und rund zehn Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion, befindet sich die Idee der Eurasischen Landbrücke schon mitten im Prozeß der Verwirklichung. LaRouche und das Schiller-Institut haben dazu entscheidende wirtschaftstheoretische, philosophische und kulturelle Konzepte beigetragen und durch viele Konferenzen und Seminare den Werdeprozeß der Landbrücke immer wieder vorangebracht. Heute sind die Shanghaier Organisation für Kooperation (SCO), die Eurasische Transportunion und die Konsolidierung des Strategischen Dreiecks Rußland-China-Indien Elemente des Rahmens, in dem die Eurasische Landbrücke gedeihen kann.
Die moralische Dimension
Wenn Deutschland sich auf seine traditionelle Rolle als Exporteur vor allem von Hochtechnologie besinnt, dann bilden die gigantischen Weiten des eurasischen Raumes einen schier unerschöpflichen Markt für deutsche Erzeugnisse. Die mögliche Rettung des Transrapid als potentieller "Exportschlager" auf dem Umweg über China sollte unserer Vorstellungskraft Flügel verleihen. Für die Eurasische Landbrücke werden bald Transrapidstrecken von Hunderttausenden von Kilometern notwendig sein. Die Wirtschaftsbelebung auf allen Seiten wird die Fortschritte unter dem Marshall-Plan weit in den Schatten stellen. Hier liegt die Zukunft Deutschlands.
Aber neben der wirtschaftlichen gibt es noch eine moralische und kulturelle Dimension. Wenn man sich erst einmal von der Fiktion der "Shareholder-Value-Gesellschaft", der persönlichen Profitmaximierung um jeden Preis befreit hat - und das werden die "Märkte" in kurzer Zeit selbst besorgen - , dann sieht man plötzlich, wie selbstverständlich und leicht alle Not und drückende Armut auf der Welt beseitigt werden könnte. Wir haben alle dazu notwendigen Technologien. Zahlreiche historische Präzedenzfälle demonstrieren, wie der Lebensstandard der Bevölkerung durch langfristige Investitionen in das Gemeinwohl betreffende Bereiche umfassend gehoben werden kann. Diese Erfahrung sollten wir in Eurasien anwenden.
Wenn in den kommenden Erschütterungen des systemischen Zusammenbruchs die mit der Globalisierung assoziierten Axiome ihrer Grundlage beraubt werden, wird dies zugleich eine Chance der Menschheit für eine völlige Neugestaltung bedeuten. Aber so wie ein Sprung über den Abgrund mißlingt, wenn er zu kurz angesetzt ist, so müssen auch die alten Annahmen vollständig durch neue ersetzt werden. Wenn die Nationen die Krise überwinden wollen, dann wird ihnen nur übrigbleiben, zu völlig neuen Gewohnheiten und Gesetzen des Lebens überzugehen. Sie müssen die Produktion realer Güter drastisch erhöhen und sie den Bedürfnissen der Milliarden lebender Menschen anpassen - also genau das Gegenteil der Globalisierung, die nur der "goldenen Milliarde" (bisher) ein menschenwürdiges Leben ermöglichte, und auch das Gegenteil der "nachindustriellen Gesellschaft", die versucht, die Bevölkerungszahl auf die reduzierten Möglichkeiten dieser destruktiven Utopie zu senken.
Die Anpassung der physischen Produktion an die Bedürfnisse der real lebenden Menschen ist aber nur möglich, wenn die Arbeitseffizienz durch die Anwendung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts drastisch erhöht wird. Gerade wenn man bedenkt, wie in den rund 30 Jahren neoliberalen Paradigmenwandels im Westen das Ziel dieses Fortschritts zugunsten der Spekulation aufgegeben wurde, wird deutlich, welch enormes Potential das große Reservoir an Wissenschaftlern aus Rußland und den GUS-Staaten darstellt.
Das Ende der Spaßgesellschaft
Das Zeitalter der Eurasischen Landbrücke erfordert auch, mit Rußland, China, Indien und den anderen Staaten eine neue Form der geistigen Gemeinschaft zu finden, weil selbst eine auf gegenseitigen wirtschaftlichen Vorteil gegründete Zweckgemeinschaft nicht genügt. Die Nationen Eurasiens müssen sich auf das Universelle in ihrer jeweiligen Kultur besinnen und es wiederbeleben, weil man nur so die Grundlage für das Empfinden einer höheren Ordnung finden kann, die alle Teile der Menschheit verbindet. Es muß also eine seelische Kulturqualität dazu kommen, eine leidenschaftliche Liebe zur Idee der Völkergemeinschaft.
