Das Ende der Kreidezeit hat begonnen. In fast allen Großunternehmen ist die Weiterbildung von Mitarbeitern durch e-Learning bereits ganz normal. Langsam zieht der Mittelstand nach. Doch nicht immer geht es ohne Probleme.
ittags oder gegen Abend, wenn sich in seinem voll gepackten Arbeitstag unverhofft ein kleines Zeitfenster aufschiebt, setzt sich Oliver Neufuß hinter den Computer. Digitale Lernstunde. Ein Klick, schon ist er im virtuellen Klassenraum. Die wichtigsten Informationen für seine nächste Lektion liegen auf dem Schülerpult, Selbstlernprogramme zum Runterladen daneben. Ab und an stolpert Neufuß im virtuellen Klassenzimmer über Kollegen aus dem Engineering oder der Kommunikationsabteilung. Doch meist greift er lieber gleich zum Hörer oder schickt eine Mail übers Intranet, um sich mit Klassenkameraden über die Klippen der Lektionen auszutauschen. „Das liegt einfach näher als ein Chat auf der virtuellen Plattform“, sagt Neufuß. Auch wenn manches noch ungewohnt ist, das Training via e-Learning macht dem 29-Jährigen Spaß: „Es ist eine sehr schicke und schnelle Form der Weiterbildung. Ideal für Leute mit wenig Zeit.“
Seit einem halben Jahr ist der kaufmännische Leiter Vertrieb beim Münchner Elektromulti Siemens in der Weiterbildung „Management Learning“. Denn Neufuß hat Höheres im Sinn. Eine Karriere, die weit nach oben führt. Ein Jahr lang dauert das Training, ein Paket aus BWL und Mitarbeiterführung, aus Managementübungen und Organisationsstrategien. Gelernt wird in einem Mix aus Offline-Workshops mit Teamarbeit, digitalen Selbstlernprogrammen und 20 Prozent interaktiven e-Learning-Einheiten via Web. Ohne Haken ist das nicht. Neufuß: „In den ersten zwei, drei Sitzungen klingelt man ständig beim technischen Support an: Das Log-in funktioniert nicht richtig, Netscape ist vielleicht falsch konfiguriert. Danach kennt man sich aus, wird autonomer und baut das Lernen in den Alltag ein.“ Größtes Plus: „Ich kann mein Lerntempo selbst bestimmen und muss mich nicht outen, wenn ich was nicht kapiert habe.“
Jahr für Jahr durchlaufen mehr als 100000 Siemensianer die firmeneigene Weiterbildung. Seit 1996 gibt es dafür das Profitcenter Siemens Qualification and Training (SQT). Sein Job: Abteilungsübergreifende Themen vermitteln. Neue Unternehmensstrategien, Projektmanagement, Führungskräftetraining beispielsweise.
Bis 2005 will Jürgen Guttmann von SQT etwa jeden dritten Teilnehmer via Web- oder Computer-based Learning weiterbilden: „Doch Präsenzschulungen bleiben unverzichtbar, zum Beispiel für Verhaltenstraining. Und unser Fortbildungsbedarf wächst immens.“ Umso wichtiger, die Kosten in einem überschaubaren Rahmen zu halten. Gerade bei einem international arbeitenden Giganten wie Siemens, der mehr als 50 Prozent seiner Mitarbeiter im Ausland beschäftigt.
Denn wer seine Crew weltweit per Mausklick auf den neuesten Stand bringen kann, verschafft sich einen beachtlichen Wettbewerbsvorteil. Wer seine Angestellten nicht hunderte von Kilometern in Schulungzentren schicken muss, fährt billiger. Guttmann: „Über e-Learning können wir zudem bis zu 30 Prozent der Herstellungskosten sparen.“
Das elektronische Lernen via Glasfaserkabel boomt. Der US-Branchenverband Software and Informations Industry Association (SIIA) sieht im e-Learning einen der wichtigsten Trends in der digitalen Wirtschaft. Und wie einst beim e-Commerce überschlagen sich die Prognosen. Das amerikanische Marktforschungsunternehmen IDC etwa prognostiziert bis 2004 ein Umsatzwachstum von 0,3 auf 3,9 Milliarden Dollar in Westeuropa.
Zwar hat der Downshift auch die Lernanbieter ergriffen. Einige Firmen mussten schließen. Doch an allen Ecken entstehen neue. Schon jetzt gibt es weltweit mehr als tausend Anbieter von e-Learning-Anwendungen, schätzt Oliver Bendel vom Competence Center e-Learning der Universität St. Gallen. Gerade erst pilgerten die Gurus der Szene zum größten europäischen e-Learning-Kongress nach Amsterdam. Beinahe wöchentlich finden Messen, Symposien und Promotion-Events statt: e-Learning in großen Unternehmen, e-Learning im Handwerk, e-Learning in der Aus- und Weiterbildung und an Hochschulen. Anbieter buhlen um Kunden, Experten debattieren über Methoden, Politiker sinnieren über Fördermaßnahmen.
