Der Ökonom John Kenneth Galbraith hält den Kurs der US-Regierung für gefährlich. Der 94-Jährige plädiert dagegen für eine neue Sozialpolitik
Schon 1933 mischte er bei Roosevelts New Deal mit, 1960 inspirierte er John F. Kennedys Sozialpolitik, und viele Jahre kabbelte er sich im Sommerurlaub mit Milton Friedman über Freiheit, Gleichheit und Wirtschaftspolitik. Jetzt ist John Kenneth Galbraith 94 Jahre alt und meint, dass früher alles besser war - denn nichts kann so schlimm sein wie George W. Bush. Andrea Seibel traf das Urgestein des Keynesianismus in Harvard.
DIE WELT: Sie müssen sich recht zufrieden fühlen dieser Tage. Wieder einmal haben sich Ihre Prognosen bewahrheitet, oder?
John Kenneth Galbraith: Ich habe es mir vor vielen Jahren abgewöhnt, Prognosen abzugeben. Aber manches überrascht mich mehr und manches weniger. Da ich nicht glaube, dass Konjunkturzyklen abgeschafft werden können, hat es mich auch nicht überrascht, dass wir wieder Rezession haben. Überrascht hat mich jedoch, dass die US-Regierung nichts unternimmt.
DIE WELT: Ihre Regierung sieht das anders.
Galbraith: Aber was tut sie? Von ihren Gesetzesinitiativen würden die Großkonzerne profitieren - und die Steuern würden nicht nur für die Reichen gesenkt, sondern vor allem für die Superreichen. Zurzeit geht die Tendenz dahin, alles den wundertätigen Kräften des Marktes zu überlassen. Das ist zum Scheitern verurteilt. Aber auch der Versuch des Staates, über die Steuer- und Ausgabenpolitik die oberen Einkommensgruppen besser zu stellen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Bush-Regierung unternimmt nichts, was den Verlauf der Rezession abschwächen könnte. Das beunruhigt mich.
DIE WELT: Beim Scheitern des Staates denkt man heute eher daran, der Wohlfahrtsstaat sei eine zu große finanzielle Last geworden.
Galbraith: In den Jahren der Großen Depression hatten wir eine bessere Wirtschaftspolitik als heute. Damals hat die Wirtschaftspolitik Roosevelts eine Gruppe neuer Ökonomen angezogen, die alte Garde trat den Rückzug an. Die Stimmung dieser "affirmative economics" der Roosevelt-Ära, dieser Wirtschaftspolitik zu Gunsten der Benachteiligten, ist längst Vergangenheit. Wir, diejenigen, die damals und in den Jahren danach Verantwortung trugen, haben uns in einem Punkt geirrt. Wir dachten, mit der kontrazyklischen Konjunkturpolitik und insbesondere mit den ökonomischen Anreizen für die Armen und Bedürftigen hätten wir einen Standard gesetzt, hinter den keine Wirtschaftspolitik mehr zurückfallen kann. Inzwischen ist leider klar geworden, dass sie das doch kann. Bei Ronald Reagan war noch ein Schimmer der "affirmative economics" zu erkennen - George W. Bush ist tief ins 19. Jahrhundert abgesunken.
DIE WELT: Zwischen Reagan und Bush II gab es auch noch Clinton.
Galbraith: In dessen Amtszeit haben wir es nicht geschafft, die Wirtschaftspolitik an die modernen Formen des Konjunkturzyklus anzupassen. Clinton hatte etwas in dieser Richtung vor, wir haben das diskutiert. Aber die Topmanager, die sich jetzt in Washington und um Präsident Bush herum tummeln, werden damit wohl kaum etwas anfangen können.
DIE WELT: Der Markt ist heute stärker als je zuvor. Müssen Sie nicht eingestehen, dass Milton Friedman gewonnen hat?