Wir brauchen also eine neue Idee vom Menschengeschlecht, Menschen, die nicht vom blanken Egoismus und Erwerbsgier getrieben sind, sondern von innen her bestimmt sind. Nun höre ich schon den Aufschrei vieler Bundesbürger: "Aber die Menschen werden sich niemals ändern, die Menschen werden egoistisch bleiben, die wollen doch nur Spaß haben!" Das ist genau der Punkt: Die materiellen Grundlagen der Spaßgesellschaft werden in kurzer Zeit hinweggefegt werden, und dann steht die moralische Substanz der Gesellschaft auf dem Prüfstand. Wenn die Menschen nicht ihren Egoismus aufgeben und sich dem Gemeinwohl zuwenden können, dann wird nur das Chaos übrigbleiben, und ein noch weit schlimmerer Absturz als in den 30er Jahren wird die Folge sein.
Nicht nur die Globalisierung ist gescheitert, gerade auch die "Spaßgesellschaft" hat versagt. Wer hat nicht in seinem Bekanntenkreis ein alterndes Ehepaar der 68er-Generation, deren Sohn oder Tochter im Teenageralter (Kinder hat man schließlich erst kurz vor der biologischen Barriere bekommen) von der Drogenszene bedroht sind, dem hirnlosen Druck ihrer Altersgenossen nachgeben, jeden Designertrend mitzumachen oder im Milieu abstruser Randgruppen versackt sind? Wenn diese Eltern noch einen Funken von Realitätsbezug haben, dann sind sie meist verzweifelt, weil sie den Zugang zu ihren Kindern verloren haben. Die Globalisierung hat uns eine Welt ohne Seele gebracht, die Spaßgesellschaft wurde zum Alptraum, aus dem das Aufwachen höchst unsanft erfolgen wird.
Die neue Ära der Eurasischen Landbrücke bedeutet zugleich auch die Chance einer neuen Goldenen Renaissance, wie wir sie zuletzt im 15. Jahrhundert in Italien, aber auch z.B. in Polen und anderen Teilen Europas erlebt haben. Denn leider sind die Menschen bisher nur in schweren Krisen bereit, sich mit großen Entwürfen auseinanderzusetzen. In den kommenden Erschütterungen sollten wir uns daran erinnern, wie Schiller in seiner Schrift Die Gesetzgebung des Solon und Lykurg den "Zweck der Menschheit" definiert - nämlich als "Fortschreitung". Nicht der maximale Spaß im hier und jetzt ist das Ziel, sondern eine zivilisiertere Menschheit und die größere Freiheit und fortschreitende Vergrößerung des Spielraums, innerhalb derer der einzelne seine geistigen Kräfte entfalten kann.
In dieser neuen Epoche können wir auch die Chance wahrnehmen, die 1989 verpaßt wurde: nämlich die Erringung der Souveränität Deutschlands. Eine vollkommene Neukonzeption der deutschen Außenpolitik muß an die Stelle des bisherigen "Statthaltertums" im Dienste der Besatzungsmächte treten: eine eigene Zielsetzung, getragen von einer Vision der positiven Identität Deutschlands im 21. Jahrhundert. Deutsche Interessen bedeuten nicht die flachköpfige und engherzige Verteidigung der vermeintlichen Privilegien in einem System, das die Menschheit in eine "goldene Milliarde" und fünf Milliarden, die eben Pech gehabt haben, unterteilt. Wenn wir das verstehen und statt dessen die frohe Identität jener Dichter und Denker übernehmen, die nie Angst haben, mit anderen zu teilen, weil sie darauf vertrauen, daß sie auch morgen einen kreativen Gedanken haben werden, der die Welt insgesamt reicher macht - dann ist das Problem gelöst.
Eines ist gewiß: Wir stehen vor Umwälzungen, von denen sich die meisten Zeitgenossen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal annähernd eine Vorstellung machen können. Mit der Eurasischen Landbrücke bietet sich darin eine Chance für Deutschland und die Welt.
