So käuflich ist die Republik
Die Bestechlichkeit in den Kommunen kostet die Steuerzahler Milliarden. Der Bundestag muss einen ständigen Antikorruptionsausschuss einrichten
Von Michael Naumann
Die öffentliche Empörung im ganzen Land über den Kölner Müll-, Filz- und Parteispendenskandal der SPD ist die eigentliche moralische Überraschung dieser Tage. Sie existiert doch noch, jenseits allen Zynismus - die Hoffnung des Bürgers auf die Unbestechlichkeit der Politik, der Glauben an die gesetzestreuen, pflichtbewussten Beamten und Angestellten im Öffentlichen Dienst. Es gibt sie, und sie sind gottlob in der Mehrzahl.
Doch ihr guter Ruf droht den Machenschaften korrupter Kollegen und Parteifreunde - ob in München oder Berlin, ob im Rheinland oder in Hessen - zum Opfer zu fallen. Die normalen Schweinereien nehmen überhand. Bestechung und Vorteilsnahme, illegale Parteienfinanzierung, Vetternwirtschaft und schieberische Kreditvergaben addieren sich zur heimlichen Aufkündigung der bürgerlichen Rechtsstaatlichkeit. Weil die "nützlichen Aufwendungen", "Anfütterungen" oder "Beatmungen" - höherer Ganovenjargon für Bestechungen - so offenkundig zum Alltag gehören wie das Läuten der Kölner Domglocken, wird in diesem Herbst auf die bekannte Politik- eine neue Wahlverdrossenheit folgen. Wahlkampf ist eine Form des gesellschaftlichen Selbstgesprächs. Viele Bürger werden einfach weghören. Denn nichts bemerken sie schneller als den Verlust von politischem Anstand. Würde ist, was keinen Preis hat, mit Kant gesprochen. Käufliche Politik ist würdelos.
Gerhard Schröders Wiederwahl wäre gefährdet, sollte der kommunale Spendenskandal sich ausbreiten in die Führungsspitzen der SPD an Rhein und Ruhr oder gar in den Bundestag. Die Sozialdemokratie steht vor einer moralischen Katastrophe. Edmund Stoibers Wahlsieg wäre allerdings auch nicht gesichert; denn die zum Himmel schreienden Justizskandale der Leuna-Affäre sind vor allem in Bayern angesiedelt, dem Land der ausgedienten Franz-Josef-Strauß-Amigos, des flüchtigen Waffenhändlers in Staatsdiensten, CSU-Staatssekretär a. D. Pfahls, oder des juristisch ungestörten Wohllebens von Stasi-Oberst Schalck-Golodkowski am Starnberger See. Eine "Prachtsammlung Bayern", wertvollste Briefmarken, hatte er zu DDR-Zeiten, mit Zustimmung des "Genossen General Mielke" dem bayerischen Devisenvermittler Strauß geschenkt: eine kleine Aufmerksamkeit für den damaligen Millionär in Münchens Staatskanzlei. Was ist aus ihr geworden?
Keineswegs grundlos, wenngleich mit gedämpfter Tonlage weist die CDU auf die Breitseiten der SPD während des Kohlschen Spendenskandals hin. Jetzt stecken auch die Sozialdemokraten tief im Sumpf. Andererseits sitzt Helmut Kohl immer noch unbehelligt von schlechtem Gewissen auf dem Namensgeheimnis seiner Millionenspender. Dass ihm Mitglieder der Bremer Industrie- und Handelskammer in den Tagen seines Spendenskandals zujubelten - das war und bleibt vielleicht der größere Skandal.
Kein Wunder, dass den Volksparteien zumal die jüngeren Mitglieder zu Tausenden davonlaufen. Die PDS bietet auch keine neue Heimat für Idealisten: Ihre Spitzenfunktionäre ahnen, wo große Barvermögen der SED gelandet sind - im Ausland: Von dannen es irgendwann wiederkommen wird, in gestückelten Kleinspenden wahrscheinlich. Einzig die Grünen haben bisher eine weiße Weste.
Das Berufsrisiko der Gerechten
Korruption ist in Deutschland die Regel. Auf der Weltrangliste korrupter Nationen ist die Bundesrepublik auf einen beschämenden Rang knapp hinter Tansania aufgestiegen. Bis vor kurzem konnten deutsche Firmen ihre Bestechungen im Ausland von der Steuer absetzen; wenn dies moralisch in der Fremde vertretbar war - warum dann nicht auch zu Hause? In Politik, Verwaltung und Wirtschaft, in Kliniken, in kommunale Betriebe, in Landesbanken (zum Beispiel die Düsseldorfer), in Zulassungsstellen oder Verbandsbüros - wohin der prüfende staatsanwaltliche Blick schweift, er wird allzu oft etwas Anrüchiges finden, wenn er nur will. In Berlin untersuchen derzeit zwölf Staatsanwälte das politisch inspirierte und ruinöse Kreditgebaren der staatlichen Bankgesellschaft. Für die verlorenen Milliarden kommt am Ende der Steuerzahler auf. Ein ähnliches Schicksal droht der bayerischen Landesbank. Dass allzu eifrigen Steuerfahndern und Untersuchungsrichtern immer noch ein abrupter Karriereabbruch droht, gehört zum Berufsrisiko der Gerechten in Deutschland, und es wird von ihnen hoch eingeschätzt. Man wird die Berlin-Ermittlungen im Auge behalten müssen.
Am vorigen Wochenende hieß es, Tausende Krankenhausärzte seien von einem Pharmakonzern bestochen worden. In Frankfurt laufen seit 1986 durchschnittlich 200 Ermittlungsverfahren im Jahr gegen Bauunternehmer, andere Dienstleister und städtische Angestellte. In New York dominierte die italienische Mafia jahrzehntelang die Müllabfuhr. In Deutschland gehorcht die kommunale Entsorgungsindustrie dem Preisdiktat weniger Firmen und ihrer ehrbaren consiglieri. Zur Auslastung ihrer überflüssigen Kapazitäten entsorgt die Kölner Müllverbrennungsanlage, vermutlich ein Zentrum der Parteispendenaffäre, den Abfall ausgerechnet von Neapel. Eine schöne Italian connection.
Moralische Appelle an die Betreiber und Nutznießer der öffentlichen "Hurerei" (so hieß bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts alle sittenwidrige Käuflichkeit, nicht nur die Prostitution) wirken schon längst nicht mehr. Das allzu enge institutionelle und personelle Geflecht zwischen Parteien, Kommunen, Gewerkschaften und halbstaatlichen Unternehmen muss aufgelöst werden. Das kann Jahre dauern. Gleichwohl - illegale Parteispenden sollten in Zukunft mit Gefängnis bestraft werden. Vor die Drehtür zwischen kommunalen Geschäftsführern und ehemaligen Mandatsträgern gehört ein Schloss. Unternehmen und Personen, die der Bestechung überführt wurden, dürfen öffentliche Aufträge nicht mehr erhalten. Die Ausführungen größerer staatlicher Bauprojekte müssten einer parteiunabhängigen, sanktionsfähigen Transparenz-Agentur vorgelegt werden. Ein ständiger Antikorruptionsausschuss des Bundestags mit staatsanwaltlicher Kompetenz könnte alsbald an die Arbeit gehen. Es kostet nur ein Gesetz. Und die deutsche Staatsverschuldung würde sofort sinken.