In Amerika, Deutschland und Japan bleibt die Wirtschaft gelähmt
Ökonomen sind Zyniker. Die halbe Welt hat Angst vor einem Krieg im Irak, Konjunkturforscher und Aktienanalysten aber hoffen auf die Kraft der Bomben. Eine kurze und erfolgreiche Schlacht am Golf, so das Kalkül, ließe die Ölpreise fallen, die Aktienkurse steigen und die Wirtschaft endlich wieder wachsen. In Deutschland nähme die Arbeitslosigkeit ab, und Finanzminister Hans Eichel hätte wieder mehr Geld in der Kasse. Die Welt wäre eine bessere, zumindest materiell gesehen.
Ökonomen sind Menschenkenner. Seit Monaten, sagen sie, seien Anleger, Verbraucher und Unternehmer von einem Gefühl tiefer Unsicherheit erfüllt. Die Angst vor dem Krieg habe die Aktienkurse um etwa 20 Prozent gedrückt, schätzt der Vermögensverwalter Gottfried Heller. Sie sei mit schuld, dass die Deutschen derzeit so wenig einkaufen, analysiert das Marktforschungsinstitut GfK. Sie nehme manchen Unternehmen die Lust zu investieren, meint Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank in Frankfurt.
Ein kurzer, schneller Krieg – und die Unsicherheit wäre beseitigt. Meinen jedenfalls Optimisten wie Alan Greenspan, Chef der amerikanischen Notenbank. Rund um den Globus würde die Wirtschaft wieder in Gang kommen, prognostiziert auch das Center for Strategic and International Studies in Washington. Der ersehnte Aufschwung könnte beginnen – in Amerika, in Europa, in Deutschland.
Diese Hoffnung trügt.
Zwar wäre eine kurze Schlacht in jeder Hinsicht besser als ein langwieriger Feldzug. „Aber es ist verfehlt zu glauben, dann würde sich ein nachhaltiger Aufschwung einstellen“, warnt Thomas Mayer, Europa-Chefvolkswirt der Deutschen Bank in London.
Ob Krieg oder Frieden, schneller oder blutiger Sieg – auch nach dem Ende des Konflikts am Golf wird sich die Wirtschaft so schnell nicht erholen. Amerika, Deutschland und Japan stehen keineswegs vor einem neuen Boom – ihnen droht weitere Stagnation oder sogar ein erneuter Einbruch. Was mit dem Absturz der New-Economy-Aktien begann und zunächst nach einer kurzen Konjunkturflaute aussah, hat sich zur längsten Wirtschaftskrise seit 20 Jahren entwickelt. Zu einer Krise „von neuer Qualität“, sagt Gustav Horn, Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW). Eine Krise, die nicht dem bekannten Muster folgt, weil sich Unternehmer, Anleger und Konsumenten auf beiden Seiten des Atlantiks anders verhalten als früher.
Die Vorgeschichte. So wie die Amerikaner in diesen Tagen der ganzen Welt ihre militärische Potenz vorführen, so trieben sie Ende der neunziger Jahre die globale Ökonomie voran. Zwischen 1995 und 2000 erzeugten die USA 40 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums. 280 Millionen Amerikaner – fünf Prozent der Weltbevölkerung – nahmen 25 Prozent der weltweit produzierten Güter und Dienstleistungen ab. Angetrieben vom amerikanischen Boom verzeichnete auch Deutschland im Jahr 2000 ein Wirtschaftswachstum von rund drei Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen sank auf 3,7 Millionen. Amerika war der Motor der Weltwirtschaft, sein Treibstoff war der Glaube an die New Economy. Dieses Wirtschaftswunder aber, sagt Gail Fosler, Chefökonomin des Forschungsinstituts Conference Board in New York, „ist Vergangenheit“. Die Gegenwart sind überschuldete Konsumenten, nicht ausgelastete Fabriken und riesige Defizite in der Handels- und Leistungsbilanz. Der Motor der Welt ist ins Stocken geraten.
Die Amerikaner: In der Internet-Euphorie investierten Manager aus den USA, als ob es nie wieder einen Abschwung gäbe. Weshalb jetzt, in der Krise, eines der klassischen ökonomischen Aufputschmittel nicht wirkt: billiges Geld. Ein ums andere Mal hat Zentralbankchef Alan Greenspan die Zinsen gesenkt. Doch immer noch stehen in zu vielen Unternehmen zu viele Computer und Maschinen in zu großen Büros und Fabriken. Die Kapazitäten der US-Industrie sind nur zu 75 Prozent ausgelastet. Neue Investitionen? Kein Bedarf – egal, wie günstig die Kredite sind.
