Ersparnisse weg, Versicherungen unsicher, Rente gefährdet: In der Krise merken die Menschen, dass sie von Geld nichts verstehen. Und dass niemand ihnen hilft
Acht von zehn Deutschen rechnen immer noch in Mark statt in Euro. Sieben von zehn verstehen das gesetzliche Rentensystem nicht. Die meisten zahlen zu viel für ihre privaten Versicherungen.
Und Sie? Glauben Sie wirklich, sich mit Geld auszukennen?
Wenn die Lebensversicherer demnächst wieder Post verschicken, lesen es Millionen Kunden schwarz auf weiß: Es gibt einen Unterschied zwischen Garantiezins und Gewinnbeteiligung. Wer aber weiß, dass eine gekürzte Gewinnbeteiligung gleich mehrere zehntausend Euro ausmachen kann?
Wenn elf Millionen deutsche Aktionäre in diesen Tagen ihr Depot kontrollieren, sehen sie vor allem eines: rot. Kaum eine Aktie, die nicht abgestürzt ist, kaum ein Investmentfonds, der noch Gewinn abwirft. Binnen 18 Monaten wurden in Deutschland fast 600 Milliarden Euro Aktienkapital vernichtet. Verführt hat die Anleger der Werbespruch der Investmentgesellschaften, man müsse nur monatlich Fondsanteile kaufen, dann würden über die Jahre hinweg selbst schwere Kursschwankungen ausgeglichen. Ein teurer Irrtum. Verstehen wir tatsächlich, wie die Börse funktioniert?
Dabei ist Geld doch nur Papier, und es zusammenzuhalten gar nicht so schwer. Dachten wir. "Es gibt keine finanzielle Allgemeinbildung", sagt Jürgen Steiner, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Passau. "Nur Einbildung."
So ergeht es uns wie Analphabeten auf dem Bahnhof. Solange es Lautsprecherdurchsagen gibt und Schaffner uns den Weg weisen, finden wir den richtigen Zug - selbst wenn wir die Schilder nicht lesen können. Was aber, wenn die Lautsprecheranlage ausfällt? Wenn uns der Schaffner zum falschen Gleis schickt?
Erst in der Krise merken wir, wie abhängig wir von anderen sind. Dass wir uns selbst nicht helfen können. Weil wir Analphabeten sind: finanzielle Analphabeten.
Wer den richtigen Zug nicht gefunden hat, landet bei Menschen wie Wolfgang Römer. Der 66-Jährige war früher Richter am Bundesgerichtshof, heute ist er so etwas wie der offizielle Beschwerdeonkel der Versicherungskunden. Ombudsmann nennt sich Römer, und jeder, der mit einer Versicherung streitet, kann sich an ihn wenden. Bis zu tausend Leute im Monat schreiben oder rufen in seinem Berliner Büro an. Manchmal hat sie ihr Versicherungsvertreter falsch beraten, manchmal sträubt sich einfach nur der Sachbearbeiter in der Zentrale, ihnen zu helfen. Im Grunde aber haben die frustrierten Kunden alle das gleiche Problem: Sie durchschauen ihre Versicherung nicht. "Eine Versicherung", sagt Römer, "übersteigt den Verständnishorizont jedes Durchschnittsmenschen."
Das allein ist schlimm genug. Schlimmer ist, dass es den Menschen bei allen anderen Finanzprodukten genauso geht. Weil inzwischen niemand mehr durchblickt: Turbo-Bull-Zertifikate, Click-Optionen, Schatzbriefe Typ A oder B, Dynamik-Garant-Fonds und unzählige Varianten der Riester-Rente - wer kennt da noch die Details?
Dabei sollten wir alle den Durchblick haben. Unbedingt. Da die gesetzliche Rente nicht mehr ausreicht, muss jeder privat vorsorgen. Was in Deutschland lange Zeit nur Gedankenspiele waren, wird jetzt bittere Realität: Die staatlichen Rentenreserven sind so niedrig wie nie, die Regierung erhöht die Rentenbeiträge, die Opposition ruft "Wahlbetrug!", und die meisten Bürger verstehen nur, dass sie heute mehr zahlen und künftig weniger haben werden. Wer kann schon in einem Satz erklären, was die Beitragsbemessungsgrenze ist? Die Probleme fangen gerade erst an.
Vielen Menschen fehlen die Voraussetzungen, um Geld auch nur ansatzweise zu verstehen. Vor Einführung des Euro tourte ein Student mit dem Infomobil der EU-Kommission durchs Land, um die Deutschen über die neue Währung zu informieren. "Es war schon schwierig, ihnen die Faustregel zu erklären, dass ein Euro etwa zwei Mark sind", sagt er.
Mit Zahlen, sagt Gerhard Rupprecht, hätten viele Anleger und Verbraucher nichts am Hut. Der Mann muss es wissen: Rupprecht ist Mathematiker - und Vorstandschef der Allianz Lebensversicherung. Mehr als neun Millionen Policen verantwortet der 53-Jährige, so viel wie kein anderer in Deutschland. "Man muss kein Genie sein, um zu verstehen, wie eine Lebensversicherung funktioniert", sagt er. "Ein gewisses Verständnis für Zins und Zinseszins reicht schon aus." Aber wer hat das tatsächlich? "Es gibt Abiturienten, die können nicht mal Prozentrechnen", sagt Rupprecht.
Wie viel Prozent muss eine Aktie zulegen, um 50 Prozent Verlust wieder auszugleichen? 50? Falsch! Es sind 100.
Wir leben in einer Welt, die in vielen Bereichen ziemlich kompliziert geworden ist - und dennoch scheitern die Verbraucher fast ausschließlich in der Disziplin Geld. Beispiel Autokauf: Die technischen Details von Achtzylinder und Fünfganggetriebe verstehen die wenigsten. Dennoch treffen sie meistens die richtige Wahl. Ein Ehepaar mit zwei Kindern und Hund schafft sich einen Kombi an und kein Sportcoupé. "Ein Auto kauft man eben nur für die nächsten vier oder fünf Jahre", sagt Jan Evers von der Hamburger Finanzforschung Evers & Jung, "eine Lebensversicherung dagegen rechnet sich erst nach 30 Jahren". Und wer kann diesen Zeitraum schon überblicken?
