Pressespiegel vom 22.11.2002
1. Aufmacherthemen und Überblick
Geschlossen titeln die Pariser Blätter mit den Barrikaden der Bauern und
den kommenden sozialen Konflikten. Abweichend macht Le Monde mit einer
Untersuchung über die "neuen Reaktionäre" unter den Intellektuellen auf.
Die innenpolitischen Seiten und Leitartikel werden beherrscht von der
Debatte um die massiv aufbrechenden Sozialkonflikte und die Rolle der
Regierung Raffarin.
International steht neben dem Jerusalemer Selbstmordattentat, über das
ausführlich aber kommentarlos berichtet wird, der gestrige NATO-Gipfel in
Prag und namentlich dessen Bezug zur Irak-Frage im Vordergrund.
Europapolitisch berichtet Les Echos über Erdogans "Charmeoffensive" in
Straßburg; weiterhin wird die Ablösung von Moscovici im Konvent durch
Außenminister de Villepin gemeldet.
Aus Deutschland berichtet Les Echos über die Rürup-Kommission zur Reform
der Sozialversicherung.
2. Innenpolitik
Zu den Sozialkämpfen schreibt Liberation im Leitartikel, es entbehre nicht
gewisser Ironie, dass ausgerechnet der mit der "Chiracquie" verbundene
Bauernverband die Regierung Raffarin aufs Korn nehme, wohlwissend wie sehr
diese das "Juppe-Syndrom" vom Dezember 1995 fürchte. Premierminister
Raffarin werde trotz seiner guten Umfragewerte nicht lange zuwarten,
sondern die Bauern wissen lassen, dass bei Chirac im Elysee ihre
Forderungen nicht auf taube Ohren stießen. Den Transportunternehmern werde
er nahelegen, etwas mehr nachzugeben, bevor nächste Woche Eisenbahner und
andere für den Erhalt des öffentlichen Dienstes auf die Straße gehen
würden. Raffarin müsse Minen räumen, um dem Image der Regierung nicht zu
schaden.
Les Echos beklagt hingegen im Leitartikel, anstatt zu verhandeln würden
privatwirtschaftliche Konflikte zunehmend mittels Geiselnahme an
Autofahrern oder Verbrauchern öffentlich ausgetragen. Die Regierung werde
zur Übernahme der Schiedsrichterrolle erpresst. Andernorts in Europa
selten seien derartige Blockaden in Frankreich die Regel. Dank der
Passivität der Franzosen und ihrer Regierungen zahle letztlich der
Steuerzahler die Zeche mit mehr oder weniger versteckten Subventionen,
eine unerträgliche Praxis.
Im Gegensatz dazu schreibt L'Humanite im Leitartikel, die Bauern
verlangten zurecht einen höheren Anteil. Die jährlich steigenden Profite
entlarvten die großen Handelsketten als wahre Blutsauger. Für
Premierminister Raffarin sei mit den Ausständen der Bauern, Fernfahrer,
Eisenbahner und Beamten die Stunde der Wahrheit gekommen.
Le Figaro porträtiert die Haltung von Premierminister Raffarin: angesichts
der Blockaden durch Bauern und Fernfahrer gebe er sich fest und zugleich
menschlich. Von Dramatisierung halte er nichts, sie verhindere eine Lösung
und sei das Eingeständnis eigener Schwäche. Raffarin sei
konsensorientiert, werfe aber gegebenenfalls seine politische Existenz in
die Waagschale. Er sei eine "Dampfwalze mit Nase und Augen".
La Croix geht im Editorial allgemein auf die Lage der Regierung ein und
meint, der Himmel verdüstere sich über Paris. Zwar habe der "Effekt
Sarkozy" das Gefühl mangelnder Sicherheit abgeschwächt, dank Chirac und de
Villepin habe Frankreich seine diplomatische Rolle wiedergewonnen, und
schließlich sei eine Sammlungspartei der Rechten errichtet. Wirtschaftlich
und sozial aber müsse man sich Sorgen machen. Finanzminister Mer habe
bisher keine Spuren in den Köpfen und in der Wirklichkeit hinterlassen.
Die Bedeutung der Wirtschaftspolitik werde in Frankreich nur eingeschränkt
wahrgenommen, ihre Fakten schlicht und einfach verdrängt.
3. International
Der Verlauf des NATO-Rats in Prag wird von den Blättern in erster Linie
hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Irak-Politik der Verbündeten
bewertet; Le Monde geht auf die längerfristigen Perspektiven der Allianz
ein.
In Le Figaro schreibt de Barochez, Frankreich behalte sich im Falle eines
Kriegs gegen Irak seine eigene Ermessensfreiheit vor. Über eine Teilnahme
seiner Truppen werde Frankreich erst im letzten Moment entscheiden.
