Das Ergebnis von 4 Jahren Krisenbewältigung
„Die Krise ist zurück!“
Zwischendurch soll sie nämlich schon quasi weg gewesen sein. Und nach einer beliebten Lesart ist es auch nicht mehr die Finanzkrise von 2008, sondern eine ganz neue Staatsschuldenkrise. Die wird freilich in Europa auch schon seit mindestens eineinhalb Jahren bekämpft. Jetzt jedenfalls ist sie voll da. Seit Griechenland von seinen Euro-Partnern und dem IWF Kredit bekommen hat und die verlangten Maßnahmen zur Sanierung seines Haushalts tapfer voranbringt, sind nicht nur dort die Zahlungsnöte der Regierung immer größer geworden. Auch das Geschäft mit Staatsanleihen der gleichfalls mit Kredithilfen unterstützten und mit harten Sparmaßnahmen befassten Euro-Länder Irland und Portugal ist inzwischen total eingebrochen; die Zinsen bzw. Risikozuschläge für Staatsanleihen Spaniens und Italiens erreichen unvertretbare Höchstwerte. Jenseits des Atlantik steht es auch nicht gut: Da vergreift sich eine der drei wichtigen Rating-Agenturen am Goldstandard aller Staatsanleihen, den Treasuries der USA, erkennt ihnen nurmehr die Note „AA+“ zu und schickt damit die „Börsen auf Talfahrt“, die dann wie eine „Achterbahn“ aussieht. In lauter besonderen Fällen, die angeblich bei näherer Betrachtung nichts miteinander zu tun haben, sowie überhaupt ganz generell und im Allgemeinen macht sich ein Übel bemerkbar, das als entscheidender Krisengrund gilt: Gerade in den klassischen Zentren des Weltkapitalismus ist die Staatsverschuldung zu hoch.
Hinzu kommt: Mit der Weltkonjunktur sieht es gar nicht gut aus. Amerika steht womöglich vor einer zweiten Rezession; Deutschland, dem Boom-Staat der letzten Monate, drohen die Absatzmärkte wegzubrechen, auf denen seine Industrie zuletzt immer besser verdient hat. Schuld daran und an den mittelfristig schlechten Aussichten sind nach verbreiteter Einschätzung nicht zuletzt die Sparbemühungen vieler Staaten, insbesondere der USA sowie in Europa, aber auch der VR China. Die Regierungen dort fügen sich dem ökonomischen Sachzwang und erlegen sich die Pflicht auf, ihre Staatsschulden abzubauen oder zumindest die Zunahme der Staatsverschuldung zu bremsen – und das ist „Gift für den Aufschwung“, dieses zarte Pflänzchen.
Eine dumme Sache, so eine Krise.
Europas Staatsschulden sind also zu hoch. Fragt sich nur:
Zu hoch für wen? Und für welchen Zweck?
Im Fall Griechenland sieht die Sache eindeutig aus: Die Haushaltsschulden des Staates sind zu hoch, als dass die Regierung noch für ihre Bedienung geradestehen könnte. Oder dasselbe umgekehrt: Der Staat nimmt zu wenig ein, um seinen Schuldenhaushalt noch fortzuführen, also die fälligen Ausgaben für Gehälter und Zinsen, Schuldentilgung und Renten usw. noch leisten zu können. Jedenfalls ist er praktisch zahlungsunfähig. Diese Unfähigkeit, der Mangel an benötigtem Geld, hat allerdings einen wesentlichen Grund, der gar nicht bei der griechischen Regierung und in deren Haushaltsdefizit liegt: Die Finanzmärkte sind – aus ihren Gründen – nicht mehr bereit, das Defizit zu finanzieren, also den Staat mit dem Geld auszustatten, das er braucht und seine Steuerbehörden nicht herbeischaffen. Sie sind insbesondere nicht mehr bereit, das bei Staatsanleihen – und nicht nur da – übliche Verfahren fortzuführen und die Bezahlung von Zinsen und fälligen Forderungen mit neuen Krediten und der Vermarktung neuer Staatsanleihen sicherzustellen. Oder sie wären dazu bereit, aber nur zu Bedingungen, die den griechischen Staatshaushalt so belasten würden, dass sich endgültig kein Kreditgeber mehr dafür finden würde. Zu hoch ist die griechische Staatsverschuldung also fürs Finanzkapital, nämlich für dessen Kalkül mit Sicherheit und Rendite seiner eigenen Handelsware, der Schuldpapiere aus Athen.