Die amerikanischen Verbraucher dagegen haben sich bisher von niedrigen Aktienkursen und schwachen Wachstumsraten kaum schrecken lassen. Anders als in bisherigen Wirtschaftskrisen sind sie weiter einkaufen gegangen und verhinderten so das Abrutschen in eine tiefe Rezession. Aber wie lange noch? Seit Anfang 2001 gingen in Amerika 2,2 Millionen Jobs verloren. Das Verbrauchervertrauen ist auf den tiefsten Stand seit zehn Jahren gefallen. Statt zu steigen und einen neuen Aufschwung zu generieren, dürfte der private Konsum in den kommenden Monaten eher sinken – und die Krise weiter verschlimmern.
Der Dollar. Einen Großteil ihres Konsum- und Investitionsbooms finanzierten die USA mit Krediten. So wuchs das Leistungsbilanzdefizit, das entsteht, wenn ein Land mehr Geld ausgibt, als es erwirtschaftet. Im Jahr 2002 lag es bei 500 Milliarden Dollar, so hoch wie nie zuvor. In der Hoffnung auf dicke Renditen haben deutsche Konzerne, japanische Banken oder englische Investmentfonds dieses Defizit jahrelang finanziert. Aber schon jetzt schicken ausländische Anleger weniger Geld nach Amerika. Der Trend könnte sich verstärken, wenn Amerikas Börse und Wirtschaft weiter schwächeln.
Den Zahlen nach ist die amerikanische Ökonomie auch 2002 stärker gewachsen als die Wirtschaft in Euroland – aber nur, weil George Bushs Regierung sich mächtig verschuldet und den Bürgern durch Steuersenkungen zusätzliches Geld vermacht habe, sagt Martin Hüfner, Chefökonom der HypoVereinsbank. Rechne man diesen Effekt heraus, sei das Wachstum in Amerika schwächer gewesen als in Europa.
Mit Bushs Schuldenpolitik nähert sich das jährliche Haushaltsminus der USA schon jetzt der Marke von 300 Milliarden Dollar – ohne die Kosten eines Irak-Krieges. Die Defizite in Amerikas interner und externer Bilanz aber könnten internationalen Anlegern endgültig den Spaß an Wertpapieren aus den USA verderben – „und eine weitere Abwertung des Dollar in Gang setzen“, fürchtet Laura D’Andrea Tyson, Leiterin der London Business School. Nicht langsam wie bisher, sondern schnell und nachhaltig.
Ein abrupter Verfall des Dollar-Kurses und die damit verbundene Aufwertung anderer Währungen hätte gravierende Folgen für Börsen und Volkswirtschaften rund um die Erde. Sie würde die globale Ökonomie zudem „in einer Phase treffen, in der keine Region zum Wachstumsmotor taugt“, sagt Robert Hormats, Vizepräsident der New Yorker Investmentbank Goldman Sachs. Das unterscheidet die Situation heute von der Zeit vor dem Golfkrieg 1991, als alle großen Volkswirtschaften auf Hochtouren liefen. Heute steckt Japan in der Dauerkrise, Europa kämpft mit einer tiefen Wachstumsschwäche, Lateinamerika und Asien leben von ihren Exporten nach Amerika. Noch.
Die Deutschen. Während die Amerikaner in den Neunzigern weltweit einkaufen gingen, spielten die Deutschen ihre traditionelle Rolle des globalen Lieferanten. 2002 stiegen die deutschen Exporte fast viermal so stark wie der EU-Durchschnitt. Doch anders als in früheren Krisen brachte der starke Export die hiesige Wirtschaft nicht in Schwung. Der Grund, so Hypovereinsbank-Ökonom Hüfner: „Die Binnennachfrage ist tot wie ein Hund.“
Die deutschen Firmen investieren nicht. Der Verband deutscher Maschinen- und Anlagenbauer fand heraus, dass weit über die Hälfte aller Maschinenbauunternehmen in den nächsten drei Jahren ihre Investitionen kürzen wollen – egal, wie der Krieg im Irak verläuft. Ähnlich negativ ist das Ergebnis einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages unter 25000 Mitgliedsfirmen. Und die deutschen Verbraucher konsumieren nicht. 2002 ist der private Verbrauch zum ersten Mal seit 20 Jahren gesunken. „Das unterscheidet uns von anderen Ländern“, sagt DIW-Forscher Gustav Horn.