Abwartende Haltung sei die Antwort Chiracs an Bush während 40 Minuten
Unterredung am Rande des Gipfels. Im Grunde bestünden die
Meinungsunterschiede fort, die schon den rüden diplomatischen Streit um
die Entschließung des VN-Sicherheitsrat geprägt hätten. Wörtlich schreibt
das Blatt, NATO Generalsekretär Robertson habe gelogen, wenn er behaupte,
der Text des Kommunikees sei in keiner Weise abgeschwächt worden. Nach
Aussage eines deutschen Diplomaten hätten vielmehr Frankreich und
Deutschland verhindert, dass die Irak-Erklärung vom Vorgehen abweiche, wie
es die VN-Resolution in zwei Schritten vorsehe.
Les Echos meint, Präsident Bush habe immerhin eine wichtige Unterstützung
erhalten, das feste politische Engagement der Verbündeten auf der
Grundlage der jüngsten VN-Resolution, und dies trotz wichtiger
Meinungsunterschiede vor allem zwischen Washington und Berlin über die
eventuelle Anwendung von Gewalt. Ein weiterer Teilerfolg der Amerikaner
sei die Schaffung einer schnellen Eingreiftruppe. Staatspräsident Chirac
habe sich dafür ausgesprochen, sofern dies nicht die Fähigkeit der
Europäer beeinträchtige, zu einer eigenen gemeinsamen Verteidigung zu
gelangen.
Liberation hebt hervor, der Irak habe zwar den sieben Beitrittskandidaten
Osteuropas die Schau gestohlen, aber es sei den USA nicht gelungen, ihren
harten Konfrontationskurs den europäischen Verbündeten, allen voran
Staatspräsident Chirac, aufzuzwingen. Abgesehen von der Irak-Frage
markiere der Prager Gipfel die nahezu vollständige Wiedervereinigung
Europas, parallel zu derjenigen in der EU.
Auf diesen Aspekt geht Le Monde ausführlich im Leitartikel ein und
schreibt, noch vor wenigen Jahren wäre unvorstellbar gewesen, dass
ehemalige Sowjetrepubliken ohne vehementen Protest Moskaus der NATO
beitreten. Europa werde schneller im Schoß der Allianz "unter dem
Hirtenstab der USA" vereinigt, als unter den schwierigen
Beitrittsbedingungen der EU. Noch paradoxer sei die Lage insoweit, als
sich Umfeld und mögliche Bedrohung völlig gewandelt hätten. Wenn aber die
NATO nicht die angemessenen Mittel gegen die Gefahren von morgen
aufbringe, dann sei das Bündnis zum langsamen Untergang verurteilt, auch
wenn es sich weiterhin ausbreite. Deshalb drängten die USA zu erhöhten
Militärausgaben, da ihre Verbündeten sonst nutzlos oder gar stören würden.
Das amerikanische Programm wäre freilich überzeugender, wenn es auf
gemeinsamer Analyse und Vision beruhte.
An anderer Stelle schreibt Le Monde in diesem Zusammenhang, bei Airbus
sehe man in der Kritik aus Washington an unzureichenden strategischen
Lufttransportkapazitäten in Europa und in dem Vorschlag, zunächst
"vorübergehend" die verfügbare Boeing C17 einzusetzen, den Versuch, den
A400M aus dem Markt zu drängen.
Mit einem Zukunftsaspekt der Irak-Frage beschäftigt sich La Croix im
Kommentar und setzt sich dafür ein, nach einem Krieg und dem Sturz des
irakischen Regimes Saddam Hussein wie Milosevic vor dem Internationalen
Strafgerichtshof zu verurteilen, auch wenn das Thema in Frankreich tabu
sei.
4. Europa
4.1. Liberation schreibt, Erdogan habe seine "Charmeoffensive" beim
Europäischen Parlament in Straßburg fortgesetzt. Die Europäer fühlten sich
jedoch zunehmend unwohl, trotz allen offiziellen Wohlwollens. Nach der
Analyse von Cohn-Bendit gebe es nationale Bruchlinien: je euroskeptischer
man sei, desto mehr trete man für den Beitritt der Türkei ein.
4.2. Le Figaro und Liberation melden, Außenminister de Villepin löse
Moscovici als Vertreter von Frankreich im Konvent über die Zukunft Europas
ab.
5. Deutschland
Les Echos berichtet über die Vorstellung der Rürup-Kommission zur Reform
der Sozialversicherung. Sie könne zwar den sinkenden Stern von
Bundeskanzler Schröder aufpolieren, Rürup könne aber Ergebnisse nur im
Konsens mit einer Regierung erzielen, die als zunehmend im Griff
korporativer Interessengruppen wahrgenommen werde.
