Wahlkampf - Wer ist Trumpf an der Börse?
Die Kurse seit Monaten auf Talfahrt - sehnsüchtig Warten Investoren auf die Wende. Kann die Wahl am22. September sie bringen?
Gerhard Schröder wollte sich nicht lumpen lassen. Es musste schon der Französische Dom in Berlin sein, wo der Kanzler seinen letzten großen Trumpf ausspielen wollte: den Bericht der Hartz-Kommission. Vor 500 geladenen Gästen präsentierte VW-Personalvorstand Peter Hartz das 251 Seiten starke Papier. Der Riesenaufwand hatte nur einen Grund: Es herrscht Wahlkampf. Und der Hartz-Bericht ist möglicherweise die letzte Chance für Schröder, das Ruder noch herumzureißen.
Auch an der Börse steigt die Spannung. Wie wird die Wahl am 22. September ausgehen? Und was bedeutet das Wahlergebnis für die Märkte?Zurzeit liegt Schröders rot-grüne Koalition in Umfragen mit 41 Prozent deutlich hinter CDU/CSU und FDP, die zusammen auf 50 Prozent kommen. Wenn es Schröder mit Hilfe des Hartz-Konzepts - und möglicherweise der beiden TV-Duelle - gelingt, wieder Oberwasser zu bekommen, dann würden die Maßnahmen zur Belebung des Arbeitsmarktes schnell umgesetzt. Aus Sicht der Börse ein Punkt für Schröder.
Doch der Reihe nach. Den meisten Börsianern wäre ein Machtwechsel wohl trotzdem lieber. Zwar habe die alte Börsianerformel "rot gleich schlecht, schwarz gleich gut" längst ausgedient, sagt Robert Halver von Vontobel Asset Management. Doch die überwiegende Mehrheit setzt auf einen Sieg von Stoiber. "Ein Regierungswechsel löst immer größere Phantasie aus als eine Wiederwahl", sagt Tammo Greetfeld, Aktienstratege der HypoVereinsbank. Schließlich habe eine neue Regierung immer die Chance, etwas Neues anzufangen. Eine Wiederwahl hingegen bedeute "nur" die Fortsetzung der alten Politik. Ein Blick in die Vergangenheit scheint dies zu bestätigen: Danach fällt die Bilanz des Dax in Wahljahren zwar ziemlich durchwachsen aus. Gab es jedoch einen Regierungswechsel, schaffte er bis zum Jahresende immer ein Plus. Zufall? Nur eines ist gewiss: Damit diese Regel auch dieses Jahr hält, müsste die Rally nach einem Stoiber-Sieg recht heftig ausfallen. Fast 30 Prozent fehlen den deutschen Blue Chips derzeit auf die 5160,10 Punkte vom Jahresanfang.
Wahrscheinlicher ist, dass der Dax nach der Wahl erst mal eine Verschnaufpause einlegt. So war es in der Vergangenheit fast immer (siehe Grafik). In acht von zehn Fällen musste der Dax in den ersten vier Wochen nach einer Bundestagswahl Verluste hinnehmen. Mit einer Ausnahme: 1983. Damals feierte die Börse den Wahlsieg Helmut Kohls nach 13 Jahren sozialliberaler Koalition mit einem Kursfeuerwerk von mehr als acht Prozent. Punkt für Stoiber.
Doch hat der Bayer das Zeug dazu, den Investoren neue Zuversicht zu vermitteln? Weder das Wahlprogramm der Union noch die Äußerungen des Kandidaten geben konkret Aufschluss darüber, ob es nach der Wahl zu den von der Börse ersehnten tief greifenden Reformen, etwa am Arbeitsmarkt oder bei den Sozialversicherungen, kommen wird. Möglicherweise aus gutem Grund. Schließlich muss Stoiber fürchten, dass der Gegner andernfalls die Vorlage nutzen würde, um ihn als bayerischen Hardliner in Misskredit zu bringen.Klar wird immerhin, dass die Union im Kern auf eine reduzierte Rolle des Staates setzt. Deutlich wird das in der griffigen Formel "3 mal 40". Demnach soll die Staatsquote auf 40 Prozent gesenkt werden, gleiches gilt für die Sozialbeiträge und den Spitzensteuersatz. Den Eingangssteuersatz will die Union unter 15 Prozent senken. Ein ambitioniertes Unterfangen: Derzeit ist die Staatsquote so hoch wie nie. Von jedem Euro fließen 56 Cent über direkte und indirekte Abgaben an den Staat. Der Spitzensteuersatz liegt bei 48,5 Prozent. Wie und wann diese Ziele angesichts leerer Haushaltskassen umgesetzt werden, ist unklar. Zumal die Sätze nach der bereits beschlossenen Steuerreform bis zum Jahr 2005 ohnehin auf 15 beziehungsweise 42 Prozent fallen sollen.