Weil Geld ein Tabuthema ist, können wir uns auch nicht gegenseitig helfen. Über Geld spricht man nicht einmal in der Familie. Nur die wenigsten wissen, was ihre Eltern genau verdienen. Oder wie diese ihr Vermögen aufgebaut und angelegt haben. Und anders als ein Auto ist der Umgang mit Geld auch kein Lifestyle-Thema, über das man auf Partys plaudert - es sei denn, man kokettiert mit Börsenverlusten. Ein Bausparvertrag passt eben nicht zu Canapés.
Im Idealfall müsste jeder Haushalt seine Finanzen genauso organisieren, wie das ein Unternehmen macht: mit einer Übersicht aller Einnahmen und Ausgaben und dem genauen Vermögensstand. Volker Looman weiß, dass die Realität anders aussieht. Viele seiner Kunden, erzählt der freie Finanzanalytiker aus Reutlingen, haben den Überblick über ihre Finanzen längst verloren. Und das wird zum Problem. "Bei der Geldanlage ist die ehrliche Selbsteinschätzung das Allerwichtigste", sagt Looman. Bloß: Wenn man nicht weiß, was man hat, weiß man auch nicht, was man braucht.
Falsche Freunde. Finanzielle Analphabeten brauchen Schaffner, die ihnen im Durcheinander des Bahnhofs den Weg weisen. Doch guter Rat ist Glückssache. Die meisten Finanzberater arbeiteten mit Standardkonzepten, haben die Forscher von Cap Gemini Ernst & Young ermittelt. Meist versuchten sie alles, um den Kunden andere als die von ihnen gewünschten Produkte zu verkaufen, heißt es in der Studie. Im Klartext: Man setzt uns alle in den gleichen Zug - und für viele ist es der falsche. "Die Anleger sind nicht wirklich aufgeklärt", sagt der Passauer Wirtschaftsprofessor Steiner. "Deshalb kann man sie auch so leicht über den Tisch ziehen."
Wie die Zahl der Finanzprodukte ist auch die Zahl der Verkäufer rasant gestiegen. 450 000 Versicherungsvertreter, weit mehr als 100 000 Berater bei Banken, Sparkassen und Finanzvertrieben wie MLP, AWD und DVAG - sie alle buhlen in Deutschland um Kunden, und sie alle wollen nur unser Bestes: unser Geld. "Das ist der Grundkonflikt", sagt Marco Habschick von der Finanzforschung Evers & Jung. "Man lässt jemanden für sich arbeiten, der von jemand anders bezahlt wird" - nämlich von der Bank oder Versicherung.
Natürlich gibt es auch gute Berater und individuelle Lösungen. Verhängnisvoll ist nur: Wenn die Sparer merken, dass die Beratung schlecht war, ist es meist zu spät. Weil der empfohlene Aktienfonds um 90 Prozent abgestürzt ist. Oder weil bei Auszahlung der Lebensversicherung bereits 30 Jahre vergangen sind.
Allerdings sind wir finanziellen Analphabeten an einer mangelhaften Beratung nicht schuldlos. Genau wie Leute, die nicht lesen können, geben wir unsere Schwäche ungern zu. "Die meisten Menschen fragen vor dem Vertragsabschluss nicht richtig nach", sagt Wolfgang Römer, der Ombudsmann für Versicherungen. "Fragen die Kunden aber doch, ist es so kompliziert, dass sie es nicht verstehen und dann nicht wagen, noch einmal nachzufragen. Oder der Vertreter erklärt es falsch, weil er es selber nicht weiß."
Selbst wer seine Schwäche eingesteht, kann den falschen Weg gezeigt bekommen. Denn finanzielle Analphabeten gibt es auch dort, wo man sie nicht vermutet: zum Beispiel in Banken. Wenige Wochen vor der Euro-Umstellung rief der Filialleiter einer süddeutschen Sparkasse einen ihm bekannten Finanzexperten an und bat ihn, seinen Mitarbeitern etwas zur Umrechnung zu erzählen. "Als ich hereinkam, saßen die alle hoffnungsvoll am Tisch mit aufgeklappten Notizblöcken", erinnert sich der Referent. "Die wollten tatsächlich wissen, ob die Menschen nach der Umstellung mehr oder weniger Geld haben. Ein Teil konnte nicht einmal den Dreisatz rechnen."
Finanzgurus wie Bodo Schäfer verdienen mit der Unwissenheit der Anleger viel Geld. Der Buchautor verheißt den Weg zur finanziellen Freiheit, verspricht Wohlstand ohne Stress und kennt Die Gesetze der Gewinner. Schäfer schaffte es damit bis in die Spitze der Bestsellerlisten. Endlich mehr verdienen, heißt sein neuestes Buch, doch der Guru, behauptet ein Konkurrenzverlag, soll in einem Kapitel kräftig abgeschrieben haben. Auch so verdient man mehr. Schäfer bestreitet die Vorwürfe.
Profiteure des Unglücks. Unfähig, unsere Fehler einzusehen, suchen wir die Schuld am liebsten bei anderen. Zum Beispiel bei Managern, die Bilanzen schönen und mit windigen Zahlen tricksen. Als ob wir die Zahlen verstanden hätten, wenn sie korrekt gewesen wären. Jetzt sollen uns die Gerichte zurückgeben, was uns die Börse nahm - und dabei riskieren wir noch mehr Geld. Wer ein 50 000-Euro-Verfahren in allen Instanzen verliert, muss mit Kosten von mehr als 25 000 Euro rechnen.