Wir erleben heute eine deutlich verschlechterte Lage der Realwirtschaft, horrende Einbrüche beim sog. Neuen Markt, systemische Gefahren, die von der Zahlungsunfähigkeit von Ländern wie Argentinien oder der Türkei ausgehen - und es wird im dritten und vierten Quartal dieses Jahres um Größenordnungen dramatischere Turbulenzen geben. Es ist eine Existenzfrage für Deutschland und ganz Europa, wie wir die Wirtschaft vor einem vollständigen Zusammenbruch bewahren können. Die Welt ist heute an dem Punkt angelangt, vor dem Lyndon LaRouche seit langem gewarnt hat: Das Weltfinanzsystem ist am Rande der vollständigen Desintegration. Nur mit einem großangelegten Wiederaufbau des Ostens und dem Ausbau der Eurasischen Landbrücke kann ein Absturz in das Chaos verhindert werden.
Im Augenblick halten es die meisten Wirtschaftsexperten und Politiker noch für ein unumstößliches Axiom, daß es zur Globalisierung und zur freien Marktwirtschaft keine Alternative gäbe. Ich wage hier die Prognose, daß dieses Axiom in kurzer Zeit von den Ereignissen hinweggefegt werden wird, und mit ihm alle Politiker und Regierungen, die daran festzuhalten versuchen. Das ganze existierende Finanzsystem auf der Basis flexibler Wechselkurse und alle Abkommen, die auf dieser Grundlage getroffen worden sind, werden in Frage gestellt sein. Eine Kombination von Finanz- und Währungskrisen, Hyperinflation sowie Depression der Realwirtschaft wird bald deutlich machen, daß die Existenz unserer Gesellschaft gefährdet ist, und dann wird nur eine Rückbesinnung auf die wahren "Grundtatsachen" eine Lösung ermöglichen.
Eine solche Grundtatsache ist es, daß Deutschland nach wie vor von wachsenden Exportmärkten abhängig ist und stets reicher werdende Kunden braucht, die unsere technologisch hochwertigen Produkte kaufen können. Unter dem Diktat der IWF-Bedingungen und der Globalisierung sind viele unserer traditionellen Exportmärkte verschwunden. Es gibt für Deutschland heute nur eine einzige Perspektive - die aber ist eine hervorragende: nämlich zusammen mit den anderen kontinentaleuropäischen Staaten die infrastrukturelle und wirtschaftliche Integration Eurasiens zu verwirklichen. Das bedeutet, daß sich die Politik Westeuropas grundlegend ändern muß - in vielen Teilen der Welt ist dieser Wandel bereits im vollen Gange.
Fortschritt der eurasischen Perspektive
Der Ausbau der Eurasischen Landbrücke ist nämlich längst nicht mehr nur eine Idee, sondern wird schon viel weitgehender realisiert, als dies von den westlichen Medien berichtet wird. Eine Schlüsselrolle spielt dabei z.B. die Shanghai Cooperation Organization (SCO), deren Mitglieder China, Rußland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan auf ihrem Gipfel am 15. Juni 2001 u.a. umfangreiche wirtschaftliche Kooperationen beschlossen. Ziel der SCO ist eine "neue politische und ökonomische Weltordnung auf der Basis von Demokratie, Gerechtigkeit und Vernunft". Kasachstans Präsident Naserbajew schlug in diesem Zusammenhang vor, die SCO solle die "Seidenstraße" wieder aufbauen. Dem Gipfel wurde auch ein Memorandum über den Bau der Eisenbahn von Shanghai nach Paris vorgelegt. Sie von Kashi in der chinesischen Provinz Xinjiang über Torugat und Djalalabad nach Bishek führen, wobei sehr hohe Gebirge durchquert werden müssen, und vom Ferganatal aus weiter nach Europa.
Hinzu kommt die Gründung der Eurasischen Transportunion und was daraus noch alles werden kann. Am 16. Mai 2001 gab der russische Verkehrsminister Sergej Frank den offiziellen Beginn dieser Transportunion bekannt, die schon im September letzten Jahres in St. Petersburg zwischen Rußland, Indien und Iran beschlossen worden war und der alle Staaten (außer bisher Pakistan) entlang des sog. Nord-Süd-Korridors - u.a. die Ukraine, Kasachstan, Armenien und Aserbaidschan - beizutreten beabsichtigen. Am 27. Juni gab Sergej Frank im Rahmen des Achtjahresplans für Verkehr und Infrastruktur die Absicht der russischen Regierung bekannt, den Ost-West-Korridor, der schon intakt und an das schwedische Netz angeschlossen ist, auszubauen, ebenso wie den Nord-Süd-Korridor, bei dem noch größere Strecken etwa in Thailand und Malaysia fehlen.