Vor allem unterscheidet es die jetzige von früheren Krisen. Die Rezessionen der Sechziger, Siebziger und Neunziger folgten alle einem ähnlichen Muster: Die Wirtschaft brach ein, die Wachstumszahlen rutschten kurz ins Minus, aber der Verbrauch stieg weiter. Nicht gewaltig, denn die Deutschen waren immer sparsam, aber stark genug, dass wenig später ein neuer Aufschwung begann.
Die Regierung Diesmal ist alles anders. "Deutschland befindet sich in einer stagnativen Phase", sagt udo Ludwig, Konjunkturexperte vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Soll heißen: Die Ökonomie schrumpft zwar nicht, aber sie kommt auch nicht in Gang. Erklärungen für die Lähmung gibt es viele: die Schwäche des deutschen Ostens, die hohe Arbeitslosigkeit, eine Bankenkrise, die die Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen bremst, und eine Regierung, die ihre Bürger darüber im Unklaren lässt, ob und wie viel Geld sie für Alter und Krankheit beiseite legen müssen. Die quälende und bislang ergebnislose Reformdebatte belastet Verbraucher wie Unternehmen offenbar ungleich mehr als ein möglicher Krieg: Konsum und Investitionen waren schon schwach, bevor die amerikanischen Soldaten ihre Kasernen verließen.
Auf fast 50 Prozent beziffert Konjunkturforscher Ludwig inzwischen die Möglichkeit, dass es der noch immer drittstärksten Ökonomie der Welt, Deutschland, so ergeht wie der noch immer zweitstärksten: Japan. Dort stagniert die Wirtschaft seit mehr als zehn Jahren. Die Aktienkurse bewegen sich zur Seite, die Arbeitslosigkeit steigt, die Verbraucher kaufen wenig ein. Alles wie in Deutschland. Trotzdem hält Rot-Grün an dem alten Verständnis von Wirtschaftskrisen fest, wonach jedem Abschwung ein Aufschwung folgt. „Die Dauer der Krise wird völlig unterschätzt“, so Ullrich Heilemann, Vizepräsident des Rheinisch-Westfälischen-Instituts für Wirtschaftsforschung. Das wird sich erneut wohl am 14. März zeigen, wenn Gerhard Schröder per Regierungserklärung seinen reformpolitischen Kurs bekannt gibt. Er wird über den Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen sprechen. Doch die meisten Experten sind sich einig: Solche Reformen wirken nur langfristig. Kurzfristig könnte eher ein staatlich finanziertes Konjunkturprogram die Binnennachfrage zum Leben erwecken. Dass die Bundesrepublik damit über die im europäischen Stabilitätspakt festgezurrte Defizitgrenze von drei Prozent rutschen würde, halten immer mehr Ökonomen für eine lässliche Sünde: „Gingen strukturelle Reformen und ein Investitionsprogramm Hand in Hand, darf man gegen die Verletzung der Maastricht-Kriterien keine religiösen Kriege führen“, sagt Deutsche Bank-Volkswirt Norbert Walter.
Die Unsicherheit. Der Abschwung begann um die Jahrtausendwende in Amerika und verbreitete sich rund um den Globus. Weil die Weltwirtschaft vernetzter ist als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, erfasste die Krise schließlich alle wichtigen Wirtschaftsnationen. Für einen neuen Aufschwung wäre deshalb auch ein koordiniertes Vorgehen in der Finanz- und Geldpolitik der großen Wirtschaftsblöcke notwendig. Davon aber war wenig die Rede, als sich kürzlich die Finanzminister der größten sieben Volkswirtschaften des Westens trafen. Vertrauen schaffen sie auf diese Weise nicht. Genau das bräuchte die Welt – selbst nach einem kurzen und erfolgreichen Krieg im Irak. „Die globalen Risiken bleiben auch dann bestehen, in der Wirtschaft und anderswo“, sagt Goldman Sachs-Vize Robert Hormats. Auch nach einem Sturz Saddam Husseins besitzt Nordkorea Massenvernichtungswaffen. Auch dann können Terroristen zuschlagen. Überall und immer.
www.zeit.de/2003/11/Konjunktur
Ökonomen sind Zyniker. Die halbe Welt hat Angst vor einem Krieg im Irak, Konjunkturforscher und Aktienanalysten aber hoffen auf die Kraft der Bomben. Eine kurze und erfolgreiche Schlacht am Golf, so das Kalkül, ließe die Ölpreise fallen, die Aktienkurse steigen und die Wirtschaft endlich wieder wachsen. In Deutschland nähme die Arbeitslosigkeit ab, und Finanzminister Hans Eichel hätte wieder mehr Geld in der Kasse. Die Welt wäre eine bessere, zumindest materiell gesehen.
