Immer mehr Experten sehen eine langfristige Rallye an der Wall Street, maßgeblich getragen von Kleinanlegern. Warnende Stimmen erinnern jedoch an die Irre geleitete Euphorie, die der US-Börse auch 2000 zum Verhängnis wurde.
New York - Zwei Sommer später erinnert im Financial District um die Wall Street nur noch wenig an das Grauen vom 11. September 2001. Die Reminiszenzen sind eher sublim: die höfliche Präsenz der Nationalgardisten am Börsenportal; ein paar bis heute verbretterte Kramläden; die Andenkenhändler, die einem alles anzudrehen versuchen, was das patriotische Farbentrio blau-weiß-rot trägt. Selbst die Grube von Ground Zero sieht, so makaber es klingt, inzwischen aus wie die Großbaustelle für eine Tiefgarage.
Obwohl die Börsianer, draußen vor der Tür und drinnen auf dem Parkett, längst wieder so tun, als sei alles mehr oder weniger beim Alten, ist doch ein weithin unübersehbares Memento geblieben: ein 172 Meter hohes, 40-stöckiges, verrußtes Mahnmal ans Inferno jenes Morgens.
Der 30 Jahre alte Wolkenkratzer der Deutschen Bank, ein Stahlklotz direkt gegenüber dem World Trade Center, wurde beim Einsturz des Südturms rettungslos beschädigt. Die Stahltrümmer rissen die Hälfte der Fassade ein, Brände verwüsteten das Innere, Lösch- und Regenwasser ließen die Bausubstanz vermodern und verschimmeln. Es blieb eine monumentale Ruine, auf deren Dach sich noch Wochen später Leichenteile fanden.
Das letzte Symbol der Schwäche
Seitdem ist das Gebäude, das die Deutsche Bank 1999 bei der Übernahme des Bankers-Trust-Konzerns erbte, aus Sicherheitsgründen mit einem sprichwörtlichen, gigantischen schwarzen Schleier und einem Sternenbanner verhängt - "Denkmal an unsere dunkelsten Momente", wie Gouverneur George Pataki sagt. Doch nun naht auch dessen Ende. Nächsten Monat wird das Netz gegen ein Riesenplakat "des Aufbruchs" (Pataki) vertauscht, hinter dem Abrissarbeiten beginnen sollen. Denn die sind mit über 100 Millionen Dollar billiger als eine Renovierung.
Es ist langsam eben Zeit, nach vorne zu schauen. Die Beseitigung dieses letzten Symbols von Schwäche und Verwundbarkeit im New Yorker Finanzviertel ist ein Signal. Ein Signal dafür, dass sich Börse und Wirtschaft hier selbst von solchen tiefen Traumata wie Terror, Rezession und Krieg nicht unterkriegen lassen wollen. Egal, was die Pessimisten sagen.
Langsam müht sich also auch der Dow wieder aufwärts - im Börsen-Foxtrott: zwei Schritte vor, einen Schritt zurück, doch insgesamt schon mit einem Plus von bisher zehn Prozent in diesem Jahr. Der Tech-Bruder Nasdaq legte 2003 sogar 23 Prozent zu, der S&P-500-Index 13 Prozent.
Warnung vor bösen Bluffs
Über 60 Prozent aller hiesigen Börsen-Newsletter sprechen nach einer Umfrage von Investor's Intelligence inzwischen von einem Bullenmarkt, nur noch 16 Prozent zeigen sich pessimistisch. Vor allem Kleininvestoren, die Turbulenzen der letzten Jahre abschüttelnd (oder vergessend?), drängen sich wieder auf den Markt.
Und seit gestern ist es denn nun auch hoch offiziell: "Es hilft kein Leugnen - der Bulle ist zurück", deklarierte die Pulitzerpreis-gekrönte Finanzkolumnistin Gretchen Morgenson auf der sonntäglichen Titelseite der "New York Times".
Doch wie zuverlässig sind diese Zahlen? Was sagen sie uns wirklich? "Ich bin besorgt, dass die Leute da zu viel hinein lesen und denken, die guten, alten Zeiten seien wieder da", sagt etwa Fondsanalyst Chris Taulsen von Morningstar, an die fatale Euphorie von 2000 erinnernd. In der Tat haben sich die Bocksprünge der Börse seither jedes Mal als böse Bluffs entpuppt.
Ob die jüngste Rallye wirklich "Beine hat" oder doch nur wieder eine schmerzhafte Korrektur drohe, sekundiert auch Richard Dickson (Lowry Research), werde sich diese Woche zeigen.
Tech-Fonds als Leitbild
Zum Beispiel morgen und übermorgen, wenn die US-Notenbank tagt. Neben etlichen wichtigen Quartalsbilanzen (Walgreen's, FedEx, Goldman Sachs, General Mills, ConAgra, Nike) gilt diese Sitzung der Geldherren als das Finanzereignis der Woche. Die Wall Street erwartet eine Leitzinssenkung. Die Frage ist rein quantitiativ: um 0,25 oder 0,5 Prozentpunkte? Die Mehrheit der Broker neigt in Umfragen zu Letzterem.