Galbraith: Meine Sorge ist, dass wohl noch geraume Zeit eine Politik fortgesetzt wird, die die Verantwortung für die Wirtschaft dem Markt, also den großen Konzernen, überlässt. Ich habe nicht vorausgesehen, wie entschieden die Konzerne dabei vorgehen würden - Enron und Konsorten kamen in meinen Gedanken nicht vor. Demnächst erscheint ein Buch von mir, in dem ich vor den Gefahren warne, die mit der totalen Machtübernahme des Managements in den Unternehmen verbunden sind. Die Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung und zur unkontrollierten Spekulation, die Unternehmen heute bieten, stellten, so mein Argument, eine zu große Versuchung dar. Und während ich noch argumentierte, trat genau das ein!
DIE WELT: Was sollte, was kann eine Regierung überhaupt tun, um die Manager zu kontrollieren, wenn diese selbst es nicht fertig bringen?
Galbraith: Da stehen wir vor zwei Problemen. Das erste ist in den USA weit stärker ausgeprägt als in Europa: eine Regierung, die aus ideologischen Gründen Kontrollen ablehnt. Deshalb sieht sie nicht ein, wie groß die Gefahren sind, die aus dem Missbrauch unternehmerischer Macht erwachsen - und sie wird das auch nicht mehr einsehen. Das zweite Problem ist die schiere Größe der Aufgabe. Es ist einfach, diese Unternehmen zu kritisieren, die Worldcoms, die Enrons und all die anderen bis hin zu General Electric. Aber es ist viel schwieriger, dort korrigierend einzugreifen.
DIE WELT: Alle nationalen Regierungen müssen mit dem zentralen Problem der Globalisierung fertig werden: Konzerne agieren global und können auf nationaler Ebene nicht mehr kontrolliert werden.
Galbraith: Zentrales Problem - das klingt mir zu monokausal. Ich bin dagegen, alles in eine einfache Formel zu packen. Es gibt viele Gründe, wahrscheinlich eher kulturelle als ökonomische, warum ich mir eine Weltgemeinschaft wünsche. Ich habe einige der lehrreichsten Abschnitte meines Lebens in Deutschland und in Europa, vor allem aber in Indien und in Asien verbracht. Für mich ist die ganze Welt eine ökonomische Gemeinschaft, aber ich gehe dabei nicht so weit, nationale Wirtschaftspolitik für unnötig zu halten. Sie ist notwendig, um ökonomische Verwerfungen zu beseitigen und um die jeweils spezifischen wirtschaftlichen Gefahren im Auge zu behalten. Wir brauchen staatliche Wirtschaftspolitik genauso wie Harmonie zwischen den Ländern.
DIE WELT: Schumpeter sagt: Kapitalismus ist ebenso schöpferisch wie zerstörerisch. Sollte die Wirtschaftspolitik den Kapitalismus zivilisieren?
Galbraith: Schumpeter würde Ihnen hier nicht widersprechen. Ich war in Harvard einige Jahre lang ein Kollege Schumpeters - da sehen Sie mal, wie alt ich bin. In der Innenpolitik hatten wir unterschiedliche Ansichten, und für ihn war ich einer der Ironiker der Harvard-Community. Er war einer der ersten Wissenschaftler, der die Bedeutung der Großkonzerne erkannte. Und an noch etwas erinnere ich mich ganz besonders: Er liebte Streit und Widerspruch.
DIE WELT: Einen Begriff stellen Milton Friedman und alle anderen Verteidiger der liberalen Sache in den Mittelpunkt: Freiheit.
Galbraith: Ich möchte wieder mit zweierlei antworten. Einerseits gibt es keinen ökonomischen Grund, der hinreichen würde, um Menschen an der Ausübung ihrer individuellen Freiheitsrechte zu hindern. Die Meinungsfreiheit und die Freiheit zu ungehinderter politischer Betätigung gehören zu den Voraussetzungen zivilisierten Lebens. Die Achtung der individuellen Freiheitsrechte ist der einzige Weg, um den Menschen die freie Wahl zwischen den unterschiedlichsten Ideen zu ermöglichen.
DIE WELT: Soweit noch kein Dissens . . .