Ökonomen sind Menschenkenner. Seit Monaten, sagen sie, seien Anleger, Verbraucher und Unternehmer von einem Gefühl tiefer Unsicherheit erfüllt. Die Angst vor dem Krieg habe die Aktienkurse um etwa 20 Prozent gedrückt, schätzt der Vermögensverwalter Gottfried Heller. Sie sei mit schuld, dass die Deutschen derzeit so wenig einkaufen, analysiert das Marktforschungsinstitut GfK. Sie nehme manchen Unternehmen die Lust zu investieren, meint Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank in Frankfurt.
Ein kurzer, schneller Krieg – und die Unsicherheit wäre beseitigt. Meinen jedenfalls Optimisten wie Alan Greenspan, Chef der amerikanischen Notenbank. Rund um den Globus würde die Wirtschaft wieder in Gang kommen, prognostiziert auch das Center for Strategic and International Studies in Washington. Der ersehnte Aufschwung könnte beginnen – in Amerika, in Europa, in Deutschland.
Diese Hoffnung trügt.
Zwar wäre eine kurze Schlacht in jeder Hinsicht besser als ein langwieriger Feldzug. „Aber es ist verfehlt zu glauben, dann würde sich ein nachhaltiger Aufschwung einstellen“, warnt Thomas Mayer, Europa-Chefvolkswirt der Deutschen Bank in London.
Ob Krieg oder Frieden, schneller oder blutiger Sieg – auch nach dem Ende des Konflikts am Golf wird sich die Wirtschaft so schnell nicht erholen. Amerika, Deutschland und Japan stehen keineswegs vor einem neuen Boom – ihnen droht weitere Stagnation oder sogar ein erneuter Einbruch. Was mit dem Absturz der New-Economy-Aktien begann und zunächst nach einer kurzen Konjunkturflaute aussah, hat sich zur längsten Wirtschaftskrise seit 20 Jahren entwickelt. Zu einer Krise „von neuer Qualität“, sagt Gustav Horn, Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW). Eine Krise, die nicht dem bekannten Muster folgt, weil sich Unternehmer, Anleger und Konsumenten auf beiden Seiten des Atlantiks anders verhalten als früher.
Die Vorgeschichte. So wie die Amerikaner in diesen Tagen der ganzen Welt ihre militärische Potenz vorführen, so trieben sie Ende der neunziger Jahre die globale Ökonomie voran. Zwischen 1995 und 2000 erzeugten die USA 40 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums. 280 Millionen Amerikaner – fünf Prozent der Weltbevölkerung – nahmen 25 Prozent der weltweit produzierten Güter und Dienstleistungen ab. Angetrieben vom amerikanischen Boom verzeichnete auch Deutschland im Jahr 2000 ein Wirtschaftswachstum von rund drei Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen sank auf 3,7 Millionen. Amerika war der Motor der Weltwirtschaft, sein Treibstoff war der Glaube an die New Economy. Dieses Wirtschaftswunder aber, sagt Gail Fosler, Chefökonomin des Forschungsinstituts Conference Board in New York, „ist Vergangenheit“. Die Gegenwart sind überschuldete Konsumenten, nicht ausgelastete Fabriken und riesige Defizite in der Handels- und Leistungsbilanz. Der Motor der Welt ist ins Stocken geraten.
Die Amerikaner: In der Internet-Euphorie investierten Manager aus den USA, als ob es nie wieder einen Abschwung gäbe. Weshalb jetzt, in der Krise, eines der klassischen ökonomischen Aufputschmittel nicht wirkt: billiges Geld. Ein ums andere Mal hat Zentralbankchef Alan Greenspan die Zinsen gesenkt. Doch immer noch stehen in zu vielen Unternehmen zu viele Computer und Maschinen in zu großen Büros und Fabriken. Die Kapazitäten der US-Industrie sind nur zu 75 Prozent ausgelastet. Neue Investitionen? Kein Bedarf – egal, wie günstig die Kredite sind.