In diese Projekte sollen innerhalb von acht Jahren mindestens 137 Mrd. Dollar investiert werden. (Für alle Projekte dieser Art wird sich in naher Zukunft mit Sicherheit eine völlig andere Berechnungsgrundlage ergeben.) Man beschloß dazu die Einrichtung einer nationalen Koordinationsbehörde in Nowgorod - der Hauptstadt des Bundesbezirks Wolga, durch den beide Korridore verlaufen - , die über ein eigenes Budget verfügt und dem Verkehrsministerium angegliedert ist.
Bezüglich des Ost-West-Korridors ist eine Weiterentwicklung der Transsibirischen Eisenbahn als Verbindung des Fernen Ostens mit Westeuropa im Gespräch. Dies schließt die berühmte Baikal-Amur-Magistrale ein, deren letzter großer Tunnel vor wenigen Monaten fertiggestellt wurde, so daß jetzt Güter uneingeschränkt innerhalb von zwei Wochen von Westeuropa nach Fernost und umgekehrt transportiert werden können. Der Ausbau der Eisenbahnverbindung zwischen Süd- und Nordkorea, ein Projekt, dem Präsident Putin bei seinem Besuch in Pjöngjang große Bedeutung beimaß, muß im Rahmen des Ausbaus dieses nördlichen Korridors gesehen werden. Als der iranische Präsident Chatami kürzlich in Moskau war, wurde weiterhin die Eröffnung eines sehr wichtigen Kommunikations- und Entwicklungskanals zwischen Süden und Norden, vom Iran über das Kaspische Meer und die Wolga in den nördlichen Teil Rußlands und zur Nordsee vereinbart.
In diesem Zusammenhang ist eine Entwicklung höchst bedeutsam, über der offizielle indische Nachrichtendienst Press Trust of India (PTI) am 16. Juli aus Beijing berichtete, die sich als "die wichtigste politische Entwicklung der Periode nach dem Kalten Krieg" herausstellen könnte: daß nämlich China seine anfängliche Zurückhaltung aufgegeben habe und nun bereit sei, zusammen mit Indien und Rußland ein "strategisches Dreieck" zu bilden. Der PTI zitierte die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums Zhang Qiyue, China, Rußland und Indien hätten bezüglich vieler internationaler Themen "ähnliche oder fast identische" Ansichten und Besorgnisse.
LaRouches Vorschläge
Zugegeben, die arrogante Konfrontationspolitik der Administration von George W. Bush hat eine Menge dazu beigetragen, einige der Nationen Eurasiens von ihren bisherigen Illusionen zu befreien. Aber die neue eurasische Kooperation, wie sie in der SCO oder dem strategischen Dreieck zwischen China, Rußland und Indien zum Ausdruck kommt, ist nicht durch Negation zustandegekommen. Auch wenn dies dem von den Medien mit tieferen Wahrheiten nicht eben verwöhnten Bundesbürger überraschend vorkommen mag: Lyndon LaRouche, das internationale Schiller-Institut und ich selbst hatten den wahrscheinlich wichtigsten konzeptionellen Beitrag am Zustandekommen der nun realen Perspektive der Eurasischen Landbrücke.
Fakt ist, daß LaRouche der einzige Wirtschaftswissenschaftler und Politiker war, der bereits 1983 den Kollaps der Sowjetunion prognostizierte, falls diese an der Ogarkow-Doktrin festhielte.
Fakt ist: Am 12. Oktober 1988, als kein einziger Politiker in Deutschland dies auch nur annähend für möglich hielt, hat LaRouche angesichts der bevorstehenden Desintegration der Sowjetunion die baldige Wiedervereinigung Deutschlands mit der Hauptstadt Berlin vorhergesagt und die wirtschaftliche Entwicklung Polens mit Hilfe westlicher Technologie als Modell für den gesamten Comecon (RGW) vorgeschlagen.
Nach dem Fall der Mauer schlug LaRouche das Programm des "Produktiven Dreiecks Paris-Berlin-Wien" vor, das die wirtschaftliche Integration West- und Osteuropas durch Infrastrukturkorridore vorsah. Auch wenn dieses Aufbauprogramm für den Osten damals nicht verwirklicht wurde und man statt dessen mit dem "polnischen Modell" und der Privatisierung eine Politik wirtschaftlichen Kahlschlags durchsetzte, so begann die Idee der "Entwicklungskorridore" doch zu zirkulieren.