Enttäuschte Kleinaktionäre sind für Anwälte eine lukrative Klientel. Die hierzulande noch junge Gruppe der Anlegeranwälte zeichnet sich vor allem durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit aus. Einen Namen hat sich die Kanzlei Rotter aus Grünwald oder Tilp & Kälberer aus Kirchentellinsfurt bei Tübingen gemacht. Kaum ein Unternehmen, das noch nicht auf Schadenersatz verklagt worden ist: Der Filmrechtehändler EM.TV, andere Neue-Markt-Firmen wie Metabox oder Infomatec, aber auch Dax-Schwergewichte wie die Deutsche Telekom. Ende vergangener Woche verklagte Rotter - laut Eigenwerbung die "Kanzlei für Wertpapieranleger" - im Namen von 150 Anlegern den ehemaligen Comroad-Chef Bodo Schnabel wegen Bilanzfälschung.
Auch die Juristen der Anlegerschutzvereine gehen gern an die Öffentlichkeit. Der wohl prominenteste unter ihnen ist Klaus Nieding, Rechtsanwalt aus Frankfurt, Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) und Präsident des Deutschen Anlegerschutzbundes (DASB). In seiner Pressemitteilung vom 27. Juni 2002 verweist "der renommierte Anlegervertreter" (Selbstauskunft) auf angeblich steigende Erfolgschancen seiner zahlreichen Prozesse gegen eine Schweizer Privatbank: "Millionenklagen gegen Julius Bär offenbar gerechtfertigt" - dabei hatte das Gericht den Parteien bloß nahe gelegt, einen Vergleich zu schließen.
Die Hoffnung vieler Anleger, Gerichte würden ihnen zurückgeben, was ihnen die Börse nahm, wird oft enttäuscht. Beispiel Infomatec: 50 Euro kostete die Aktie der Softwarefirma zu Spitzenzeiten am Neuen Markt, heute sind es 5 Cent - Kursverlust 99,9 Prozent. Weil die beiden Vorstände Aufträge nur vorgetäuscht haben sollen, sprach das Landgericht Augsburg im vergangenen Sommer einem Anleger knapp 100 000 Mark Schadenersatz zu. Die Entscheidung, von der Kanzlei Rotter erstritten und prompt als "Meilenstein im über hundertjährigen deutschen Aktienrecht" bezeichnet, war zwar tatsächlich neu - nie zuvor konnte ein Aktionär die Führungsriege eines Unternehmens persönlich haftbar machen. Aber vor wenigen Wochen kippte das Oberlandesgericht München das Urteil; nun muss der Bundesgerichtshof entscheiden.
Amerikas Albtraum. Finanzielle Analphabeten gibt es überall. Weil Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten nicht ausreichend vorsorgen, können sie ihren Lebensstandard nicht halten, wenn sie in Rente gehen. Aber: In den USA wird dieses Problem wenigstens öffentlich diskutiert. Bereits Ende der neunziger Jahre warnte der damalige Chef der amerikanischen Börsenaufsicht SEC, Arthur Levitt, die finanzielle Bildung zu vernachlässigen. Diese Ignoranz könne noch "sehr gefährlich" werden. Und in diesem Mai bestätigte das National Summit on Economic and Financial Literacy - das landesweit erste Gipfeltreffen zu diesem Thema - die böse Ahnung: Die amerikanische Durchschnittsfamilie hat 8000 Dollar Konsumschulden; 14 Prozent des verfügbaren Einkommens gehen allein für Zinsen drauf. Jeder zehnte Student mit eigener Kreditkarte steht mit mehr als 7000 Dollar in der Kreide.
Nichtkommerzielle Organisationen wie Financial Literacy 2010 (FL 2010)wollen vor allem die Lehrer an den Schulen finanziell weiterbilden. Mehr als 40 000 von ihnen hat FL 2010mit Unterrichtsmaterial versorgt, rund 9000 Lehrer besuchen Seminare über die Grundlagen des Sparens und die Präsentation von Finanzthemen im Unterricht. So wollen sie ändern, dass 78 Prozent der Amerikaner zwar die Namen von TV-Serienfiguren kennen, aber nur 12 Prozent den Unterschied zwischen einem Investmentfonds mit und ohne Ausgabeaufschlag. Es ist ein Langzeitprojekt. "Das dauert eine Generation", sagt Lewis Mandell, Professor an der University at Buffalo School of Management, bis sich neue Lehrmethoden im Schülerverhalten widerspiegeln.
Und die Arbeit ist mühsam. In Multiple-Choice-Tests bittet Mandell die Schüler amerikanischer Highschools regelmäßig, die richtigen Antworten anzukreuzen: Welche Probleme bringt Inflation mit sich? Welche Versicherung hilft bei einem Autounfall? Das Ergebnis der diesjährigen Umfrage: "From bad to worse" - die Schüler werden immer dümmer. Im Durchschnitt wussten sie gerade mal auf jede zweite Frage die korrekte Antwort.
Das Fatale: Selbst in einem Land mit vorwiegend privater Altersvorsorge interessiert sich kaum jemand für den richtigen Umgang mit Geld. Der Anteil der US-Schüler, die Kurse in persönlicher Finanzplanung belegen, sinkt.
Vielleicht hilft da ja die Wirtschaftskrise. "Die Menschen werden gezwungen, mit weniger Geld mehr zu erreichen", sagt Lewis Mandell. Rezession macht klug.
Deutsches Dilemma. In Deutschland gibt es zur Hoffnung keinen Grund: Finanzielle Allgemeinbildung ist kein Thema, niemand fühlt sich zuständig.
Der Staat? Verpflichtet seine Bürger zur privaten Altersvorsorge, kümmert sich aber nicht um die Information. "In unseren Prospekten müssen wir den Menschen erst einmal ausführlich erklären, was sich in der gesetzlichen Rentenversicherung künftig ändert", sagt Allianz-Leben-Chef Rupprecht. "Die Politik vernachlässigt ihre Aufgaben."