Die amerikanischen Verbraucher dagegen haben sich bisher von niedrigen Aktienkursen und schwachen Wachstumsraten kaum schrecken lassen. Anders als in bisherigen Wirtschaftskrisen sind sie weiter einkaufen gegangen und verhinderten so das Abrutschen in eine tiefe Rezession. Aber wie lange noch? Seit Anfang 2001 gingen in Amerika 2,2 Millionen Jobs verloren. Das Verbrauchervertrauen ist auf den tiefsten Stand seit zehn Jahren gefallen. Statt zu steigen und einen neuen Aufschwung zu generieren, dürfte der private Konsum in den kommenden Monaten eher sinken – und die Krise weiter verschlimmern.
Der Dollar. Einen Großteil ihres Konsum- und Investitionsbooms finanzierten die USA mit Krediten. So wuchs das Leistungsbilanzdefizit, das entsteht, wenn ein Land mehr Geld ausgibt, als es erwirtschaftet. Im Jahr 2002 lag es bei 500 Milliarden Dollar, so hoch wie nie zuvor. In der Hoffnung auf dicke Renditen haben deutsche Konzerne, japanische Banken oder englische Investmentfonds dieses Defizit jahrelang finanziert. Aber schon jetzt schicken ausländische Anleger weniger Geld nach Amerika. Der Trend könnte sich verstärken, wenn Amerikas Börse und Wirtschaft weiter schwächeln.
Den Zahlen nach ist die amerikanische Ökonomie auch 2002 stärker gewachsen als die Wirtschaft in Euroland – aber nur, weil George Bushs Regierung sich mächtig verschuldet und den Bürgern durch Steuersenkungen zusätzliches Geld vermacht habe, sagt Martin Hüfner, Chefökonom der HypoVereinsbank. Rechne man diesen Effekt heraus, sei das Wachstum in Amerika schwächer gewesen als in Europa.
Mit Bushs Schuldenpolitik nähert sich das jährliche Haushaltsminus der USA schon jetzt der Marke von 300 Milliarden Dollar – ohne die Kosten eines Irak-Krieges. Die Defizite in Amerikas interner und externer Bilanz aber könnten internationalen Anlegern endgültig den Spaß an Wertpapieren aus den USA verderben – „und eine weitere Abwertung des Dollar in Gang setzen“, fürchtet Laura D’Andrea Tyson, Leiterin der London Business School. Nicht langsam wie bisher, sondern schnell und nachhaltig.
Ein abrupter Verfall des Dollar-Kurses und die damit verbundene Aufwertung anderer Währungen hätte gravierende Folgen für Börsen und Volkswirtschaften rund um die Erde. Sie würde die globale Ökonomie zudem „in einer Phase treffen, in der keine Region zum Wachstumsmotor taugt“, sagt Robert Hormats, Vizepräsident der New Yorker Investmentbank Goldman Sachs. Das unterscheidet die Situation heute von der Zeit vor dem Golfkrieg 1991, als alle großen Volkswirtschaften auf Hochtouren liefen. Heute steckt Japan in der Dauerkrise, Europa kämpft mit einer tiefen Wachstumsschwäche, Lateinamerika und Asien leben von ihren Exporten nach Amerika. Noch.
Die Deutschen. Während die Amerikaner in den Neunzigern weltweit einkaufen gingen, spielten die Deutschen ihre traditionelle Rolle des globalen Lieferanten. 2002 stiegen die deutschen Exporte fast viermal so stark wie der EU-Durchschnitt. Doch anders als in früheren Krisen brachte der starke Export die hiesige Wirtschaft nicht in Schwung. Der Grund, so Hypovereinsbank-Ökonom Hüfner: „Die Binnennachfrage ist tot wie ein Hund.“
Die deutschen Firmen investieren nicht. Der Verband deutscher Maschinen- und Anlagenbauer fand heraus, dass weit über die Hälfte aller Maschinenbauunternehmen in den nächsten drei Jahren ihre Investitionen kürzen wollen – egal, wie der Krieg im Irak verläuft. Ähnlich negativ ist das Ergebnis einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages unter 25000 Mitgliedsfirmen. Und die deutschen Verbraucher konsumieren nicht. 2002 ist der private Verbrauch zum ersten Mal seit 20 Jahren gesunken. „Das unterscheidet uns von anderen Ländern“, sagt DIW-Forscher Gustav Horn.