Denn eines scheint absehbar: e-Learning, noch vor zwei, drei Jahren als technischer Schnickschnack milde belächelt, wird den Bildungsmarkt der Zukunft kräftig umkrempeln. Das Ende der Kreidezeit scheint nicht fern. Schon haben Informatiker an der Freien Universität Berlin eine e-Kreide entwickelt. Damit kann der Dozent nicht nur auf den Screen krakeln. Es lassen sich während eines Vortrags auch Bilder und interaktive Java-Programme aus dem Netz in das Tafelbild kopieren.
Überflüssig werden Klassenraum und Schiefertafel trotzdem noch lange nicht. Zu wichtig sind nach einhelliger Expertenmeinung persönlicher Kontakt und Austausch. Zu schmal ist die Bandbreite der Themen, die mit Computer- oder Internet-gestützter Weiterbildung funktionieren. Rhetorikschulungen etwa oder Verkaufstrainings lassen sich zwar mit Selbstlernprogrammen und Simulationen vorbereiten. Ohne Vis-à-vis-Seminare geht es nicht.
Und doch gibt es einen Umbruch in der Bildungslandschaft. Nach den Hochschulen, die seit etwa fünf Jahren mit virtuellem Studium experimentieren, entdecken mehr und mehr Unternehmen e-Learning als viel versprechende Methode, ihre Mitarbeiter fit zu machen. e-Learning verspricht kostengünstig und flexibel, schnell und, so hoffen die Befürworter, äußerst effizient zu sein. Unabhängig von Zeit und Ort, lässt sich das Lernen auf individuelles Tempo und Kenntnisstand zuschneiden. Statt lernen auf Vorrat, büffeln nach Bedarf. Und, zumindest theoretisch, hier und dort flink zwischendurch am Arbeitsplatz oder auf Dienstreisen einschieben. Ein gewaltiges Potenzial.
Forscher Bendel vom Kompetenzcenter St. Gallen: „Die Innovationszyklen werden kürzer. Gerade wissensintensive Branchen geraten im Wettbewerb immer mehr unter Druck, ihre Mitarbeiter stets up to date zu halten.“ Kaum überraschend, dass Großunternehmen, allen voran die veränderungsgeschüttelten Branchen wie Banken, Versicherungen und IT-Riesen, massiv auf Technologie-basiertes Lernen setzen. Mittelstand und Handwerk ziehen langsam nach. Doch tonangebend sind die Großen.
Die Hypovereinsbank und die Dresdner, IBM und Hewlett-Packard, die Allianz, die Telekom oder Karstadt sind längst auf den Zug aufgesprungen. Gerade hat Siemens 10000 seiner Kaufleute in wenigen Tagen mit den amerikanischen Bilanzierungsregeln vertraut gemacht. Die Deutsche Bank baut seit 1996 ein Lernmanagementsystem auf, aus dem die Bänker IT-Wissen, Know-how über Finanzmärkte oder Sprachen saugen können. „Derzeit wickeln wir auf diese Weise 5 bis 10 Prozent unseres Trainings ab. Ziel sind 30 Prozent“, sagt Jochen Robes, Teamleiter e-Learning bei der Deutschen Bank in Frankfurt. „Durch e-Learning machen sich unsere Leute nicht nur mit den Inhalten der Schulung, sondern auch mit der e-Welt vertraut.“
Park Hyatt Hotel, Hamburg-City. Die Göttinger Unicmind AG lädt zum Businesslunch. Auch ein renommierter e-Profi von der Stanford University ist angereist. Die Amerikaner sind weit voraus in Sachen Technologie-basiertes Lernen. Zu Rotwein und Kalbssteak gibt es knackige Studienergebnisse.
Gemeinsam mit der Privaten Fachhochschule Göttingen hat Unicmind die Top-350-Unternehmen der deutschen Wirtschaft befragt. Die Ergebnisse der Untersuchung werden dieser Tage veröffentlicht. Fazit: 90 Prozent setzen bereits e-Learning ein. Die meisten arbeiten allerdings mit CBT, dem Computer-based Training via CD-ROM, oder setzen ihre Mitarbeiter vor Schulungsvideos. Das modernere interaktive Web-based Training (WBT), das eine schnelle Kontrolle des Lernerfolgs online ermöglicht, ist nur in jeder vierten Firma Usus. Und: Um e-Learning kümmert sich meist die Personalabteilung, abgedeckt werden vor allem die klassischen, PC-nahen Weiterbildungsthemen wie Office.
„Viele Unternehmen haben die Chancen des e-Learnings noch nicht ausreichend erkannt“, resümiert Dirk Artmann, Vorstand Business Development von Unicmind. „Gerade für den Austausch von spezifischen Unternehmensinhalten können e-Learning-Plattformen sehr sinnvoll sein. In Deutschland denkt man bei Lernen immer noch an Schule, Abschlüsse, Lehrgänge. Doch Lernen meint heute vor allem Wissensaustausch. Und das geht über e-Learning mindestens so gut, wie Onlinesprachkurse abzuhalten.“
Beispiel: Die Firma hat ein neues Produkt. Klick, zapp. Infos, Literatur, Übungsaufgaben. Schnell kann sich der Mitarbeiter das elektronische Einmaleins der Neuerung auf den Schreibtisch holen, kann lernen, testen, eigene Anregungen ins Intranet stellen.