Die Schulen? Sind weit davon entfernt, "allen Schülern eine ökonomische Grundbildung als Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung zu vermitteln", kritisiert Reinhold Weiß vom Institut der deutschen Wirtschaft. Dabei gibt der Staat jedes Jahr rund 40 Milliarden Euro für Bildung aus: zum Beispiel für Biologiebücher, Landkarten und die Gehälter von Kunstlehrern. Nur für den Umgang mit Geld ist kein Geld da.
Zwar stellen in den kommenden Jahren fast alle Bundesländer ihre Lehrpläne um. An Hamburgs Gymnasien etwa wird von 2003 an in den Klassen 8 bis 10 das neue Fach Politik/Gesellschaft/Wirtschaft zur Pflicht. Aber das ist bloß ein kleiner Fortschritt. "Integrierte Fächer sind nur die zweitbeste Lösung", sagt Ulrike Lexis von der Bertelsmann Stiftung. An dem neuen Fach hat Wirtschaft eben nur einen Anteil von einem Drittel. Und wie groß daran dann der Anteil der finanziellen Bildung sein könnte, ist offen. "Ohne die private Lebenssituation mit einzubeziehen - etwa als Konsument oder Steuerzahler -, wäre das eine blutleere Veranstaltung", kritisiert Hans Kaminski, Professor am Institut für ökonomische Bildung der Universität Oldenburg.
Können ein paar Schulstunden im Halbjahr einem Jugendlichen tatsächlich helfen, seine Finanzen irgendwann optimal zu regeln? Bewahren sie ihn davor, sich später von Beratern und falschen Freunden ausnehmen zu lassen? Schützen sie ihn vor einem Alter in Armut?
Wichtig ist: dass wir uns eingestehen, finanzielle Analphabeten zu sein. Dass wir Hilfe brauchen, um uns irgendwann selbst helfen zu können. Finanzielles Grundwissen ist das Minimum, damit wäre schon viel erreicht. Nie einen Fehler zu machen bleibt eine Illusion. Wenn es um Geld geht, scheitern selbst Profis.
Die Ego-Falle. Natürlich gibt es Menschen, die das staatliche Rentensystem verstehen. Die einen exakten Überblick über ihre Finanzlage haben. Und die sehr gut wissen, dass ihr Bankberater vor allem die Interessen seines Arbeitgebers im Blick hat. Auch sie können irren.
"Wissen allein schützt nicht", sagt der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr. Auch ein Alkoholiker weiß im Grunde, dass Alkohol nicht gut für ihn ist - und trinkt dennoch. Weil Ungeduld oder Willensschwäche unser Handeln beeinflussen. "Selbst wenn die Menschen die besten Mittel kennen, sind sie manchmal nicht in der Lage, diese Mittel auch anzuwenden", sagt Fehr. Zwei Drittel der US-Bürger glauben, dass sie fürs Alter zu wenig vorsorgen, heißt es zum Beispiel in einer Studie der Investmentbank UBS Warburg. Mehr als ein Drittel will daher mehr sparen. Fragt man jedoch einige Monate später nach, haben die wenigsten mehr Geld auf die Seite gelegt.
In Experimenten und Simulationen erforschen Ökonomen wie Fehr seit langem, warum sich sogar gebildete Menschen im Wirtschaftsleben kurzfristig anders verhalten, als es ihren langfristigen Interessen entspricht. Das hat mehrere Gründe: Wir alle sind zu sehr von uns überzeugt - overconfidence nennen das die Wissenschaftler. 70 Prozent der Autofahrer sagen von sich, dass sie überdurchschnittlich gut fahren. 90 Prozent der Fondsmanager behaupten, dass sie den Vergleichsindex schlagen. Kaum einem gelingt es wirklich. Weil wir glauben, dass wir besser sind als andere, halten wir zum Beispiel an unserer Investmentstrategie fest - obwohl längst nichts mehr für dieses Investment spricht.
Doch zu lernen fällt uns schwer. Manchen Fehler mögen wir begreifen, aber wenn die Ausgangslage beim nächsten Mal nur ein wenig anders aussieht, erkennen wir das Muster nicht mehr wieder. Und handeln erneut entgegen dem eigenen Interesse.
Als der amerikanische Aktienindex Dow Jones noch kletterte und nahezu jeder Aktien und Fondsanteile kaufte, befragte ein Forscherteam private Fondsbesitzer. Was würden Sie tun, wenn der Dow Jones bei 8000 Punkten steht und plötzlich um fünf Prozent fällt? Jeder Siebte gab an, keine neuen Fondsanteile zu kaufen. Zweite Frage: Was würden Sie tun, wenn der Index um 400 Punkte fällt? Da wollten fast doppelt so viele aufhören zu investieren - obwohl der Absturz des Dow identisch war. Gleiche Situation, ganz anderes Verhalten.
Rationaler Umgang mit Geld ist eine Seltenheit. Deshalb wiederholen sich am Aktienmarkt seit Jahrhunderten die Übertreibungen, Fehleinschätzungen und Exzesse. Deshalb spekulierten die Niederländer 1637 mit Tulpenzwiebeln, bis diese so viel kosteten wie ein Einfamilienhaus. Deshalb konnte ein findiger Brite Anfang des 18. Jahrhunderts Tausende Menschen dazu bringen, sich an seiner wirren Idee finanziell zu beteiligen - der "Gesellschaft zur Durchführung eines überaus nützlichen Unternehmens, das aber noch niemand kennt". Und deshalb stürzten sich viele Tausende Kleinaktionäre noch im Jahr 2000 ins Abenteuer Neuer Markt, obwohl bereits damals das Bundeskriminalamt vor "Straftaten im Umfeld des Kapitalanlagebetruges" warnte.