Vor allem unterscheidet es die jetzige von früheren Krisen. Die Rezessionen der Sechziger, Siebziger und Neunziger folgten alle einem ähnlichen Muster: Die Wirtschaft brach ein, die Wachstumszahlen rutschten kurz ins Minus, aber der Verbrauch stieg weiter. Nicht gewaltig, denn die Deutschen waren immer sparsam, aber stark genug, dass wenig später ein neuer Aufschwung begann.
Die Regierung Diesmal ist alles anders. "Deutschland befindet sich in einer stagnativen Phase", sagt udo Ludwig, Konjunkturexperte vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Soll heißen: Die Ökonomie schrumpft zwar nicht, aber sie kommt auch nicht in Gang. Erklärungen für die Lähmung gibt es viele: die Schwäche des deutschen Ostens, die hohe Arbeitslosigkeit, eine Bankenkrise, die die Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen bremst, und eine Regierung, die ihre Bürger darüber im Unklaren lässt, ob und wie viel Geld sie für Alter und Krankheit beiseite legen müssen. Die quälende und bislang ergebnislose Reformdebatte belastet Verbraucher wie Unternehmen offenbar ungleich mehr als ein möglicher Krieg: Konsum und Investitionen waren schon schwach, bevor die amerikanischen Soldaten ihre Kasernen verließen.
Auf fast 50 Prozent beziffert Konjunkturforscher Ludwig inzwischen die Möglichkeit, dass es der noch immer drittstärksten Ökonomie der Welt, Deutschland, so ergeht wie der noch immer zweitstärksten: Japan. Dort stagniert die Wirtschaft seit mehr als zehn Jahren. Die Aktienkurse bewegen sich zur Seite, die Arbeitslosigkeit steigt, die Verbraucher kaufen wenig ein. Alles wie in Deutschland. Trotzdem hält Rot-Grün an dem alten Verständnis von Wirtschaftskrisen fest, wonach jedem Abschwung ein Aufschwung folgt. „Die Dauer der Krise wird völlig unterschätzt“, so Ullrich Heilemann, Vizepräsident des Rheinisch-Westfälischen-Instituts für Wirtschaftsforschung. Das wird sich erneut wohl am 14. März zeigen, wenn Gerhard Schröder per Regierungserklärung seinen reformpolitischen Kurs bekannt gibt. Er wird über den Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen sprechen. Doch die meisten Experten sind sich einig: Solche Reformen wirken nur langfristig. Kurzfristig könnte eher ein staatlich finanziertes Konjunkturprogram die Binnennachfrage zum Leben erwecken. Dass die Bundesrepublik damit über die im europäischen Stabilitätspakt festgezurrte Defizitgrenze von drei Prozent rutschen würde, halten immer mehr Ökonomen für eine lässliche Sünde: „Gingen strukturelle Reformen und ein Investitionsprogramm Hand in Hand, darf man gegen die Verletzung der Maastricht-Kriterien keine religiösen Kriege führen“, sagt Deutsche Bank-Volkswirt Norbert Walter.
Die Unsicherheit. Der Abschwung begann um die Jahrtausendwende in Amerika und verbreitete sich rund um den Globus. Weil die Weltwirtschaft vernetzter ist als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, erfasste die Krise schließlich alle wichtigen Wirtschaftsnationen. Für einen neuen Aufschwung wäre deshalb auch ein koordiniertes Vorgehen in der Finanz- und Geldpolitik der großen Wirtschaftsblöcke notwendig. Davon aber war wenig die Rede, als sich kürzlich die Finanzminister der größten sieben Volkswirtschaften des Westens trafen. Vertrauen schaffen sie auf diese Weise nicht. Genau das bräuchte die Welt – selbst nach einem kurzen und erfolgreichen Krieg im Irak. „Die globalen Risiken bleiben auch dann bestehen, in der Wirtschaft und anderswo“, sagt Goldman Sachs-Vize Robert Hormats. Auch nach einem Sturz Saddam Husseins besitzt Nordkorea Massenvernichtungswaffen. Auch dann können Terroristen zuschlagen. Überall und immer.
www.zeit.de/2003/11/Konjunktur