Galbraith: Andererseits sollte ein Freund der Freiheit aber auch nicht behaupten, dass Freiheit den Verzicht auf jedes staatliche Handeln bedeutet, dass Freiheit verlangt, die Hände in den Schoß zu legen, wenn öffentliches Handeln notwendig ist. Ich bin kein Freund dieser Art von Freiheit. Eine meiner Debatten mit meinem alten Freund Milton betrifft genau diesen Punkt. Seit 40 Jahren verbringe ich regelmäßig den Sommer im US-Bundesstaat Vermont. Auch Milton hat das viele Jahre lang getan. Wir trafen uns dort praktisch jeden Sommer, um jeweils den anderen zu überzeugen. Aber keiner von uns hatte Erfolg.
DIE WELT: Der Markt ist fast eine Art Heiligtum in Amerika. Wer so Kritik übt wie Sie, gilt wohl schon fast als Antikapitalist.
Galbraith: (lächelt) Ich selbst würde mich nicht als Antikapitalisten bezeichnen. Aber ich bin in meinem Leben immer wieder so oder noch härter persönlich angegriffen worden. Im Zweiten Weltkrieg war ich einer der drei oder vier großen Feinde des freien Marktes - und hatte Erfolg. Wir haben diese Zeit voller enormer Belastungen und Gefahren ohne jede Inflation überstanden. Und dafür war ich so lange verantwortlich, bis die Zahl meiner Feinde größer wurde als die meiner Freunde.
DIE WELT: Stimmen Sie Hobsbawm zu, der das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme bezeichnet?
Galbraith: Ganz und gar nicht. Mir kommt es immer höchst verdächtig vor, wenn jemand versucht, die gesamte Zukunft oder Vergangenheit in einen Satz zu packen. Das geht nicht. Niemand kann das. Ich jedenfalls habe lieber im 20. Jahrhundert gelebt als in irgendeinem der Jahrhunderte davor. Und dabei geht es nicht nur um materielle, sondern auch um alle anderen Werte: Kultur, Gesundheit, Glück. Und über allem: Frieden, die noch immer nicht beendete Aufgabe der entwickelten Staaten.
DIE WELT: Sie waren immer nah am Zentrum der politischen Macht
Galbraith: aber nie im Zentrum.
DIE WELT: Worauf sind Sie besonders stolz?
Galbraith: Mein größter Erfolg? Die Wirtschaftspolitik der Kriegsjahre. Ich war damals für die Inflationsbekämpfung zuständig. Und ich bin stolz darauf, dass ich damals alles an orthodoxer Politik beiseite gelassen habe, inklusive der Währungspolitik, inklusive der Notenbank.
DIE WELT: Krieg und Frieden haben Ihr Leben begleitet. Ihre größten Erfolge hatten Sie in Kriegszeiten, aber 1968 waren Sie strikt gegen den Vietnamkrieg, was Sie damals auf die Titelseite der Zeitschrift "Time" gebracht hat.
Galbraith: Ja, ich war strikt gegen den Krieg in Vietnam, weil ich ein friedliches Zusammenleben aller Menschen der Erde anstrebe; ein Grundmotiv, das mich immer wieder angetrieben hat. Ich war in Vietnam, ich habe einige Jahre in Asien verbracht und habe miterlebt, welche Rolle dort all das Gerede über Kapitalismus und Kommunismus spielte - es war so wundervoll irrelevant. Das Vorgehen der USA gegen Vietnam war brutal und aussichtslos.
DIE WELT: Sie jetzt zum Irak zu befragen wird wahrscheinlich zu einer ähnlichen Antwort führen.
Galbraith: Sie sagen es. Ich bin genau so strikt gegen jede Intervention im Irak.
DIE WELT: Sie sind 94 und schreiben ein neues Buch. Gibt es für Denker keinen Ruhestand?
Galbraith: Zugegeben, ich bin alt. Aber nicht zu alt. Man kann nicht mehr so viel tun, aber bei einigen Dingen ist ein hohes Alter sogar von Vorteil.
DIE WELT: Bei welchen?