Denn das Deflations-Gerede ist nicht aus der Welt. Die Federal Reserve muss die Börse deshalb überzeugen, dass die Zinsen langfristig niedrig bleiben, um so den Aufschwung zu verfestigen und den Anlegern die Deflationsangst zu nehmen. Dies kann durch aktive Zinspolitik geschehen. Oder auch - eine Spezialität von Fed-Chef Alan Greenspan - durch "sorgsame Kommunikation" ("Wall Street Journal").
Weiteres Augenmerk richtet sich diese Woche auch auf die Technologie-Branche. Deren jüngste Gewinne sind Sinn- und Leitbild für den ganzen Markt. Tech-Fonds haben seit Mitte März um über 30 Prozent draufgelegt, wenngleich sie trotzdem noch weit hinter den (überzogenen) Rekordhöhen von Anfang 2000 hinterher hinken.
Manche Analysten fürchten eine Tech-Blase, wie sie der Börse auch damals zum Verhängnis wurde. "Die Rallye ist sich selbst weit voraus", warnt etwa Robert Gensler, der Manager eines 54-Millionen-Dollar-Tech-Fonds bei T. Rowe Price. Mit anderen Worten: Die potente Performance ist nichts anderes als das, was der Wrigley-Konzern, auf eher privaterem Feld, mit seinem jüngsten Patent anpeilt, dem für Viagra-Kaugummi - befristete Erektion mit Blaseneffekt.
Angst, den Zug zu verpassen
Eine "Bubble, die eines Tages platzen wird", sieht auch der Washington-kritische Ökonom Paul Krugman. "Es ist schwer, harte Fakten zu finden, die die Bewegungen des Marktes rechtfertigen", sagt er und weist auf die allenfalls durchwachsenen Wirtschaftsindikatoren hin. So hätten "die Optimisten" (womit Krugman in der Regel die US-Regierung meint) vor dem Irak-Feldzug einen tollen Nachkriegsaufschwung prognostiziert: "Wir warten immer noch."
Die Rückkehr der Kleininvestoren an die Börse, sagt Krugmann stattdessen, sei kein Zeichen eines konjunkturellen Wandels. Sondern vielmehr ein Zeichen von Angst - Angst, den Zug zu verpassen: "Der neue Bullenmarkt deutet nicht voraus, er nährt sich nur an sich selbst."
Spiegel
New York - Zwei Sommer später erinnert im Financial District um die Wall Street nur noch wenig an das Grauen vom 11. September 2001. Die Reminiszenzen sind eher sublim: die höfliche Präsenz der Nationalgardisten am Börsenportal; ein paar bis heute verbretterte Kramläden; die Andenkenhändler, die einem alles anzudrehen versuchen, was das patriotische Farbentrio blau-weiß-rot trägt. Selbst die Grube von Ground Zero sieht, so makaber es klingt, inzwischen aus wie die Großbaustelle für eine Tiefgarage.
Obwohl die Börsianer, draußen vor der Tür und drinnen auf dem Parkett, längst wieder so tun, als sei alles mehr oder weniger beim Alten, ist doch ein weithin unübersehbares Memento geblieben: ein 172 Meter hohes, 40-stöckiges, verrußtes Mahnmal ans Inferno jenes Morgens.
Der 30 Jahre alte Wolkenkratzer der Deutschen Bank, ein Stahlklotz direkt gegenüber dem World Trade Center, wurde beim Einsturz des Südturms rettungslos beschädigt. Die Stahltrümmer rissen die Hälfte der Fassade ein, Brände verwüsteten das Innere, Lösch- und Regenwasser ließen die Bausubstanz vermodern und verschimmeln. Es blieb eine monumentale Ruine, auf deren Dach sich noch Wochen später Leichenteile fanden.
Das letzte Symbol der Schwäche
Seitdem ist das Gebäude, das die Deutsche Bank 1999 bei der Übernahme des Bankers-Trust-Konzerns erbte, aus Sicherheitsgründen mit einem sprichwörtlichen, gigantischen schwarzen Schleier und einem Sternenbanner verhängt - "Denkmal an unsere dunkelsten Momente", wie Gouverneur George Pataki sagt. Doch nun naht auch dessen Ende. Nächsten Monat wird das Netz gegen ein Riesenplakat "des Aufbruchs" (Pataki) vertauscht, hinter dem Abrissarbeiten beginnen sollen. Denn die sind mit über 100 Millionen Dollar billiger als eine Renovierung.