Bei dieser Risikoabschätzung richten die Rating-Agenturen und die Investoren ihren kritischen Blick natürlich – wohin auch sonst! – auf ihren Kunden. Sie taxieren dessen Einnahmen und Ausgaben, im Fall eines Staates also Steueraufkommen und Wirtschaftswachstum auf der einen, Kosten der Staatstätigkeit und aufgelaufene Verbindlichkeiten auf der anderen Seite. Sie verlängern ihre Befunde in die Zukunft, wobei sie die verschiedensten Faktoren, nicht zuletzt ihr Urteil über die Politik der Regierung und deren Personal, berücksichtigen. Aus ihren Ermittlungsergebnissen leiten die Finanzinstitute ihre Entscheidungen ab; im Fall Griechenlands aus ihrer Einschätzung, dass bei diesem Staat das Verhältnis zwischen Steuereinnahmen, Ausgaben und deswegen nötiger Kreditaufnahme nicht in Ordnung ist und sich weiter verschlechtern dürfte; nicht zuletzt deswegen, weil sie für so einen Haushalt allenfalls kurzfristig und gegen extra hohe Zinsen Geld hergeben. Für sie ist der griechische Staat kreditunwürdig, und damit ist er zahlungsunfähig. Und so ist es auch ganz in Ordnung: Unter den Bedingungen eines perfekt entwickelten Kreditsystems sind die finanziellen Fähigkeiten eines Schuldners nicht mehr einfach eine Frage seiner Geldeinnahmen und -ausgaben, sondern von der professionellen Bewertung seines Geschäftsmodells abhängig. Und das gilt erst recht bei Staaten, die den Finanzmärkten kein Geschäft, sondern ihre Herrschaft über ein nationales Geschäftsleben als Sicherheit zu bieten haben. Deren finanzielle Handlungsfreiheit, also die Verfügung über Mittel, die sich zur Steigerung der Effizienz ihrer Herrschaft einsetzen lassen, hängt von ihrer Kreditwürdigkeit ab. Und die ist eine Ermessensfrage, die das internationale Kreditgewerbe nicht bloß einmal, sondern permanent aufwirft und nach kritischer Prüfung von Chancen und Risiken beantwortet – letzteres übrigens nie in einem aus ökonomischer Vernunft erwachsenden Einvernehmen der Investoren, sondern auf dem Wege einer Konkurrenz der Kreditgeber um eine optimale Kombination von Risiko und Ertrag. Der freiheitliche Wettstreit finanzkapitalistischer Geschäftsmodelle ist die ehrenwerte Entscheidungsinstanz, die über die Zahlungs/un/fähigkeit der Staaten befindet. Jeder nachfolgende europäische Problemfall macht das noch deutlicher: Was Irland und Portugal an den Rand des Bankrott treibt, was mittlerweile die Zahlungsfähigkeit Spaniens und Italiens gefährdet, das ist kein unvermutetes neues Defizit im Haushalt dieser Länder – die Lücken im Staatshaushalt werden im Gegenteil mit massiven Sparprogrammen gesenkt –, sondern die von Woche zu Woche oder sogar täglich revidierte Einschätzung des Risikos, mit dem Finanzinvestoren da zu rechnen haben.
So ähnlich nehmen das übrigens die Öffentlichkeit und die amtierenden Verantwortlichen in den betroffenen Ländern wahr. Die beklagen sich heftig über die Ungerechtigkeit der Rating-Agenturen, die die nationalen Sparanstrengungen nicht würdigen, und über den Irrsinn der Märkte, die von einer Übertreibung in die nächste fallen. Damit handeln sie sich dann den Gegenvorwurf verantwortungsloser Schuldenmacherei in der Vergangenheit ein; und so geht die Diskussion der Schuldfrage ihren Gang. Darüber geht dann endgültig eine nicht unwesentliche sachliche Unterscheidung verloren: Mit ihren Defiziten, ihrem Mangel an Finanzmitteln ständen die Staaten überhaupt dumm da, wenn das Kreditgewerbe nicht willens und in der Lage wäre, Finanzmittel zu liefern und die aufgeschriebenen Forderungen als zinstragendes Geldkapital anzuerkennen und als solches: als Quellen eines Vermögenszuwachses zu vermarkten. Die Finanzinstitute stellen die Ware bereit, die die Staaten brauchen, nämlich das Geld von Investoren; sie decken den Bedarf – und zwar im Prinzip jeden, gemäß ihrem Risikokalkül –, den die Staaten bei ihnen anmelden, aus eigenen Mitteln und aus dem Weiterverkauf von Wertpapieren. Sie bringen Staatsschulden als Geldkapital in Verkehr, und zwar in großen und immer größeren Mengen; auf der einen Seite deswegen, weil moderne Staaten sich gerne dieser Art der Finanzierung ihrer vielen Aufgaben bedienen. Auf der anderen Seite schätzen Banken und Geldanleger Staaten aufgrund ihrer Hoheit über einen nationalen Kapitalismus als besonders sichere Schuldner. Sie nutzen deren Geldbedarf für Leihgeschäfte und Investitionen, die von vornherein auf die Einlösung von Zahlungspflichten durch immer neue Staatsanleihen berechnet sind. Das steigert das Volumen des Kreditgeschäfts und seine Wachstumspotenzen enorm – mit eindeutigem Ergebnis: Was die Finanzmärkte jetzt den Staaten als Überschuldung vorrechnen, ist ihr Werk und das beachtliche Resultat ihrer Leistungsfähigkeit.