Galbraith: Ich habe von Ihnen kein einziges Wort der Kritik an meinen ökonomischen oder politischen Ansichten gehört. (lächelt)
Schon 1933 mischte er bei Roosevelts New Deal mit, 1960 inspirierte er John F. Kennedys Sozialpolitik, und viele Jahre kabbelte er sich im Sommerurlaub mit Milton Friedman über Freiheit, Gleichheit und Wirtschaftspolitik. Jetzt ist John Kenneth Galbraith 94 Jahre alt und meint, dass früher alles besser war - denn nichts kann so schlimm sein wie George W. Bush. Andrea Seibel traf das Urgestein des Keynesianismus in Harvard.
DIE WELT: Sie müssen sich recht zufrieden fühlen dieser Tage. Wieder einmal haben sich Ihre Prognosen bewahrheitet, oder?
John Kenneth Galbraith: Ich habe es mir vor vielen Jahren abgewöhnt, Prognosen abzugeben. Aber manches überrascht mich mehr und manches weniger. Da ich nicht glaube, dass Konjunkturzyklen abgeschafft werden können, hat es mich auch nicht überrascht, dass wir wieder Rezession haben. Überrascht hat mich jedoch, dass die US-Regierung nichts unternimmt.
DIE WELT: Ihre Regierung sieht das anders.
Galbraith: Aber was tut sie? Von ihren Gesetzesinitiativen würden die Großkonzerne profitieren - und die Steuern würden nicht nur für die Reichen gesenkt, sondern vor allem für die Superreichen. Zurzeit geht die Tendenz dahin, alles den wundertätigen Kräften des Marktes zu überlassen. Das ist zum Scheitern verurteilt. Aber auch der Versuch des Staates, über die Steuer- und Ausgabenpolitik die oberen Einkommensgruppen besser zu stellen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Bush-Regierung unternimmt nichts, was den Verlauf der Rezession abschwächen könnte. Das beunruhigt mich.
DIE WELT: Beim Scheitern des Staates denkt man heute eher daran, der Wohlfahrtsstaat sei eine zu große finanzielle Last geworden.
Galbraith: In den Jahren der Großen Depression hatten wir eine bessere Wirtschaftspolitik als heute. Damals hat die Wirtschaftspolitik Roosevelts eine Gruppe neuer Ökonomen angezogen, die alte Garde trat den Rückzug an. Die Stimmung dieser "affirmative economics" der Roosevelt-Ära, dieser Wirtschaftspolitik zu Gunsten der Benachteiligten, ist längst Vergangenheit. Wir, diejenigen, die damals und in den Jahren danach Verantwortung trugen, haben uns in einem Punkt geirrt. Wir dachten, mit der kontrazyklischen Konjunkturpolitik und insbesondere mit den ökonomischen Anreizen für die Armen und Bedürftigen hätten wir einen Standard gesetzt, hinter den keine Wirtschaftspolitik mehr zurückfallen kann. Inzwischen ist leider klar geworden, dass sie das doch kann. Bei Ronald Reagan war noch ein Schimmer der "affirmative economics" zu erkennen - George W. Bush ist tief ins 19. Jahrhundert abgesunken.
DIE WELT: Zwischen Reagan und Bush II gab es auch noch Clinton.
Galbraith: In dessen Amtszeit haben wir es nicht geschafft, die Wirtschaftspolitik an die modernen Formen des Konjunkturzyklus anzupassen. Clinton hatte etwas in dieser Richtung vor, wir haben das diskutiert. Aber die Topmanager, die sich jetzt in Washington und um Präsident Bush herum tummeln, werden damit wohl kaum etwas anfangen können.
DIE WELT: Der Markt ist heute stärker als je zuvor. Müssen Sie nicht eingestehen, dass Milton Friedman gewonnen hat?