(Quelle: Pressereferat der Deutschen Botschaft Paris)
1. Aufmacherthemen und Überblick
Geschlossen titeln die Pariser Blätter mit den Barrikaden der Bauern und
den kommenden sozialen Konflikten. Abweichend macht Le Monde mit einer
Untersuchung über die "neuen Reaktionäre" unter den Intellektuellen auf.
Die innenpolitischen Seiten und Leitartikel werden beherrscht von der
Debatte um die massiv aufbrechenden Sozialkonflikte und die Rolle der
Regierung Raffarin.
International steht neben dem Jerusalemer Selbstmordattentat, über das
ausführlich aber kommentarlos berichtet wird, der gestrige NATO-Gipfel in
Prag und namentlich dessen Bezug zur Irak-Frage im Vordergrund.
Europapolitisch berichtet Les Echos über Erdogans "Charmeoffensive" in
Straßburg; weiterhin wird die Ablösung von Moscovici im Konvent durch
Außenminister de Villepin gemeldet.
Aus Deutschland berichtet Les Echos über die Rürup-Kommission zur Reform
der Sozialversicherung.
2. Innenpolitik
Zu den Sozialkämpfen schreibt Liberation im Leitartikel, es entbehre nicht
gewisser Ironie, dass ausgerechnet der mit der "Chiracquie" verbundene
Bauernverband die Regierung Raffarin aufs Korn nehme, wohlwissend wie sehr
diese das "Juppe-Syndrom" vom Dezember 1995 fürchte. Premierminister
Raffarin werde trotz seiner guten Umfragewerte nicht lange zuwarten,
sondern die Bauern wissen lassen, dass bei Chirac im Elysee ihre
Forderungen nicht auf taube Ohren stießen. Den Transportunternehmern werde
er nahelegen, etwas mehr nachzugeben, bevor nächste Woche Eisenbahner und
andere für den Erhalt des öffentlichen Dienstes auf die Straße gehen
würden. Raffarin müsse Minen räumen, um dem Image der Regierung nicht zu
schaden.
Les Echos beklagt hingegen im Leitartikel, anstatt zu verhandeln würden
privatwirtschaftliche Konflikte zunehmend mittels Geiselnahme an
Autofahrern oder Verbrauchern öffentlich ausgetragen. Die Regierung werde
zur Übernahme der Schiedsrichterrolle erpresst. Andernorts in Europa
selten seien derartige Blockaden in Frankreich die Regel. Dank der
Passivität der Franzosen und ihrer Regierungen zahle letztlich der
Steuerzahler die Zeche mit mehr oder weniger versteckten Subventionen,
eine unerträgliche Praxis.
Im Gegensatz dazu schreibt L'Humanite im Leitartikel, die Bauern
verlangten zurecht einen höheren Anteil. Die jährlich steigenden Profite
entlarvten die großen Handelsketten als wahre Blutsauger. Für
Premierminister Raffarin sei mit den Ausständen der Bauern, Fernfahrer,
Eisenbahner und Beamten die Stunde der Wahrheit gekommen.
Le Figaro porträtiert die Haltung von Premierminister Raffarin: angesichts
der Blockaden durch Bauern und Fernfahrer gebe er sich fest und zugleich
menschlich. Von Dramatisierung halte er nichts, sie verhindere eine Lösung
und sei das Eingeständnis eigener Schwäche. Raffarin sei
konsensorientiert, werfe aber gegebenenfalls seine politische Existenz in
die Waagschale. Er sei eine "Dampfwalze mit Nase und Augen".
La Croix geht im Editorial allgemein auf die Lage der Regierung ein und
meint, der Himmel verdüstere sich über Paris. Zwar habe der "Effekt
Sarkozy" das Gefühl mangelnder Sicherheit abgeschwächt, dank Chirac und de
Villepin habe Frankreich seine diplomatische Rolle wiedergewonnen, und
schließlich sei eine Sammlungspartei der Rechten errichtet. Wirtschaftlich
und sozial aber müsse man sich Sorgen machen. Finanzminister Mer habe
bisher keine Spuren in den Köpfen und in der Wirklichkeit hinterlassen.
Die Bedeutung der Wirtschaftspolitik werde in Frankreich nur eingeschränkt
wahrgenommen, ihre Fakten schlicht und einfach verdrängt.
3. International
Der Verlauf des NATO-Rats in Prag wird von den Blättern in erster Linie
hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Irak-Politik der Verbündeten
bewertet; Le Monde geht auf die längerfristigen Perspektiven der Allianz
ein.
In Le Figaro schreibt de Barochez, Frankreich behalte sich im Falle eines
Kriegs gegen Irak seine eigene Ermessensfreiheit vor. Über eine Teilnahme
seiner Truppen werde Frankreich erst im letzten Moment entscheiden.
