(Film lief auf ORB)

Die Blumenbinderin Eva Mauerhoff ist unlängst verzogen. Aber ihr Gedächtnis ist nich mitgekommen. Verzweifelt sucht es sein Zuhause immer noch in einer Vergangenheit, an die sich Frau Mauerhoff noch bruchstückhaft erinnern kann. Ihren Einzug in das Pflegeheim für Alzheimerkranke hat sie dagegen längst vergessen. Warum bloß behaupten alle, sie wohne hier? Wer ist diese fremde Frau im Nachbarbett? Wieso kostet der Friseurbesuch plötzlich kein Geld mehr? »Ich gehe nach Hause. Mein Entschluss ist gefasst«, beschließt Frau Mauerhoff. Nur: wie kommt man da hin – nach Hause?
Wenn Frau Mauerhoff unruhig die Flure des Pflegeheims nach einem Ausweg absucht, ist die Dokumentarfilmerin Marion Kainz immer an ihrer Seite. Ihre kleine Digitalkamera kann mühelos mit der rastlosen alten Dame Schritt halten – auch emotional. Panik, Misstrauen, Erschöpfung – mit den Augen von Frau Mauerhoff fährt die Kamera die langen Gänge der Station ab. Und tatsächlich werden die vielen verschlossenen Türen für einen Moment zur Bedrohung, wirkt der etwas zu freundliche Pfleger unweigerlich verdächtig, erscheint der Kartoffelschäldienst mit seinen gewohnten Handgriffen nun wie eine letzte Rettungsinsel im Meer der Vergesslichkeit.
Frau Mauerhoff glaubt längst an ein geheimes Komplott der Pflegekräfte. Sie will die Kamera zu ihrer Verbündeten machen, sucht bei Marion Kainz Beistand für ihre Verschwörungstheorien, Auswege aus ihrem Gefängnis. Aber die Filmemacherin lässt sich nicht zur Fluchthelferin machen. Bei aller Einfühl-
ung in die emotionale Not der Erkrankten wahrt sie doch immer die nötige professionelle Distanz. »Sie sind schon eine Zeit hier«, erklärt sie Frau Mauerhoff. »Sie werden vergesslich.« So warmherzig Kainz
Bildsprache die Gefühle der Kranken auch aufgreift, so kühl bleibt die Filmemacherin doch gegenüber der Ausweglosigkeit der »Alzheimer-Diagnose«. Es ist vor allem diese »Zweisprachigkeit«, die ihren Film so besonders macht.
Aus der Begründung der Jury
Der Autorin ist es gelungen, in einfühlsamen und intensiven Bildern eine Nähe zwischen Frau Mauerhoff und dem Zuschauer herzustellen. Durch den Verzicht auf Stilmittel (Kommentare, Musik, Effekte) wird das Heimleben für den Betrachter völlig unverfälscht wiedergeben. Er kann so, als stiller Beobachter ins Heim eingeschleust, dem Leben von Frau Mauerhoff hautnah beiwohnen. Durch ihre sorg-
fältige und liebevolle Arbeit bringt Marion Kainz dem Betrachter das triste Leben in einem Pflegeheim nahe, ohne zu moralisieren. Der Zuschauer entwickelt selbst Gedanken und Fragen zu diesem Thema,das nicht zuletzt durch seine Alltäglichkeit Betroffenheit auslöst.
Filmrezension von Bernd Müllender, taz 04.04.2001:
Duisburg. Ein langer Flur. Kurzatmig kommt Eva Mauerhoff auf die Kamera zu. "Ich bin ganz außer mir", sagt sie, "was liegt da vor?" Der alten Dame ist alles unheimlich. Sie flüstert verschwörerisch. "Sie sind im Pflegeheim", sagt die Stimme hinter der Kamera. "Also, dass die mir nichts gesagt haben ..." Eva Mauerhoff verliert ihr Gedächtnis. Altersbedingt. Alzheimer.
Marion Kainz (Buch, Regie, Kamera) hat die verwirrte und manchmal unfreiwillig witzige Frau begleitet, da, wo sie sich nicht zurechtfindet, wo sie staunt und sich wundert. Im Heim. Der 45-Minuten-Dokumentarfilm hat mittlerweile ein halbes Dutzend Preise eingeheimst. Und es gibt Szenen, die hätte sich niemand ausdenken können. Von poetischer Tiefe ist der Moment, der dem Film seinen Titel gab. Mauerhoff kramt in ihrer Handtasche. Was da sei, fragt die Kamerafrau. "Nichts." Was sie finden will? "Ich suche wahrscheinlich den gestrigen Tag." Wie ein gelernter Fernsehprofi spricht sie mit der Kamera, als wäre sie ihre Verbündete: "Alles ist so stehen geblieben, wissen sie ..."
Sie weiß nicht wie, wann und warum sie ins Heim gekommen ist. Wir erfahren es auch nicht. Warum auch: Es zählt nur das Hier und Jetzt, wie bei Mauerhoff selbst. Deren Fragen sind klar, ihre Reflexionen logisch. Nur die Vergangenheit fehlt, und damit alle Erklärung. Vielleicht war sie mal eine kluge Frau. Sie tippt an ihren Kopf: "Ich habs hier. So viel. Aber es kommt nicht raus."
Es gibt rührende Dialoge mit anderen Alten. In der Küche, Kartoffeln schälend, wird Mauerhoff herrisch: "Kartoffeln schälen!", raunzt sie die apathische Nachbarin an. Manchmal versteht auch Eva Mauerhoff ihr Problem. Sie will vom Pfleger "Auskunft über vieles". Der wundert sich gespielt routiniert. Ihm sagt sie: "Ach, ich kann Sie nicht brauchen", und zu uns in die Kamera: "Der geht mir aufn Wecker." Die genervte Schwester fragt: "Was fehlt Ihnen?" Antwort: "Alles. Liebe." Die Kamera mit der Autorin dahinter versteht besser: "Ist mein Gedächtnis weg? Wie kann man es aufhalten?" Und dann der Abend mit Gesang: "Die Gedanken sind frei ...", choralen die Alten dünnstimmig, "sie fliegen vorbei wie mächtige Schatten." Gedanken. Nur, welche Gedanken?
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