Galbraith: Meine Sorge ist, dass wohl noch geraume Zeit eine Politik fortgesetzt wird, die die Verantwortung für die Wirtschaft dem Markt, also den großen Konzernen, überlässt. Ich habe nicht vorausgesehen, wie entschieden die Konzerne dabei vorgehen würden - Enron und Konsorten kamen in meinen Gedanken nicht vor. Demnächst erscheint ein Buch von mir, in dem ich vor den Gefahren warne, die mit der totalen Machtübernahme des Managements in den Unternehmen verbunden sind. Die Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung und zur unkontrollierten Spekulation, die Unternehmen heute bieten, stellten, so mein Argument, eine zu große Versuchung dar. Und während ich noch argumentierte, trat genau das ein!
DIE WELT: Was sollte, was kann eine Regierung überhaupt tun, um die Manager zu kontrollieren, wenn diese selbst es nicht fertig bringen?
Galbraith: Da stehen wir vor zwei Problemen. Das erste ist in den USA weit stärker ausgeprägt als in Europa: eine Regierung, die aus ideologischen Gründen Kontrollen ablehnt. Deshalb sieht sie nicht ein, wie groß die Gefahren sind, die aus dem Missbrauch unternehmerischer Macht erwachsen - und sie wird das auch nicht mehr einsehen. Das zweite Problem ist die schiere Größe der Aufgabe. Es ist einfach, diese Unternehmen zu kritisieren, die Worldcoms, die Enrons und all die anderen bis hin zu General Electric. Aber es ist viel schwieriger, dort korrigierend einzugreifen.
DIE WELT: Alle nationalen Regierungen müssen mit dem zentralen Problem der Globalisierung fertig werden: Konzerne agieren global und können auf nationaler Ebene nicht mehr kontrolliert werden.
Galbraith: Zentrales Problem - das klingt mir zu monokausal. Ich bin dagegen, alles in eine einfache Formel zu packen. Es gibt viele Gründe, wahrscheinlich eher kulturelle als ökonomische, warum ich mir eine Weltgemeinschaft wünsche. Ich habe einige der lehrreichsten Abschnitte meines Lebens in Deutschland und in Europa, vor allem aber in Indien und in Asien verbracht. Für mich ist die ganze Welt eine ökonomische Gemeinschaft, aber ich gehe dabei nicht so weit, nationale Wirtschaftspolitik für unnötig zu halten. Sie ist notwendig, um ökonomische Verwerfungen zu beseitigen und um die jeweils spezifischen wirtschaftlichen Gefahren im Auge zu behalten. Wir brauchen staatliche Wirtschaftspolitik genauso wie Harmonie zwischen den Ländern.
DIE WELT: Schumpeter sagt: Kapitalismus ist ebenso schöpferisch wie zerstörerisch. Sollte die Wirtschaftspolitik den Kapitalismus zivilisieren?
Galbraith: Schumpeter würde Ihnen hier nicht widersprechen. Ich war in Harvard einige Jahre lang ein Kollege Schumpeters - da sehen Sie mal, wie alt ich bin. In der Innenpolitik hatten wir unterschiedliche Ansichten, und für ihn war ich einer der Ironiker der Harvard-Community. Er war einer der ersten Wissenschaftler, der die Bedeutung der Großkonzerne erkannte. Und an noch etwas erinnere ich mich ganz besonders: Er liebte Streit und Widerspruch.
DIE WELT: Einen Begriff stellen Milton Friedman und alle anderen Verteidiger der liberalen Sache in den Mittelpunkt: Freiheit.
Galbraith: Ich möchte wieder mit zweierlei antworten. Einerseits gibt es keinen ökonomischen Grund, der hinreichen würde, um Menschen an der Ausübung ihrer individuellen Freiheitsrechte zu hindern. Die Meinungsfreiheit und die Freiheit zu ungehinderter politischer Betätigung gehören zu den Voraussetzungen zivilisierten Lebens. Die Achtung der individuellen Freiheitsrechte ist der einzige Weg, um den Menschen die freie Wahl zwischen den unterschiedlichsten Ideen zu ermöglichen.
DIE WELT: Soweit noch kein Dissens . . .