"Finanzgenie ist man nur bis zum Bankrott", spottet der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith. "Es ist eine trügerische Vorstellung, Geld und Intelligenz müssten miteinander einhergehen."
Acht von zehn Deutschen rechnen immer noch in Mark statt in Euro. Sieben von zehn verstehen das gesetzliche Rentensystem nicht. Die meisten zahlen zu viel für ihre privaten Versicherungen.
Und Sie? Glauben Sie wirklich, sich mit Geld auszukennen?
Wenn die Lebensversicherer demnächst wieder Post verschicken, lesen es Millionen Kunden schwarz auf weiß: Es gibt einen Unterschied zwischen Garantiezins und Gewinnbeteiligung. Wer aber weiß, dass eine gekürzte Gewinnbeteiligung gleich mehrere zehntausend Euro ausmachen kann?
Wenn elf Millionen deutsche Aktionäre in diesen Tagen ihr Depot kontrollieren, sehen sie vor allem eines: rot. Kaum eine Aktie, die nicht abgestürzt ist, kaum ein Investmentfonds, der noch Gewinn abwirft. Binnen 18 Monaten wurden in Deutschland fast 600 Milliarden Euro Aktienkapital vernichtet. Verführt hat die Anleger der Werbespruch der Investmentgesellschaften, man müsse nur monatlich Fondsanteile kaufen, dann würden über die Jahre hinweg selbst schwere Kursschwankungen ausgeglichen. Ein teurer Irrtum. Verstehen wir tatsächlich, wie die Börse funktioniert?
Dabei ist Geld doch nur Papier, und es zusammenzuhalten gar nicht so schwer. Dachten wir. "Es gibt keine finanzielle Allgemeinbildung", sagt Jürgen Steiner, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Passau. "Nur Einbildung."
So ergeht es uns wie Analphabeten auf dem Bahnhof. Solange es Lautsprecherdurchsagen gibt und Schaffner uns den Weg weisen, finden wir den richtigen Zug - selbst wenn wir die Schilder nicht lesen können. Was aber, wenn die Lautsprecheranlage ausfällt? Wenn uns der Schaffner zum falschen Gleis schickt?
Erst in der Krise merken wir, wie abhängig wir von anderen sind. Dass wir uns selbst nicht helfen können. Weil wir Analphabeten sind: finanzielle Analphabeten.
Wer den richtigen Zug nicht gefunden hat, landet bei Menschen wie Wolfgang Römer. Der 66-Jährige war früher Richter am Bundesgerichtshof, heute ist er so etwas wie der offizielle Beschwerdeonkel der Versicherungskunden. Ombudsmann nennt sich Römer, und jeder, der mit einer Versicherung streitet, kann sich an ihn wenden. Bis zu tausend Leute im Monat schreiben oder rufen in seinem Berliner Büro an. Manchmal hat sie ihr Versicherungsvertreter falsch beraten, manchmal sträubt sich einfach nur der Sachbearbeiter in der Zentrale, ihnen zu helfen. Im Grunde aber haben die frustrierten Kunden alle das gleiche Problem: Sie durchschauen ihre Versicherung nicht. "Eine Versicherung", sagt Römer, "übersteigt den Verständnishorizont jedes Durchschnittsmenschen."
Das allein ist schlimm genug. Schlimmer ist, dass es den Menschen bei allen anderen Finanzprodukten genauso geht. Weil inzwischen niemand mehr durchblickt: Turbo-Bull-Zertifikate, Click-Optionen, Schatzbriefe Typ A oder B, Dynamik-Garant-Fonds und unzählige Varianten der Riester-Rente - wer kennt da noch die Details?
Dabei sollten wir alle den Durchblick haben. Unbedingt. Da die gesetzliche Rente nicht mehr ausreicht, muss jeder privat vorsorgen. Was in Deutschland lange Zeit nur Gedankenspiele waren, wird jetzt bittere Realität: Die staatlichen Rentenreserven sind so niedrig wie nie, die Regierung erhöht die Rentenbeiträge, die Opposition ruft "Wahlbetrug!", und die meisten Bürger verstehen nur, dass sie heute mehr zahlen und künftig weniger haben werden. Wer kann schon in einem Satz erklären, was die Beitragsbemessungsgrenze ist? Die Probleme fangen gerade erst an.
Vielen Menschen fehlen die Voraussetzungen, um Geld auch nur ansatzweise zu verstehen. Vor Einführung des Euro tourte ein Student mit dem Infomobil der EU-Kommission durchs Land, um die Deutschen über die neue Währung zu informieren. "Es war schon schwierig, ihnen die Faustregel zu erklären, dass ein Euro etwa zwei Mark sind", sagt er.
Mit Zahlen, sagt Gerhard Rupprecht, hätten viele Anleger und Verbraucher nichts am Hut. Der Mann muss es wissen: Rupprecht ist Mathematiker - und Vorstandschef der Allianz Lebensversicherung. Mehr als neun Millionen Policen verantwortet der 53-Jährige, so viel wie kein anderer in Deutschland. "Man muss kein Genie sein, um zu verstehen, wie eine Lebensversicherung funktioniert", sagt er. "Ein gewisses Verständnis für Zins und Zinseszins reicht schon aus." Aber wer hat das tatsächlich? "Es gibt Abiturienten, die können nicht mal Prozentrechnen", sagt Rupprecht.
Wie viel Prozent muss eine Aktie zulegen, um 50 Prozent Verlust wieder auszugleichen? 50? Falsch! Es sind 100.
Wir leben in einer Welt, die in vielen Bereichen ziemlich kompliziert geworden ist - und dennoch scheitern die Verbraucher fast ausschließlich in der Disziplin Geld. Beispiel Autokauf: Die technischen Details von Achtzylinder und Fünfganggetriebe verstehen die wenigsten. Dennoch treffen sie meistens die richtige Wahl. Ein Ehepaar mit zwei Kindern und Hund schafft sich einen Kombi an und kein Sportcoupé. "Ein Auto kauft man eben nur für die nächsten vier oder fünf Jahre", sagt Jan Evers von der Hamburger Finanzforschung Evers & Jung, "eine Lebensversicherung dagegen rechnet sich erst nach 30 Jahren". Und wer kann diesen Zeitraum schon überblicken?
