"Finanzcrashs sind Teil des Kapitalismus"
Der amerikanische Starökonom Lester Carl Thurow sieht Europa vor einem Desaster stehen und hält die Sorgen vor Inflation für übertrieben - Interview
US-Ökonom Lester Thurow: „Europas Zentralbank braucht schlaue Köpfe Foto: dpa
WELT am SONNTAG: Professor Thurow, wenn die US-Konjunktur an einem Schnupfen krankt, bekommt Europa gleich eine Lungenentzündung. Warum ist Europa nicht stark genug, dem US-Abschwung zu trotzen?
Lester Carl Thurow: Europa funktioniert wirtschaftlich nicht. Die Europäer schlittern einem Desaster entgegen und sie wissen das nicht einmal. Der Wachstumseinbruch in den USA ist durch den starken Rückgang in der Telekommunikation zu erklären und ich kann Ihnen garantieren, dass der Rückgang in Europa viel stärker sein wird, weil die Europäer noch viel mehr in Telekommunikation investiert haben. Kein US-Unternehmen hat bisher einen Dollar in den Erwerb von UMTS-Lizenzen vergeudet, weil sie bislang noch keine Auktionen gehabt haben.
WamS: In den USA wurden doch auch schon Frequenzen versteigert.
Thurow: Ja, aber nicht für UMTS, und es flossen keine Beträge in Milliardenhöhe. Die amerikanischen Unternehmen haben zu viel Geld in die Infrastruktur gesteckt und wurden dafür bestraft. Die europäischen Telekomfirmen haben viel Geld in Lizenzen und Infrastruktur investiert. Der große Rückgang bei den Telekommunikationsinvestitionen wird Europa schaden und das vernünftigste wäre, die Zinsen zurückzufahren, bevor dieser Fall eintritt anstatt danach. Doch die Europäische Zentralbank (EZB) handelt nicht, sondern zaudert.
WamS: Sie fürchtet nun mal eine zu hohe Preissteigerungsrate.
Thurow: Das ist irrelevant. Man kann eine Rezession mit drei Prozent oder null Prozent Inflation bekommen.
WamS: Nach den Statuten der EZB hat sie nur eine Aufgabe. Und das ist, sich ausschließlich um die Geldwertstabilität zu kümmern.
Thurow: Und allein dieses Konzept, sich nur auf die Inflation zu konzentrieren, ist für sich genommen schon verrückt und dumm. Der US-Notenbankpräsident Allan Greenspan ist gehalten, die Inflationsrate, Wachstum und andere Faktoren zu berücksichtigen.
WamS: Haben wir in Europa, in Deutschland zu große Angst vor der Inflation?
Thurow: Absolut. Wenn Dr. Faustus Ihnen die Frage stellt, ob Sie zehn Prozent Inflation oder zehn Prozent Deflation wollen, nehmen Sie die Inflation. Es hat immer Länder gegeben, die gut gelebt haben mit Inflation. Es hat aber noch nie ein Land gegeben, dem es mit einer Deflation gut ging.
WamS: Aber die Idee, Europa mit einer gemeinsamen Währung stärker zusammenwachsen zu lassen, halten Sie für richtig?
Thurow: Absolut, aber dafür braucht man in der Zentralbank ein paar schlaue Köpfe. Die Europäer haben eine tumbe Zentralbank.
WamS: Ist Ihr Urteil über die Wirtschaftskompetenz europäischer Politiker genauso eindeutig?
Thurow: Politiker lösen die Probleme erst, wenn sie zu einer Krise geworden sind. Sie gewinnen ja nichts dabei, Probleme im Vorfeld zu lösen.
WamS: Über die Krise in der Altersversorgung reden wir hier zu Lande seit gut zwei Dekaden.
Thurow: Die Krise in der Altersversicherung ist ein Thema für das Jahr 2015, 2020. Es ist sehr hart in der Demokratie, eine Krise ins Visier zu nehmen, die in den kommenden zehn bis 15 Jahren nicht passieren wird. Politiker werden nicht dafür gewählt, dass sie ein Problem lösen, das noch so lange auf sich warten lässt.
WamS: Aber wir sehen doch das Problem der Arbeitslosigkeit.
Thurow: Aber das ist doch kein Problem. Die Menschen, die keine Arbeit haben, werden doch bezahlt. Solange die Menschen, die in Europa arbeiten, bereit sind, hohe Steuern zu zahlen und ihr Geld an die Menschen zu geben, die nicht arbeiten, gibt es doch kein Problem.