Nach der Desintegration der Sowjetunion schlug LaRouche vor, das "Produktive Dreieck" mit ganz Eurasien zu verbinden und die "Eurasische Landbrücke" durch eine Vielzahl von Korridoren zu vernetzen, um vor allem den zu erwartenden Anstieg von Produktion und Handel in den Bevölkerungszentren Ost-, Südost- und Südasiens mit den Industriezentren Europas zu verbinden. Insbesondere Rußland und die anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion mußten allerdings erst einmal das Gegenteil erleiden, nämlich die weitgehende Degradierung zu bloßen Rohstofflieferanten, die aus geopolitischen Motiven von anglo-amerikanischer Seite betrieben wurde.
Heute, fast zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer und rund zehn Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion, befindet sich die Idee der Eurasischen Landbrücke schon mitten im Prozeß der Verwirklichung. LaRouche und das Schiller-Institut haben dazu entscheidende wirtschaftstheoretische, philosophische und kulturelle Konzepte beigetragen und durch viele Konferenzen und Seminare den Werdeprozeß der Landbrücke immer wieder vorangebracht. Heute sind die Shanghaier Organisation für Kooperation (SCO), die Eurasische Transportunion und die Konsolidierung des Strategischen Dreiecks Rußland-China-Indien Elemente des Rahmens, in dem die Eurasische Landbrücke gedeihen kann.
Die moralische Dimension
Wenn Deutschland sich auf seine traditionelle Rolle als Exporteur vor allem von Hochtechnologie besinnt, dann bilden die gigantischen Weiten des eurasischen Raumes einen schier unerschöpflichen Markt für deutsche Erzeugnisse. Die mögliche Rettung des Transrapid als potentieller "Exportschlager" auf dem Umweg über China sollte unserer Vorstellungskraft Flügel verleihen. Für die Eurasische Landbrücke werden bald Transrapidstrecken von Hunderttausenden von Kilometern notwendig sein. Die Wirtschaftsbelebung auf allen Seiten wird die Fortschritte unter dem Marshall-Plan weit in den Schatten stellen. Hier liegt die Zukunft Deutschlands.
Aber neben der wirtschaftlichen gibt es noch eine moralische und kulturelle Dimension. Wenn man sich erst einmal von der Fiktion der "Shareholder-Value-Gesellschaft", der persönlichen Profitmaximierung um jeden Preis befreit hat - und das werden die "Märkte" in kurzer Zeit selbst besorgen - , dann sieht man plötzlich, wie selbstverständlich und leicht alle Not und drückende Armut auf der Welt beseitigt werden könnte. Wir haben alle dazu notwendigen Technologien. Zahlreiche historische Präzedenzfälle demonstrieren, wie der Lebensstandard der Bevölkerung durch langfristige Investitionen in das Gemeinwohl betreffende Bereiche umfassend gehoben werden kann. Diese Erfahrung sollten wir in Eurasien anwenden.
Wenn in den kommenden Erschütterungen des systemischen Zusammenbruchs die mit der Globalisierung assoziierten Axiome ihrer Grundlage beraubt werden, wird dies zugleich eine Chance der Menschheit für eine völlige Neugestaltung bedeuten. Aber so wie ein Sprung über den Abgrund mißlingt, wenn er zu kurz angesetzt ist, so müssen auch die alten Annahmen vollständig durch neue ersetzt werden. Wenn die Nationen die Krise überwinden wollen, dann wird ihnen nur übrigbleiben, zu völlig neuen Gewohnheiten und Gesetzen des Lebens überzugehen. Sie müssen die Produktion realer Güter drastisch erhöhen und sie den Bedürfnissen der Milliarden lebender Menschen anpassen - also genau das Gegenteil der Globalisierung, die nur der "goldenen Milliarde" (bisher) ein menschenwürdiges Leben ermöglichte, und auch das Gegenteil der "nachindustriellen Gesellschaft", die versucht, die Bevölkerungszahl auf die reduzierten Möglichkeiten dieser destruktiven Utopie zu senken.
Die Anpassung der physischen Produktion an die Bedürfnisse der real lebenden Menschen ist aber nur möglich, wenn die Arbeitseffizienz durch die Anwendung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts drastisch erhöht wird. Gerade wenn man bedenkt, wie in den rund 30 Jahren neoliberalen Paradigmenwandels im Westen das Ziel dieses Fortschritts zugunsten der Spekulation aufgegeben wurde, wird deutlich, welch enormes Potential das große Reservoir an Wissenschaftlern aus Rußland und den GUS-Staaten darstellt.