„Mit solchen e-Learning Systemen können die Unternehmen leicht herausfinden, wo ihre Mitarbeiter Wissenslücken haben“, sagt Artmann. Es geht dabei nicht um Datenschutz-verdächtige Lernüberwachung. Es geht um eine Art anonymen Gegencheck. Ein Verkäufer macht einen Onlinekurs über die neue Spielesoftware. Am Ende der Lektion muss er eine Testfrage beantworten: „Für welche Altersgruppe ist das Produkt gedacht?“ Liegt er völlig daneben, weiß die Firma, dass sie ihre Neuheit im Lernprogramm nicht gut genug beschrieben hat.
Eilif Trondsen, der Gast aus dem Stanford Research Institute, ist trotz allem skeptisch: „Die deutschen Unternehmen sind zu zögerlich. Das liegt an der unterschiedlichen Engineering-Kultur: Während Amerikaner einfach mal was ausprobieren, wollen Europäer vorher sicher sein, dass die Technik funktioniert. Dadurch laufen sie im e-Learning Gefahr, den Anschluss zu verlieren.“
#2 von Hellwig1 05.11.01 11:38:03 Beitrag Nr.:4.795.611 Posting versenden 4795611 GFN AG O.N.
Im Gespräch: Helmut Felix Friedrich, Diplompsychologe für angewandte Kognitionswissenschaft am Institut für Wissensmedien, einer Unterabteilung des Knowledge Media Research Center der Universität Tübingen
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Schülerbekenntnis: Virtuelles Lernen wird angenommen
as Institut für Wissensmedien (IWM) wurde im Januar dieses Jahres gegründet. Es ist Nachfolger des Deutschen Instituts für Fernstudienforschung. Schwerpunkt: Forschungen zum technologiebasierten Lernen.
NET-BUSINESS: Wo wird e-Learning in Zukunft die größte Rolle spielen?
Helmut Felix Friedrich: Immer dort, wo orts- und zeitflexibel gelernt werden soll. Ein Schwerpunkt wird zweifellos in der berufsbegleitenden Weiterbildung liegen. Da bietet es zwei entscheidende Vorteile: Der Zugang zu Lernressourcen ist über das Internet viel leichter. Die Lerner müssen den Arbeitsplatz nicht so häufig verlassen.
Aber auch für Hochschulen ist e-Learning sehr interessant. Es ermöglicht Ressourcensharing. Wenn sich beispielsweise zwei Hochschulen in verschiedenen Städten zusammentun und gemeinsam einen Studiengang anbieten, zu dem jede einen Teil der Kompetenzen beisteuert und online allen verfügbar macht. Solche Modelle gibt es bereits. Die Universität Koblenz- Landau und die Berliner Humboldt-Universität und die Hochschule etwa bieten gemeinsam einen Abschluss in Bibliothekswissenschaft an.
NET-BUSINESS: Wie effizient ist e-Learning?
Friedrich: Die Leute können Lernen leichter mit beruflichen, aber auch mit familiären Aktivitäten vereinbaren. Den bisherigen Erkenntnissen nach funktionieren Behalten und Wissenserwerb weder grundsätzlich besser noch schlechter über e-Learning. Aber es lässt sich leichter organisieren.
NET-BUSINESS: Worauf kommt es bei der Gestaltung der Lernumgebung an?
Friedrich: Bewährt haben sich reichhaltige, anregende Lernumgebungen. In der Regel handlet es sich dabei um einen Mix aus modernen Lernformen (netzbasierte Kooperation, Multimedia-Software, wie zum Beispiel Simulationen) und traditionellen Lernformen (Studientexte, Face-to-Face-Treffen etc.). Die Technologie darf nicht zu komplex sein, weil das vom Inhalt ablenkt. Texte sollten für den Bildschirm modular aufbereitet, die Navigation so gestaltet sein, dass ich die User nicht in der Lernumgebung verlieren. Wenn die Teilnehmer über das Internet miteinander kooperieren sollen, braucht man ein pädagogisches Konzept. Das heißt es müssen Kooperationsaufgaben gestellt werden, die (a) inhaltlich wichtig sind, (b) überhaupt Kooperation erfordern und nicht schon besser allein gelöst und (c) mit der zur Verfügung stehenden Kommunikationstechnologie gelöst werden können.
NET-BUSINESS: Wie unterscheide ich gute von schlechten Angeboten?
Friedrich: Evaluationsansätze sind gerade im Aufbau. Bislang bleibt nur, sich auf den Websites genau anzuschauen, ob der Bildungsanbieter offen informiert. Kann man in die Diskussionsforen reinklicken? Kann man mal an Probeveranstaltungen teilnehmen? Welche Formen der lernbegleitenden Betreuung und Beratung (Hotlines, Kontakt zu Tutoren und Inhaltsexperten) gibt es? Namen aus Wissenschaft und Verlagswesen etwa stehen hinter dem Angebot? Wie ist es – soweit erkennbar - pädagogisch aufbereitet?