Es ist langsam eben Zeit, nach vorne zu schauen. Die Beseitigung dieses letzten Symbols von Schwäche und Verwundbarkeit im New Yorker Finanzviertel ist ein Signal. Ein Signal dafür, dass sich Börse und Wirtschaft hier selbst von solchen tiefen Traumata wie Terror, Rezession und Krieg nicht unterkriegen lassen wollen. Egal, was die Pessimisten sagen.
Langsam müht sich also auch der Dow wieder aufwärts - im Börsen-Foxtrott: zwei Schritte vor, einen Schritt zurück, doch insgesamt schon mit einem Plus von bisher zehn Prozent in diesem Jahr. Der Tech-Bruder Nasdaq legte 2003 sogar 23 Prozent zu, der S&P-500-Index 13 Prozent.
Warnung vor bösen Bluffs
Über 60 Prozent aller hiesigen Börsen-Newsletter sprechen nach einer Umfrage von Investor's Intelligence inzwischen von einem Bullenmarkt, nur noch 16 Prozent zeigen sich pessimistisch. Vor allem Kleininvestoren, die Turbulenzen der letzten Jahre abschüttelnd (oder vergessend?), drängen sich wieder auf den Markt.
Und seit gestern ist es denn nun auch hoch offiziell: "Es hilft kein Leugnen - der Bulle ist zurück", deklarierte die Pulitzerpreis-gekrönte Finanzkolumnistin Gretchen Morgenson auf der sonntäglichen Titelseite der "New York Times".
Doch wie zuverlässig sind diese Zahlen? Was sagen sie uns wirklich? "Ich bin besorgt, dass die Leute da zu viel hinein lesen und denken, die guten, alten Zeiten seien wieder da", sagt etwa Fondsanalyst Chris Taulsen von Morningstar, an die fatale Euphorie von 2000 erinnernd. In der Tat haben sich die Bocksprünge der Börse seither jedes Mal als böse Bluffs entpuppt.
Ob die jüngste Rallye wirklich "Beine hat" oder doch nur wieder eine schmerzhafte Korrektur drohe, sekundiert auch Richard Dickson (Lowry Research), werde sich diese Woche zeigen.
Tech-Fonds als Leitbild
Zum Beispiel morgen und übermorgen, wenn die US-Notenbank tagt. Neben etlichen wichtigen Quartalsbilanzen (Walgreen's, FedEx, Goldman Sachs, General Mills, ConAgra, Nike) gilt diese Sitzung der Geldherren als das Finanzereignis der Woche. Die Wall Street erwartet eine Leitzinssenkung. Die Frage ist rein quantitiativ: um 0,25 oder 0,5 Prozentpunkte? Die Mehrheit der Broker neigt in Umfragen zu Letzterem.
Denn das Deflations-Gerede ist nicht aus der Welt. Die Federal Reserve muss die Börse deshalb überzeugen, dass die Zinsen langfristig niedrig bleiben, um so den Aufschwung zu verfestigen und den Anlegern die Deflationsangst zu nehmen. Dies kann durch aktive Zinspolitik geschehen. Oder auch - eine Spezialität von Fed-Chef Alan Greenspan - durch "sorgsame Kommunikation" ("Wall Street Journal").
Weiteres Augenmerk richtet sich diese Woche auch auf die Technologie-Branche. Deren jüngste Gewinne sind Sinn- und Leitbild für den ganzen Markt. Tech-Fonds haben seit Mitte März um über 30 Prozent draufgelegt, wenngleich sie trotzdem noch weit hinter den (überzogenen) Rekordhöhen von Anfang 2000 hinterher hinken.
Manche Analysten fürchten eine Tech-Blase, wie sie der Börse auch damals zum Verhängnis wurde. "Die Rallye ist sich selbst weit voraus", warnt etwa Robert Gensler, der Manager eines 54-Millionen-Dollar-Tech-Fonds bei T. Rowe Price. Mit anderen Worten: Die potente Performance ist nichts anderes als das, was der Wrigley-Konzern, auf eher privaterem Feld, mit seinem jüngsten Patent anpeilt, dem für Viagra-Kaugummi - befristete Erektion mit Blaseneffekt.
Angst, den Zug zu verpassen
Eine "Bubble, die eines Tages platzen wird", sieht auch der Washington-kritische Ökonom Paul Krugman. "Es ist schwer, harte Fakten zu finden, die die Bewegungen des Marktes rechtfertigen", sagt er und weist auf die allenfalls durchwachsenen Wirtschaftsindikatoren hin. So hätten "die Optimisten" (womit Krugman in der Regel die US-Regierung meint) vor dem Irak-Feldzug einen tollen Nachkriegsaufschwung prognostiziert: "Wir warten immer noch."
Die Rückkehr der Kleininvestoren an die Börse, sagt Krugmann stattdessen, sei kein Zeichen eines konjunkturellen Wandels. Sondern vielmehr ein Zeichen von Angst - Angst, den Zug zu verpassen: "Der neue Bullenmarkt deutet nicht voraus, er nährt sich nur an sich selbst."
Spiegel