Christian Jasperneite von M.M. Warburg sieht in einer Studie vor allem bei der sozialen Sicherung, mit 106 Milliarden Euro größter Haushaltsposten, erhebliches Kürzungspotenzial. Die Forderung einer "neuen Balance von Eigenverantwortlichkeit, privater Risiskovorsorge und Solidarität" im Regierungsprogramm weise in diese Richtung. Aus der, zugegeben einseitigen, Sicht der Kapitalmärkte wäre das wohl zu begrüßen. Punkt für Stoiber.Dazu kommen die von der Union versprochenen Verbesserungen im hochkomplizierten Steuersystem. Für Ralph Solveen, Volkswirt bei der Commerzbank, ein wichtiger Aspekt: "Es wäre gut, wenn die Regierung nach der Wahl den Mut fände, Ausnahmen im Steuerrecht abzuschaffen, die Bemessungsgrundlage zu erweitern und zum Ausgleich die Steuersätze weiter zu senken." Punkt für Stoiber.
Jasperneite hält dafür das SPD-Programm beim Thema Konsolidierung der Staatsfinanzen für ehrgeiziger. Was bei konsequenter Durchführung den Aktienmärkten helfen würde, da dadurch das Zinsniveau tendenziell reduziert werde. Punkt für Schröder.
Bei der Rente dagegen sehen Beobachter die Opposition im Vorteil. Schließlich haben sowohl Union als auch FDP angekündigt, die Förderung der privaten Altersvorsorge zu verbessern und die Regeln zu vereinfachen. Das dürfte neuen Schwung in den Verkauf von Riester-Produkten bringen, die sich bislang als Ladenhüter erweisen. Punkt für Stoiber.
Wichtigster Unterschied aus Sicht der Börse ist für HypoVereinsbank-Mann Greetfeld jedoch die Frage der steuerfreien Beteiligungsverkäufe. Rot-grün hatte bei der Steuerreform 2000 Kapitalgesellschaften die Möglichkeit eingeräumt, ihre Beteiligungen an anderen inländischen Kapitalgesellschaften steuerfrei zu veräußern. Besonders Banken und Versicherungen profitierten. Sollte Stoiber gewinnen, dürfte es damit vorbei sein. "Ich möchte spätestens 2004 eine Gleichstellung von Veräußerungserlösen bei Kapitalgesellschaften und beim Mittelstand haben", erklärt er. Das heißt: Dann werden die Konzerne diese Gewinne wohl wieder mit dem Fiskus teilen müssen.
Müsste die Börse demnach nicht auf einen Sieg Schröders hoffen? "Natürlich schmälert eine neue Steuer erstmal die Gewinne", räumt Greetfeld ein. Er rechne jedoch nur mit einer ermäßigten steuerlichen Belastung, die zwischen zehn und 20 Prozent betragen dürfte. "Das dürfte keine allzu negativen Auswirkungen haben", vermutet er.Dazu kommt allerdings, dass einige Unternehmen in diesem Fall ihre Verkäufe vorziehen könnten, um noch in den Genuss der alten Regelung zu kommen. Das wiederum könnte kurzfristig zusätzlichen Druck auf die Kurse ausüben. Unterm Strich bleibt hier ein Punkt für Schröder.
Aber ist die Politik überhaupt in der Lage, die Märkte entscheidend zu beeinflussen? Darüber gehen die Meinungen deutlich auseinander. Für Christian Kahler von der DZ Bank ist die Bundestagswahl aus Sicht der Börse ein Non-Event: Weder von SPD noch von der CDU/CSU erwartet der Anlagestratege nennenswerte Impulse für die Märkte: "Der Konjunkturaufschwung, den wir für Anfang 2003 erwarten, dürfte sich deutlich stärker auswirken als die Wahl", sagt Kahler. Ganz anderer Auffassung ist Vontobel-Mann Halver: "Die Börse will sehen, dass Reformen auch wirklich angepackt werden", sagt er. Dann seien auch wieder deutlich höhere Kurse drin. An einen schnellen Boom nach der Wahl freilich glaubt auch er nicht: Vermutlich werde die neue Regierung erst im Frühjahr mit konkreten Reformplänen herausrücken. Vorher gelte es noch, die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zu überstehen. Besonders für die Union steht dabei viel auf dem Spiel. Schließlich geht es darum, die Mehrheit im Bundesrat zu verteidigen.
Gelingt dies, werde ein Kanzler Stoiber schnell ernsthafte Reformen anpacken, ist Halver überzeugt. Er glaubt, dass dann auch die Leidenszeit der Anleger vorbei sein wird. Zum Beleg seiner These verweist er auf Großbritannien. Dort habe die damalige Premierministerin Margaret Thatcher Anfang der 80er-Jahre mit radikalen Reformen den Aktienmärkten einen echten Sonderboom beschert. "Das ist auch bei uns möglich. Wenn erst klar ist, was die neue Regierung vorhat, wird der Markt anspringen. Und zwar kräftig."
von Stefan Beste / Euro am Sonntag