Gesellschaftspolitik: Deutschland öffnen
Gesellschaftspolitik wird zu den weichen Themen gezählt, doch hier werden die härtesten politischen Auseinandersetzungen ausgetragen. Das gilt vor allem für die Frage, wie Deutschland mit der Zuwanderung und Integration von Ausländern umgehen soll.
Die Bundesrepublik braucht Zuwanderung, wenn sie kurzfristig mit der Internationalisierung Schritt halten und in Branchen mit Arbeitskräfteknappheit wettbewerbsfähig bleiben will. Mittel- und längerfristig ist die dauerhafte Einwanderung von Ausländern in beträchtlichen Größenordnungen nötig, um wenigstens einen Teil der demographischen Probleme lösen zu können. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht hat mit den bis dahin geltenden Bestimmungen gebrochen, die noch aus vordemokratischer Zeit stammten. Mit der Greencard und dem Zuwanderungsgesetz hat die Bundesregierung das jahrzehntelang gepflegte Vorurteil widerlegt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Dennoch ist die Bundesrepublik noch nicht auf der Höhe der Zeit.
Die Union ist Sturm gelaufen gegen das neue Staatsangehörigkeits- und Zuwanderungsrecht. Die SPD hat, je näher der Wahlkampf rückte, Angst vor der eigenen Courage bekommen und beim Begriffspaar "Zuwanderung" und "Begrenzung" das letzte Wort sehr viel stärker betont. In welchem Umfang die Möglichkeiten des neuen Rechts tatsächlich genutzt werden, ist weitgehend offen.
Die politische Trennungslinie in dieser Frage verläuft jedoch vor allem zwischen der Union auf der einen, SPD, Grünen und FDP auf der anderen Seite. Die Union fordert in ihrem "Regierungsprogramm 2002/2006", die Zuwanderung stärker zu begrenzen als bisher. Sie könne kein Ausweg aus den demographischen Veränderungen sein. "Wir erteilen einer Ausweitung der Zuwanderung aus Drittstaaten eine klare Absage, denn sie würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft überfordern."
Union stellt sich gegen gesellschaftlichen Konsens
Die Union geht nicht so weit, den illusionären Anspruch zu wiederholen, Deutschland sei kein Zuwanderungsland. Allerdings betont sie, dass die Bundesrepublik "kein klassisches Einwanderungsland werden" könne. Das mit den Stimmen der FDP verabschiedete Zuwanderungsgesetz wollen CDU/CSU nach einem Wahlsieg "unverzüglich" ändern. Damit stellt sich die Union gegen einen gesellschaftlichen Konsens, der von den Kirchen bis zu den Arbeitgeberverbänden reicht und in Zukunft eher mehr Zuwanderung für nötig hält - allerdings abgestimmt mit der Situation am Arbeitsmarkt.
Dabei hat es keinen Sinn darüber zu debattieren, ob die Qualifizierung einheimischer Arbeitskräfte wichtiger ist als die Anwerbung ausländischer. Die Haltung von SPD und Union, der Qualifizierung "deutscher" Arbeitnehmer absoluten Vorrang einzuräumen und Arbeitsplätze nur dann mit ausländischen Bewerbern zu besetzen, wenn sich kein einheimischer findet, führt in die Irre. Qualifizierung und Weiterbildung sind notwendig, aber sie konkurrieren nicht mit der Öffnung des Arbeitsmarktes für qualifizierte Ausländer.
Deutschland muss von der schulischen Bildung bis zur ständigen beruflichen Weiterbildung besser werden. Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte steht dazu nicht im Widerspruch, sondern wirkt ergänzend. Nur wer ein Umfeld bietet, das auch auf die fähigsten Leute aus dem Ausland attraktiv wirkt, kann einen Qualifikationsstandard erreichen, der international mithält. Internationalisierung kann für Deutschland nicht allein im Export von Gütern und Kapital bestehen, sie muss auch zu einer größeren Präsenz von ausländischen Fachleuten führen.
Bei allen Einschränkungen zeigt die SPD sich in ihrem Programm offener als die Union: "Im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe geht es nicht um das ‚Ob‘ von Zuwanderung, sondern darum, wie sie im Interesse Deutschlands gesteuert werden kann." Anders als die Sozialdemokraten sehen die Grünen und die FDP Zuwanderung richtigerweise auch als Mittel, um einen Beitrag zur Lösung der demographischen Probleme zu leisten.
Die einzige Partei, die versucht, eine stärkere Integration von Ausländern mit Maßnahmen gegen Rassismus und Antisemitismus zu verbinden, sind die Grünen. Obwohl der Rechtsradikalismus in Teilen des Landes zur Jugendkultur geworden ist und wenige Missstände dem Ansehen Deutschlands so schaden wie dieser, ist es dagegen bei den großen Parteien sehr ruhig geworden um den "Aufstand der Anständigen" aus dem Jahr 2000. Ein eigenes Problem dagegen hat die FDP - mit Jürgen Möllemann und seinem Spiel mit antisemitischen Klischees.
© 2002 Financial Times Deutschland