Weil Geld ein Tabuthema ist, können wir uns auch nicht gegenseitig helfen. Über Geld spricht man nicht einmal in der Familie. Nur die wenigsten wissen, was ihre Eltern genau verdienen. Oder wie diese ihr Vermögen aufgebaut und angelegt haben. Und anders als ein Auto ist der Umgang mit Geld auch kein Lifestyle-Thema, über das man auf Partys plaudert - es sei denn, man kokettiert mit Börsenverlusten. Ein Bausparvertrag passt eben nicht zu Canapés.
Im Idealfall müsste jeder Haushalt seine Finanzen genauso organisieren, wie das ein Unternehmen macht: mit einer Übersicht aller Einnahmen und Ausgaben und dem genauen Vermögensstand. Volker Looman weiß, dass die Realität anders aussieht. Viele seiner Kunden, erzählt der freie Finanzanalytiker aus Reutlingen, haben den Überblick über ihre Finanzen längst verloren. Und das wird zum Problem. "Bei der Geldanlage ist die ehrliche Selbsteinschätzung das Allerwichtigste", sagt Looman. Bloß: Wenn man nicht weiß, was man hat, weiß man auch nicht, was man braucht.
Falsche Freunde. Finanzielle Analphabeten brauchen Schaffner, die ihnen im Durcheinander des Bahnhofs den Weg weisen. Doch guter Rat ist Glückssache. Die meisten Finanzberater arbeiteten mit Standardkonzepten, haben die Forscher von Cap Gemini Ernst & Young ermittelt. Meist versuchten sie alles, um den Kunden andere als die von ihnen gewünschten Produkte zu verkaufen, heißt es in der Studie. Im Klartext: Man setzt uns alle in den gleichen Zug - und für viele ist es der falsche. "Die Anleger sind nicht wirklich aufgeklärt", sagt der Passauer Wirtschaftsprofessor Steiner. "Deshalb kann man sie auch so leicht über den Tisch ziehen."
Wie die Zahl der Finanzprodukte ist auch die Zahl der Verkäufer rasant gestiegen. 450 000 Versicherungsvertreter, weit mehr als 100 000 Berater bei Banken, Sparkassen und Finanzvertrieben wie MLP, AWD und DVAG - sie alle buhlen in Deutschland um Kunden, und sie alle wollen nur unser Bestes: unser Geld. "Das ist der Grundkonflikt", sagt Marco Habschick von der Finanzforschung Evers & Jung. "Man lässt jemanden für sich arbeiten, der von jemand anders bezahlt wird" - nämlich von der Bank oder Versicherung.
Natürlich gibt es auch gute Berater und individuelle Lösungen. Verhängnisvoll ist nur: Wenn die Sparer merken, dass die Beratung schlecht war, ist es meist zu spät. Weil der empfohlene Aktienfonds um 90 Prozent abgestürzt ist. Oder weil bei Auszahlung der Lebensversicherung bereits 30 Jahre vergangen sind.
Allerdings sind wir finanziellen Analphabeten an einer mangelhaften Beratung nicht schuldlos. Genau wie Leute, die nicht lesen können, geben wir unsere Schwäche ungern zu. "Die meisten Menschen fragen vor dem Vertragsabschluss nicht richtig nach", sagt Wolfgang Römer, der Ombudsmann für Versicherungen. "Fragen die Kunden aber doch, ist es so kompliziert, dass sie es nicht verstehen und dann nicht wagen, noch einmal nachzufragen. Oder der Vertreter erklärt es falsch, weil er es selber nicht weiß."
Selbst wer seine Schwäche eingesteht, kann den falschen Weg gezeigt bekommen. Denn finanzielle Analphabeten gibt es auch dort, wo man sie nicht vermutet: zum Beispiel in Banken. Wenige Wochen vor der Euro-Umstellung rief der Filialleiter einer süddeutschen Sparkasse einen ihm bekannten Finanzexperten an und bat ihn, seinen Mitarbeitern etwas zur Umrechnung zu erzählen. "Als ich hereinkam, saßen die alle hoffnungsvoll am Tisch mit aufgeklappten Notizblöcken", erinnert sich der Referent. "Die wollten tatsächlich wissen, ob die Menschen nach der Umstellung mehr oder weniger Geld haben. Ein Teil konnte nicht einmal den Dreisatz rechnen."
Finanzgurus wie Bodo Schäfer verdienen mit der Unwissenheit der Anleger viel Geld. Der Buchautor verheißt den Weg zur finanziellen Freiheit, verspricht Wohlstand ohne Stress und kennt Die Gesetze der Gewinner. Schäfer schaffte es damit bis in die Spitze der Bestsellerlisten. Endlich mehr verdienen, heißt sein neuestes Buch, doch der Guru, behauptet ein Konkurrenzverlag, soll in einem Kapitel kräftig abgeschrieben haben. Auch so verdient man mehr. Schäfer bestreitet die Vorwürfe.
Profiteure des Unglücks. Unfähig, unsere Fehler einzusehen, suchen wir die Schuld am liebsten bei anderen. Zum Beispiel bei Managern, die Bilanzen schönen und mit windigen Zahlen tricksen. Als ob wir die Zahlen verstanden hätten, wenn sie korrekt gewesen wären. Jetzt sollen uns die Gerichte zurückgeben, was uns die Börse nahm - und dabei riskieren wir noch mehr Geld. Wer ein 50 000-Euro-Verfahren in allen Instanzen verliert, muss mit Kosten von mehr als 25 000 Euro rechnen.