Mit dieser Leistungsfähigkeit, so wie sie sich als Quelle der derzeitigen Überfülle an Geldkapital aus Staatshaushaltsdefiziten betätigt hat, hat es freilich eine besondere Bewandtnis. Die Staaten, deren Schulden jetzt prinzipiell kritisch begutachtet werden, haben daran nicht nur in der Weise mitgewirkt, dass sie das Finanzgeschäft mit reichlich Stoff versorgt haben. Ihr Verdienst ist auch, dass die Finanzmärkte überhaupt noch aktionsfähig sind. Die hatten es schließlich schon vor vier Jahren mit ihrer Lizenz und ihrer ökonomischen Macht, aus Schuldverhältnissen ganze Berge von Geldkapital und auf der Grundlage eine Unmenge „abgeleiteter“ Finanztitel zu schaffen, zu dem gewaltigen Geschäftsvolumen gebracht, dem sie dann nicht mehr getraut und schrittweise die Geschäftsgrundlage entzogen haben, bis von dem im Finanzsektor zentralisierten kapitalistischen Reichtum überhaupt nichts mehr übrig geblieben – wäre, wenn nicht die politische Herrschaft eingegriffen hätte. Und zwar in der Rolle des Financiers, der mit enormen Summen auf eigene Rechnung die vom Finanzkapital abge- und entwerteten Kreditpapiere aufgekauft, in „Bad Banks“ verstaut, die Liquidität der Bankenwelt wiederhergestellt und die Masse bedrohter Geldkapitalvermögen in Geltung gehalten hat. Um der marktwirtschaftlich unverzichtbaren Leistung des Kredits willen haben die Staaten damals als Kreditgeber und Neu-Ausstatter der Finanzwelt die Macht der Branche zur Kreditschöpfung gerettet – und sogleich in Anspruch genommen: Ihren Aufwand haben sie als Defizit verbucht, als Schuldpapier mit Zinsversprechen sachgemäß verbrieft und an Finanzinvestoren verkauft; deren Zahlungsfähigkeit und Kaufbereitschaft haben zugleich die staatlichen Notenbanken mit einer besonders großzügigen Geldpolitik: mit der Ausleihung von Liquidität zu niedrigsten Zinssätzen sichergestellt. An diesen Staatsschulden hat die Branche dann auch prompt ihre wiederbelebte Leistungskraft bewiesen: Sie hat daraus Kapitalanlagen und damit Umsatz und schon wieder viel Wachstum gemacht. Wenn sie das Ergebnis nun pauschal den Staaten als deren Überschuldung vorrechnet und praktisch den schlechtesten Schuldnern zur Last legt, dann beweist sie darüber hinaus, dass auch ihr spekulatives Urteilsvermögen, das immerzu auf den Schuldner reflektiert, wieder voll ins Recht gesetzt worden ist. In der Sache freilich stellt sie sich kritisch zu ihrem eigenen Werk: Sie beurteilt ihre eigene Leistung als zu groß. Mit dem gewerbsmäßigen Gebrauch öffentlicher Schulden hat das Finanzkapital erneut sein Wachstum so weit getrieben, dass ihm angst und bange wird beim Blick auf die Schuldner, die ihm mit ihren Zahlungsversprechen immer neuen Stoff nachliefern wollen und sollen und auch müssen, um den Wert ihrer schon ausgegebenen Anleihen aufrechtzuerhalten. An denen nimmt es wahr, dass die Krise, in die es vor Jahren sein eigenes Geschäft und seinen eigenen Reichtum gestürzt hat, durch die hilfreiche Intervention der Politik überhaupt nicht bereinigt, sondern eben bloß verstaatlicht worden ist: Nun begründet die erfolgreiche Akkumulation staatlich garantierter Schuldpapiere den Zweifel, ob die Branche sich weiterhin für ihr Wachstum auf diese Reichtumsquelle verlassen kann. Sie hat im Geschäft mit den Öffentlichen Gewalten zu viel Geldkapital akkumuliert – zu viel, um einfach so weiter zu machen, also zu viel für ihren Geschäftszweck.
Was nun?
Was zu viel ist, gehört gestrichen. Aber genau das darf nicht passieren. fff...
Fortsetzung und damit Quelle:
www.gegenstandpunkt.com/gs/11/3/gs20113047.html