Die falschen Rentenrezepte
Leitartikel
Von Konrad Adam
Das Rentenversicherungssystem im Umlageverfahren, seit 45 Jahren Rückgrat der staatlich garantierten Wohlfahrt, steht vor der Zahlungsunfähigkeit. Nur Notoperationen, deren Laufzeiten auf Wochen, allenfalls Monate berechnet sind, bewahren es vor dem Offenbarungseid. Würden die laufenden Zuflüsse von heute auf morgen ausbleiben, müsste das als bombenfest und krisensicher angepriesene System in einem halben Monat seine Zahlungen einstellen: eine Drohung, die an Stelle der alten allerlei neue Wunderheiler auf den Plan ruft.
Als solche bieten sich an: zunächst die Arbeitsplatzfanatiker. Sie wollen alles beim alten lassen, beim Umlageverfahren von Jung zu Alt. Von einer Belebung der Wirtschaft versprechen sie sich mehr Beschäftigung, die höhere Zwangsbeiträge in die Kassen spülen soll. Die zweite Gruppe schwört auf das Kapitaldeckungsverfahren. Was die Umlage nicht geschafft hat, Sicherheit im Alter, soll die Anlage in Grundstücken, Anleihen und Aktien bieten. An dritter Stelle kommt der Vorschlag, das Renteneintrittsalter, das zur Zeit bei weniger als 60 Jahren liegt, schrittweise zu erhöhen. Das würde die Zeit, in der man Beiträge zahlt, verlängern, die Rentenbezugsdauer aber verkürzen und derart die Bestände schonen. Schließlich die Freunde der Einwanderung, die sich vor allem bei den Grünen finden. Nach ihren Vorstellungen soll der Zuzug von außen ersetzen, was die Deutschen aus eigener Kraft nicht mehr zustandebringen können oder wollen, genug Kinder nämlich.
Not lehrt beten, sagt das Sprichwort; und wirklich klingen die Rezepte, die da so fix verschrieben und verkündet werden, wie lauter Stoßgebete. Rechtzeitig und intelligent angewandt, werden sie die Not zwar lindern; abwenden können sie aber nichts. Der Reihe nach: ein wiederbelebter Arbeitsmarkt würde die Lasten, unter denen die deutsche Alterssicherung in die Knie gesunken ist, allenfalls verschieben. Wer Beiträge zahlt, erwirbt ja auch Ansprüche, die später einmal beglichen werden müssen - vorausgesetzt, der Staat will den letzten Rest von Vertrauenswürdigkeit nicht endgültig verspielen. Auch das zweite Rezept, die Kapitaldeckung, verspricht mehr, als es halten kann. Seine Freunde sollten nach England schauen, wo als Folge der dramatisch eingebrochenen Börsenkurse den Pensionskassen die Mittel knapp werden. Der dritte Ausweg, die Menschen später "in Rente zu schicken", entlastet zwar die Kassen, aber nicht die Wirtschaft, weil Alte nicht ebenso leistungsfähig sind wie junge Menschen. Horst Siebert, der Präsident des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, drückt sich noch freundlich aus, wenn er feststellt, dass sich alternde Volkswirtschaften auf einem niederigeren Wachstumspfad bewegen als junge. Dagegen wird auch die verstärkte Einwanderung nicht viel helfen. Denn um den jetzt schon absehbaren Bevölkerungsverlust wettzumachen, müsste Jahr für Jahr die Einwohnerschaft einer Großstadt vom Ausmaß Frankfurts hinzu kommen: ein Tempo, das selbst Grüne für unrealistisch halten, weil es die Integrationskraft der Gesellschaft heillos überfordert.
Alle diese Vorschläge kommen darin überein, dass sie die eine Lücke schließen wollen, indem sie eine andere aufreißen. Wenn die Decke insgesamt zu kurz ist, hilft aber nur eine Verlängerung, in diesem Fall: eine Anhebung der Geburtenhäufigkeit, wie es eine der vielen Kommissionen, die Gerhard Schröder für sich arbeiten lässt, schon vor Jahr und Tag empfohlen hat. Natürlich nicht durch Prämien, durch Mutterkreuze oder Sprunggeld, wie der Familienlastenausgleich von seinen Gegnern taktvollerweise genannt wird. Sondern dadurch, dass die vielen, aber äußerst wirksamen Hindernisse, die dem Wunsch nach Kindern entgegenstehen, beseitigt werden.
Soll sich der Staat in Dingen der Familie doch endlich so neutral verhalten, wie er es ständig gelobt! Er engagiert sich nämlich, aber auf der falschen Seite, denn er behindert, was er laut Grundgesetz zu fördern hat. Mehr für die Kinder, die Jugend und die Mütter hätte er zu tun und weniger für die Alten. Die sind in ihrer Mehrheit gut versorgt, auch wenn der VdK, die Interessenvertreter der Renter, das nicht wahrhaben will. Ein halbes Jahrhundert lang hat die Rentenformel die Alten begünstigt; für die nächsten paar Jahre wären jetzt einmal die Jüngeren an der Reihe. Aber davon wollen auch die Lautsprecher der Generationengerechtigkeit, die Grünen, nichts mehr wissen.
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