Enttäuschte Kleinaktionäre sind für Anwälte eine lukrative Klientel. Die hierzulande noch junge Gruppe der Anlegeranwälte zeichnet sich vor allem durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit aus. Einen Namen hat sich die Kanzlei Rotter aus Grünwald oder Tilp & Kälberer aus Kirchentellinsfurt bei Tübingen gemacht. Kaum ein Unternehmen, das noch nicht auf Schadenersatz verklagt worden ist: Der Filmrechtehändler EM.TV, andere Neue-Markt-Firmen wie Metabox oder Infomatec, aber auch Dax-Schwergewichte wie die Deutsche Telekom. Ende vergangener Woche verklagte Rotter - laut Eigenwerbung die "Kanzlei für Wertpapieranleger" - im Namen von 150 Anlegern den ehemaligen Comroad-Chef Bodo Schnabel wegen Bilanzfälschung.
Auch die Juristen der Anlegerschutzvereine gehen gern an die Öffentlichkeit. Der wohl prominenteste unter ihnen ist Klaus Nieding, Rechtsanwalt aus Frankfurt, Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) und Präsident des Deutschen Anlegerschutzbundes (DASB). In seiner Pressemitteilung vom 27. Juni 2002 verweist "der renommierte Anlegervertreter" (Selbstauskunft) auf angeblich steigende Erfolgschancen seiner zahlreichen Prozesse gegen eine Schweizer Privatbank: "Millionenklagen gegen Julius Bär offenbar gerechtfertigt" - dabei hatte das Gericht den Parteien bloß nahe gelegt, einen Vergleich zu schließen.
Die Hoffnung vieler Anleger, Gerichte würden ihnen zurückgeben, was ihnen die Börse nahm, wird oft enttäuscht. Beispiel Infomatec: 50 Euro kostete die Aktie der Softwarefirma zu Spitzenzeiten am Neuen Markt, heute sind es 5 Cent - Kursverlust 99,9 Prozent. Weil die beiden Vorstände Aufträge nur vorgetäuscht haben sollen, sprach das Landgericht Augsburg im vergangenen Sommer einem Anleger knapp 100 000 Mark Schadenersatz zu. Die Entscheidung, von der Kanzlei Rotter erstritten und prompt als "Meilenstein im über hundertjährigen deutschen Aktienrecht" bezeichnet, war zwar tatsächlich neu - nie zuvor konnte ein Aktionär die Führungsriege eines Unternehmens persönlich haftbar machen. Aber vor wenigen Wochen kippte das Oberlandesgericht München das Urteil; nun muss der Bundesgerichtshof entscheiden.
Amerikas Albtraum. Finanzielle Analphabeten gibt es überall. Weil Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten nicht ausreichend vorsorgen, können sie ihren Lebensstandard nicht halten, wenn sie in Rente gehen. Aber: In den USA wird dieses Problem wenigstens öffentlich diskutiert. Bereits Ende der neunziger Jahre warnte der damalige Chef der amerikanischen Börsenaufsicht SEC, Arthur Levitt, die finanzielle Bildung zu vernachlässigen. Diese Ignoranz könne noch "sehr gefährlich" werden. Und in diesem Mai bestätigte das National Summit on Economic and Financial Literacy - das landesweit erste Gipfeltreffen zu diesem Thema - die böse Ahnung: Die amerikanische Durchschnittsfamilie hat 8000 Dollar Konsumschulden; 14 Prozent des verfügbaren Einkommens gehen allein für Zinsen drauf. Jeder zehnte Student mit eigener Kreditkarte steht mit mehr als 7000 Dollar in der Kreide.
Nichtkommerzielle Organisationen wie Financial Literacy 2010 (FL 2010)wollen vor allem die Lehrer an den Schulen finanziell weiterbilden. Mehr als 40 000 von ihnen hat FL 2010mit Unterrichtsmaterial versorgt, rund 9000 Lehrer besuchen Seminare über die Grundlagen des Sparens und die Präsentation von Finanzthemen im Unterricht. So wollen sie ändern, dass 78 Prozent der Amerikaner zwar die Namen von TV-Serienfiguren kennen, aber nur 12 Prozent den Unterschied zwischen einem Investmentfonds mit und ohne Ausgabeaufschlag. Es ist ein Langzeitprojekt. "Das dauert eine Generation", sagt Lewis Mandell, Professor an der University at Buffalo School of Management, bis sich neue Lehrmethoden im Schülerverhalten widerspiegeln.
Und die Arbeit ist mühsam. In Multiple-Choice-Tests bittet Mandell die Schüler amerikanischer Highschools regelmäßig, die richtigen Antworten anzukreuzen: Welche Probleme bringt Inflation mit sich? Welche Versicherung hilft bei einem Autounfall? Das Ergebnis der diesjährigen Umfrage: "From bad to worse" - die Schüler werden immer dümmer. Im Durchschnitt wussten sie gerade mal auf jede zweite Frage die korrekte Antwort.
Das Fatale: Selbst in einem Land mit vorwiegend privater Altersvorsorge interessiert sich kaum jemand für den richtigen Umgang mit Geld. Der Anteil der US-Schüler, die Kurse in persönlicher Finanzplanung belegen, sinkt.
Vielleicht hilft da ja die Wirtschaftskrise. "Die Menschen werden gezwungen, mit weniger Geld mehr zu erreichen", sagt Lewis Mandell. Rezession macht klug.
Deutsches Dilemma. In Deutschland gibt es zur Hoffnung keinen Grund: Finanzielle Allgemeinbildung ist kein Thema, niemand fühlt sich zuständig.
Der Staat? Verpflichtet seine Bürger zur privaten Altersvorsorge, kümmert sich aber nicht um die Information. "In unseren Prospekten müssen wir den Menschen erst einmal ausführlich erklären, was sich in der gesetzlichen Rentenversicherung künftig ändert", sagt Allianz-Leben-Chef Rupprecht. "Die Politik vernachlässigt ihre Aufgaben."