Galbraith: Andererseits sollte ein Freund der Freiheit aber auch nicht behaupten, dass Freiheit den Verzicht auf jedes staatliche Handeln bedeutet, dass Freiheit verlangt, die Hände in den Schoß zu legen, wenn öffentliches Handeln notwendig ist. Ich bin kein Freund dieser Art von Freiheit. Eine meiner Debatten mit meinem alten Freund Milton betrifft genau diesen Punkt. Seit 40 Jahren verbringe ich regelmäßig den Sommer im US-Bundesstaat Vermont. Auch Milton hat das viele Jahre lang getan. Wir trafen uns dort praktisch jeden Sommer, um jeweils den anderen zu überzeugen. Aber keiner von uns hatte Erfolg.
DIE WELT: Der Markt ist fast eine Art Heiligtum in Amerika. Wer so Kritik übt wie Sie, gilt wohl schon fast als Antikapitalist.
Galbraith: (lächelt) Ich selbst würde mich nicht als Antikapitalisten bezeichnen. Aber ich bin in meinem Leben immer wieder so oder noch härter persönlich angegriffen worden. Im Zweiten Weltkrieg war ich einer der drei oder vier großen Feinde des freien Marktes - und hatte Erfolg. Wir haben diese Zeit voller enormer Belastungen und Gefahren ohne jede Inflation überstanden. Und dafür war ich so lange verantwortlich, bis die Zahl meiner Feinde größer wurde als die meiner Freunde.
DIE WELT: Stimmen Sie Hobsbawm zu, der das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme bezeichnet?
Galbraith: Ganz und gar nicht. Mir kommt es immer höchst verdächtig vor, wenn jemand versucht, die gesamte Zukunft oder Vergangenheit in einen Satz zu packen. Das geht nicht. Niemand kann das. Ich jedenfalls habe lieber im 20. Jahrhundert gelebt als in irgendeinem der Jahrhunderte davor. Und dabei geht es nicht nur um materielle, sondern auch um alle anderen Werte: Kultur, Gesundheit, Glück. Und über allem: Frieden, die noch immer nicht beendete Aufgabe der entwickelten Staaten.
DIE WELT: Sie waren immer nah am Zentrum der politischen Macht
Galbraith: aber nie im Zentrum.
DIE WELT: Worauf sind Sie besonders stolz?
Galbraith: Mein größter Erfolg? Die Wirtschaftspolitik der Kriegsjahre. Ich war damals für die Inflationsbekämpfung zuständig. Und ich bin stolz darauf, dass ich damals alles an orthodoxer Politik beiseite gelassen habe, inklusive der Währungspolitik, inklusive der Notenbank.
DIE WELT: Krieg und Frieden haben Ihr Leben begleitet. Ihre größten Erfolge hatten Sie in Kriegszeiten, aber 1968 waren Sie strikt gegen den Vietnamkrieg, was Sie damals auf die Titelseite der Zeitschrift "Time" gebracht hat.
Galbraith: Ja, ich war strikt gegen den Krieg in Vietnam, weil ich ein friedliches Zusammenleben aller Menschen der Erde anstrebe; ein Grundmotiv, das mich immer wieder angetrieben hat. Ich war in Vietnam, ich habe einige Jahre in Asien verbracht und habe miterlebt, welche Rolle dort all das Gerede über Kapitalismus und Kommunismus spielte - es war so wundervoll irrelevant. Das Vorgehen der USA gegen Vietnam war brutal und aussichtslos.
DIE WELT: Sie jetzt zum Irak zu befragen wird wahrscheinlich zu einer ähnlichen Antwort führen.
Galbraith: Sie sagen es. Ich bin genau so strikt gegen jede Intervention im Irak.
DIE WELT: Sie sind 94 und schreiben ein neues Buch. Gibt es für Denker keinen Ruhestand?
Galbraith: Zugegeben, ich bin alt. Aber nicht zu alt. Man kann nicht mehr so viel tun, aber bei einigen Dingen ist ein hohes Alter sogar von Vorteil.
DIE WELT: Bei welchen?
Galbraith: Ich habe von Ihnen kein einziges Wort der Kritik an meinen ökonomischen oder politischen Ansichten gehört. (lächelt)