Das Ende der Spaßgesellschaft
Das Zeitalter der Eurasischen Landbrücke erfordert auch, mit Rußland, China, Indien und den anderen Staaten eine neue Form der geistigen Gemeinschaft zu finden, weil selbst eine auf gegenseitigen wirtschaftlichen Vorteil gegründete Zweckgemeinschaft nicht genügt. Die Nationen Eurasiens müssen sich auf das Universelle in ihrer jeweiligen Kultur besinnen und es wiederbeleben, weil man nur so die Grundlage für das Empfinden einer höheren Ordnung finden kann, die alle Teile der Menschheit verbindet. Es muß also eine seelische Kulturqualität dazu kommen, eine leidenschaftliche Liebe zur Idee der Völkergemeinschaft.
Wir brauchen also eine neue Idee vom Menschengeschlecht, Menschen, die nicht vom blanken Egoismus und Erwerbsgier getrieben sind, sondern von innen her bestimmt sind. Nun höre ich schon den Aufschrei vieler Bundesbürger: "Aber die Menschen werden sich niemals ändern, die Menschen werden egoistisch bleiben, die wollen doch nur Spaß haben!" Das ist genau der Punkt: Die materiellen Grundlagen der Spaßgesellschaft werden in kurzer Zeit hinweggefegt werden, und dann steht die moralische Substanz der Gesellschaft auf dem Prüfstand. Wenn die Menschen nicht ihren Egoismus aufgeben und sich dem Gemeinwohl zuwenden können, dann wird nur das Chaos übrigbleiben, und ein noch weit schlimmerer Absturz als in den 30er Jahren wird die Folge sein.
Nicht nur die Globalisierung ist gescheitert, gerade auch die "Spaßgesellschaft" hat versagt. Wer hat nicht in seinem Bekanntenkreis ein alterndes Ehepaar der 68er-Generation, deren Sohn oder Tochter im Teenageralter (Kinder hat man schließlich erst kurz vor der biologischen Barriere bekommen) von der Drogenszene bedroht sind, dem hirnlosen Druck ihrer Altersgenossen nachgeben, jeden Designertrend mitzumachen oder im Milieu abstruser Randgruppen versackt sind? Wenn diese Eltern noch einen Funken von Realitätsbezug haben, dann sind sie meist verzweifelt, weil sie den Zugang zu ihren Kindern verloren haben. Die Globalisierung hat uns eine Welt ohne Seele gebracht, die Spaßgesellschaft wurde zum Alptraum, aus dem das Aufwachen höchst unsanft erfolgen wird.
Die neue Ära der Eurasischen Landbrücke bedeutet zugleich auch die Chance einer neuen Goldenen Renaissance, wie wir sie zuletzt im 15. Jahrhundert in Italien, aber auch z.B. in Polen und anderen Teilen Europas erlebt haben. Denn leider sind die Menschen bisher nur in schweren Krisen bereit, sich mit großen Entwürfen auseinanderzusetzen. In den kommenden Erschütterungen sollten wir uns daran erinnern, wie Schiller in seiner Schrift Die Gesetzgebung des Solon und Lykurg den "Zweck der Menschheit" definiert - nämlich als "Fortschreitung". Nicht der maximale Spaß im hier und jetzt ist das Ziel, sondern eine zivilisiertere Menschheit und die größere Freiheit und fortschreitende Vergrößerung des Spielraums, innerhalb derer der einzelne seine geistigen Kräfte entfalten kann.
In dieser neuen Epoche können wir auch die Chance wahrnehmen, die 1989 verpaßt wurde: nämlich die Erringung der Souveränität Deutschlands. Eine vollkommene Neukonzeption der deutschen Außenpolitik muß an die Stelle des bisherigen "Statthaltertums" im Dienste der Besatzungsmächte treten: eine eigene Zielsetzung, getragen von einer Vision der positiven Identität Deutschlands im 21. Jahrhundert. Deutsche Interessen bedeuten nicht die flachköpfige und engherzige Verteidigung der vermeintlichen Privilegien in einem System, das die Menschheit in eine "goldene Milliarde" und fünf Milliarden, die eben Pech gehabt haben, unterteilt. Wenn wir das verstehen und statt dessen die frohe Identität jener Dichter und Denker übernehmen, die nie Angst haben, mit anderen zu teilen, weil sie darauf vertrauen, daß sie auch morgen einen kreativen Gedanken haben werden, der die Welt insgesamt reicher macht - dann ist das Problem gelöst.
Eines ist gewiß: Wir stehen vor Umwälzungen, von denen sich die meisten Zeitgenossen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal annähernd eine Vorstellung machen können. Mit der Eurasischen Landbrücke bietet sich darin eine Chance für Deutschland und die Welt.