SZ vom 11.10.2000 Politik
Todfeinde im Heiligen Land
Jüdische Siedler und junge Palästinenser schenken einander nichts
Jerusalems Bürgermeister Ehud Olmert, Mitglied von Ariel Sharons Likud-Block, ist nicht gerade als Feind jüdischer Siedler bekannt. Wenn ein Mann wie Olmert seine Landsleute im Westjordanland und im Gazastreifen zur Zurückhaltung auffordert, muss die Situation ernst sein. Tatsächlich sind jüdische Siedler Teil des Krieges geworden. Dabei haben sie sich als gelehrige Schüler der palästinensischen Jugend erwiesen: Auf der Straße von Ramallah nach Nablus attackieren sie Autos mit Steinen, aber auch mit Schusswaffen. Inzwischen ist diese Passage zwischen den beiden großen Städten im Norden des Westjordanlandes so gefährlich geworden, dass viele auf Nebenstraßen ausweichen.
Israelis aus der Siedlung Psagot oberhalb von Al-Bireh, der Schwesterstadt
Ramallahs, haben Einwohner Al-Birehs zur Evakuierung ihrer Häuser veranlasst. Eine palästinensische Familie, die in der Nähe der Siedlung wohnt, wurde durch Schüsse aus der Siedlung verletzt – die Frau an den Augen, der Mann in Brust und Bauch. Am letzten Wochenende hat es erste Todesopfer gegeben. Nach palästinensischen Angaben wurde der 23-jährige Mustafa Abu Bakar auf einer der großen Durchgangsstraßen von Siedlern so schwer verletzt, dass er starb; hätten Siedler die Krankenwagen nicht aufgehalten, wäre er am Leben geblieben. In der Nähe von Ramallah wurde kurz darauf die Leiche des 25 Jahre alten Palästinensers Ali Ishak gefunden. Palästinenser behaupten, er sei von Siedlern ermordet worden.
Bei Nablus dann fand die israelische Armee das erste Siedleropfer – Hillel
Lieberman, einen entfernten Verwandten von Joseph Lieberman,des demokratischen Kandidaten für die US-Vizepräsidentschaft. In der geteilten Stadt Hebron, in der etwa 400 Siedler unter 120 000 Palästinensern leben, attackierten Siedler palästinensische Geschäfte. Nach Aussagen von Palästinensern in Ramallah fallen bewaffnete jüdische Siedler immer wieder über palästinensische Höfe und Dörfer her. Diese Angabe wird von der israelischen Zeitung Haaretz bestätigt. Die israelische Armee und der Geheimdienst Schin Beth machen die Zerstörung des Josephgrabes in Nablus durch Palästinenser für den Zorn der Siedler verantwortlich. Die palästinensische Autonomiebehörde hat inzwischen ihr Bedauern über die Zerstörung ausgesprochen und den Wiederaufbau versprochen. Allerdings ist ein Aufruf Jassir Arafats zur Beendigung der Gewalt bisher ausgeblieben. Vielmehr verteilen besonders die jüngeren Mitglieder der Fatah-Organisation, Arafats Hausmacht, Flugblätter, welche den Aufruhr anheizen.
Da wird zum Beispiel zu einem „Volkskrieg“ gegen Israel aufgerufen. In einem
„Appell Nummer 1“ heißt es, dass es keine Stimme gibt, die wichtiger ist „als die Stimme der Intifada und die Stimme Jerusalems“. Diese Flugblätter stammen nicht aus der engen Umgebung Arafats, sondern von lokalen Führern. Bei der ersten Intifada, die 1987 begann und mehrere Jahre dauerte, saß Arafat noch im Exil in Tunis. Gezwungenermaßen musste er die Führung den jungen Leuten in den besetzten Gebieten überlassen. Inzwischen hat Arafat zwar in Palästina Quartier bezogen, aber wie einst muss er auf die Untergrundführer der Intifada Rücksicht nehmen. Arafats junge Garde gegen israelische Siedler – so leicht werden diese Todfeinde nicht mehr zu trennen sein.
Heiko Flottau