Abwartende Haltung sei die Antwort Chiracs an Bush während 40 Minuten
Unterredung am Rande des Gipfels. Im Grunde bestünden die
Meinungsunterschiede fort, die schon den rüden diplomatischen Streit um
die Entschließung des VN-Sicherheitsrat geprägt hätten. Wörtlich schreibt
das Blatt, NATO Generalsekretär Robertson habe gelogen, wenn er behaupte,
der Text des Kommunikees sei in keiner Weise abgeschwächt worden. Nach
Aussage eines deutschen Diplomaten hätten vielmehr Frankreich und
Deutschland verhindert, dass die Irak-Erklärung vom Vorgehen abweiche, wie
es die VN-Resolution in zwei Schritten vorsehe.
Les Echos meint, Präsident Bush habe immerhin eine wichtige Unterstützung
erhalten, das feste politische Engagement der Verbündeten auf der
Grundlage der jüngsten VN-Resolution, und dies trotz wichtiger
Meinungsunterschiede vor allem zwischen Washington und Berlin über die
eventuelle Anwendung von Gewalt. Ein weiterer Teilerfolg der Amerikaner
sei die Schaffung einer schnellen Eingreiftruppe. Staatspräsident Chirac
habe sich dafür ausgesprochen, sofern dies nicht die Fähigkeit der
Europäer beeinträchtige, zu einer eigenen gemeinsamen Verteidigung zu
gelangen.
Liberation hebt hervor, der Irak habe zwar den sieben Beitrittskandidaten
Osteuropas die Schau gestohlen, aber es sei den USA nicht gelungen, ihren
harten Konfrontationskurs den europäischen Verbündeten, allen voran
Staatspräsident Chirac, aufzuzwingen. Abgesehen von der Irak-Frage
markiere der Prager Gipfel die nahezu vollständige Wiedervereinigung
Europas, parallel zu derjenigen in der EU.
Auf diesen Aspekt geht Le Monde ausführlich im Leitartikel ein und
schreibt, noch vor wenigen Jahren wäre unvorstellbar gewesen, dass
ehemalige Sowjetrepubliken ohne vehementen Protest Moskaus der NATO
beitreten. Europa werde schneller im Schoß der Allianz "unter dem
Hirtenstab der USA" vereinigt, als unter den schwierigen
Beitrittsbedingungen der EU. Noch paradoxer sei die Lage insoweit, als
sich Umfeld und mögliche Bedrohung völlig gewandelt hätten. Wenn aber die
NATO nicht die angemessenen Mittel gegen die Gefahren von morgen
aufbringe, dann sei das Bündnis zum langsamen Untergang verurteilt, auch
wenn es sich weiterhin ausbreite. Deshalb drängten die USA zu erhöhten
Militärausgaben, da ihre Verbündeten sonst nutzlos oder gar stören würden.
Das amerikanische Programm wäre freilich überzeugender, wenn es auf
gemeinsamer Analyse und Vision beruhte.
An anderer Stelle schreibt Le Monde in diesem Zusammenhang, bei Airbus
sehe man in der Kritik aus Washington an unzureichenden strategischen
Lufttransportkapazitäten in Europa und in dem Vorschlag, zunächst
"vorübergehend" die verfügbare Boeing C17 einzusetzen, den Versuch, den
A400M aus dem Markt zu drängen.
Mit einem Zukunftsaspekt der Irak-Frage beschäftigt sich La Croix im
Kommentar und setzt sich dafür ein, nach einem Krieg und dem Sturz des
irakischen Regimes Saddam Hussein wie Milosevic vor dem Internationalen
Strafgerichtshof zu verurteilen, auch wenn das Thema in Frankreich tabu
sei.
4. Europa
4.1. Liberation schreibt, Erdogan habe seine "Charmeoffensive" beim
Europäischen Parlament in Straßburg fortgesetzt. Die Europäer fühlten sich
jedoch zunehmend unwohl, trotz allen offiziellen Wohlwollens. Nach der
Analyse von Cohn-Bendit gebe es nationale Bruchlinien: je euroskeptischer
man sei, desto mehr trete man für den Beitritt der Türkei ein.
4.2. Le Figaro und Liberation melden, Außenminister de Villepin löse
Moscovici als Vertreter von Frankreich im Konvent über die Zukunft Europas
ab.
5. Deutschland
Les Echos berichtet über die Vorstellung der Rürup-Kommission zur Reform
der Sozialversicherung. Sie könne zwar den sinkenden Stern von
Bundeskanzler Schröder aufpolieren, Rürup könne aber Ergebnisse nur im
Konsens mit einer Regierung erzielen, die als zunehmend im Griff
korporativer Interessengruppen wahrgenommen werde.
(Quelle: Pressereferat der Deutschen Botschaft Paris)