Die Schulen? Sind weit davon entfernt, "allen Schülern eine ökonomische Grundbildung als Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung zu vermitteln", kritisiert Reinhold Weiß vom Institut der deutschen Wirtschaft. Dabei gibt der Staat jedes Jahr rund 40 Milliarden Euro für Bildung aus: zum Beispiel für Biologiebücher, Landkarten und die Gehälter von Kunstlehrern. Nur für den Umgang mit Geld ist kein Geld da.
Zwar stellen in den kommenden Jahren fast alle Bundesländer ihre Lehrpläne um. An Hamburgs Gymnasien etwa wird von 2003 an in den Klassen 8 bis 10 das neue Fach Politik/Gesellschaft/Wirtschaft zur Pflicht. Aber das ist bloß ein kleiner Fortschritt. "Integrierte Fächer sind nur die zweitbeste Lösung", sagt Ulrike Lexis von der Bertelsmann Stiftung. An dem neuen Fach hat Wirtschaft eben nur einen Anteil von einem Drittel. Und wie groß daran dann der Anteil der finanziellen Bildung sein könnte, ist offen. "Ohne die private Lebenssituation mit einzubeziehen - etwa als Konsument oder Steuerzahler -, wäre das eine blutleere Veranstaltung", kritisiert Hans Kaminski, Professor am Institut für ökonomische Bildung der Universität Oldenburg.
Können ein paar Schulstunden im Halbjahr einem Jugendlichen tatsächlich helfen, seine Finanzen irgendwann optimal zu regeln? Bewahren sie ihn davor, sich später von Beratern und falschen Freunden ausnehmen zu lassen? Schützen sie ihn vor einem Alter in Armut?
Wichtig ist: dass wir uns eingestehen, finanzielle Analphabeten zu sein. Dass wir Hilfe brauchen, um uns irgendwann selbst helfen zu können. Finanzielles Grundwissen ist das Minimum, damit wäre schon viel erreicht. Nie einen Fehler zu machen bleibt eine Illusion. Wenn es um Geld geht, scheitern selbst Profis.
Die Ego-Falle. Natürlich gibt es Menschen, die das staatliche Rentensystem verstehen. Die einen exakten Überblick über ihre Finanzlage haben. Und die sehr gut wissen, dass ihr Bankberater vor allem die Interessen seines Arbeitgebers im Blick hat. Auch sie können irren.
"Wissen allein schützt nicht", sagt der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr. Auch ein Alkoholiker weiß im Grunde, dass Alkohol nicht gut für ihn ist - und trinkt dennoch. Weil Ungeduld oder Willensschwäche unser Handeln beeinflussen. "Selbst wenn die Menschen die besten Mittel kennen, sind sie manchmal nicht in der Lage, diese Mittel auch anzuwenden", sagt Fehr. Zwei Drittel der US-Bürger glauben, dass sie fürs Alter zu wenig vorsorgen, heißt es zum Beispiel in einer Studie der Investmentbank UBS Warburg. Mehr als ein Drittel will daher mehr sparen. Fragt man jedoch einige Monate später nach, haben die wenigsten mehr Geld auf die Seite gelegt.
In Experimenten und Simulationen erforschen Ökonomen wie Fehr seit langem, warum sich sogar gebildete Menschen im Wirtschaftsleben kurzfristig anders verhalten, als es ihren langfristigen Interessen entspricht. Das hat mehrere Gründe: Wir alle sind zu sehr von uns überzeugt - overconfidence nennen das die Wissenschaftler. 70 Prozent der Autofahrer sagen von sich, dass sie überdurchschnittlich gut fahren. 90 Prozent der Fondsmanager behaupten, dass sie den Vergleichsindex schlagen. Kaum einem gelingt es wirklich. Weil wir glauben, dass wir besser sind als andere, halten wir zum Beispiel an unserer Investmentstrategie fest - obwohl längst nichts mehr für dieses Investment spricht.
Doch zu lernen fällt uns schwer. Manchen Fehler mögen wir begreifen, aber wenn die Ausgangslage beim nächsten Mal nur ein wenig anders aussieht, erkennen wir das Muster nicht mehr wieder. Und handeln erneut entgegen dem eigenen Interesse.
Als der amerikanische Aktienindex Dow Jones noch kletterte und nahezu jeder Aktien und Fondsanteile kaufte, befragte ein Forscherteam private Fondsbesitzer. Was würden Sie tun, wenn der Dow Jones bei 8000 Punkten steht und plötzlich um fünf Prozent fällt? Jeder Siebte gab an, keine neuen Fondsanteile zu kaufen. Zweite Frage: Was würden Sie tun, wenn der Index um 400 Punkte fällt? Da wollten fast doppelt so viele aufhören zu investieren - obwohl der Absturz des Dow identisch war. Gleiche Situation, ganz anderes Verhalten.
Rationaler Umgang mit Geld ist eine Seltenheit. Deshalb wiederholen sich am Aktienmarkt seit Jahrhunderten die Übertreibungen, Fehleinschätzungen und Exzesse. Deshalb spekulierten die Niederländer 1637 mit Tulpenzwiebeln, bis diese so viel kosteten wie ein Einfamilienhaus. Deshalb konnte ein findiger Brite Anfang des 18. Jahrhunderts Tausende Menschen dazu bringen, sich an seiner wirren Idee finanziell zu beteiligen - der "Gesellschaft zur Durchführung eines überaus nützlichen Unternehmens, das aber noch niemand kennt". Und deshalb stürzten sich viele Tausende Kleinaktionäre noch im Jahr 2000 ins Abenteuer Neuer Markt, obwohl bereits damals das Bundeskriminalamt vor "Straftaten im Umfeld des Kapitalanlagebetruges" warnte.
"Finanzgenie ist man nur bis zum Bankrott", spottet der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith. "Es ist eine trügerische Vorstellung, Geld und Intelligenz müssten miteinander einhergehen."