WamS: Würden Sie Europa empfehlen, diesen Weg weiterzugehen?
Thurow: In den USA wird den Arbeitlosen kein Geld überwiesen.
WamS: Und?
Thurow: In den USA liegt die Arbeitslosenrate bei vier Prozent und in Europa liegt sie bei zehn Prozent.
WamS: Ist das nicht etwas zu simpel?
Thurow: Aber so einfach ist das nun mal. In Amerika haben die Großunternehmen selbst dann Leute entlassen, wenn sie hochprofitabel waren. Wenn Sie keine Leute feuern können, können Sie auch keine neue Technologie einsetzen.
WamS: Neue Techniken können aber kein Selbstzweck sein.
Thurow: Sind sie ja auch nicht. Okay, wenn jemand gefeuert wird, der älter als 55 Jahre ist, ist er draußen. Aber jeder, der jünger ist, kann auch wieder einsteigen.
WamS: Kaum vorstellbar, dass Ihre Sicht der Dinge jemals in Europa populär wird.
Thurow: Ich kann Ihnen auch erklären, warum: In den USA hat man viel Verständnis für das Scheitern. Das hat einen historischen Grund: In die USA sind nie die erfolgreichen Menschen gezogen, sondern immer die Armen und Hungrigen, die, die in der Heimat gescheitert sind. Wir geben den Leuten eine zweite, dritte und vierte Chance.
WamS: Was für Lehren können aus dem Kursverfall der US-Technologiebörse Nasdaq gezogen werden?
Thurow: Bestimmte Gesetze ändern sich einfach nicht. Finanzcrashs sind ein Bestandteil des Kapitalismus.
WamS: Die Familie Walton, die Anteile am Einzelhandelskonzern Wal-Mart hält, ist reicher als Bill Gates von Microsoft, der über Jahre die Rangliste anführte. Zeigt das einen Paradigmenwechsel, hin zum traditionellen Geschäft, weg von der Technologie?
Thurow: Wal-Mart ist ein fürchterlicher Laden und dominiert den Einzelhandel nicht wegen seiner Läden. Aber er hat eine einzigartige Logistik aufgebaut mit einem unglaublichen elektronischen Warenverteilsystem.
WamS: Erlebnis-Shopping der ganz anderen Art. Aber der Laden ist billig.
Thurow: Wal-Mart will nicht das machen, was die anderen Läden auch machen, nur besser. Das Unternehmen kann seine Warenbestände so managen wie kein anderes. Das ist deren Erfolgsgeheimnis.
Der amerikanische Starökonom Lester Carl Thurow sieht Europa vor einem Desaster stehen und hält die Sorgen vor Inflation für übertrieben - Interview
US-Ökonom Lester Thurow: „Europas Zentralbank braucht schlaue Köpfe Foto: dpa
WELT am SONNTAG: Professor Thurow, wenn die US-Konjunktur an einem Schnupfen krankt, bekommt Europa gleich eine Lungenentzündung. Warum ist Europa nicht stark genug, dem US-Abschwung zu trotzen?
Lester Carl Thurow: Europa funktioniert wirtschaftlich nicht. Die Europäer schlittern einem Desaster entgegen und sie wissen das nicht einmal. Der Wachstumseinbruch in den USA ist durch den starken Rückgang in der Telekommunikation zu erklären und ich kann Ihnen garantieren, dass der Rückgang in Europa viel stärker sein wird, weil die Europäer noch viel mehr in Telekommunikation investiert haben. Kein US-Unternehmen hat bisher einen Dollar in den Erwerb von UMTS-Lizenzen vergeudet, weil sie bislang noch keine Auktionen gehabt haben.
WamS: In den USA wurden doch auch schon Frequenzen versteigert.
Thurow: Ja, aber nicht für UMTS, und es flossen keine Beträge in Milliardenhöhe. Die amerikanischen Unternehmen haben zu viel Geld in die Infrastruktur gesteckt und wurden dafür bestraft. Die europäischen Telekomfirmen haben viel Geld in Lizenzen und Infrastruktur investiert. Der große Rückgang bei den Telekommunikationsinvestitionen wird Europa schaden und das vernünftigste wäre, die Zinsen zurückzufahren, bevor dieser Fall eintritt anstatt danach. Doch die Europäische Zentralbank (EZB) handelt nicht, sondern zaudert.
WamS: Sie fürchtet nun mal eine zu hohe Preissteigerungsrate.
Thurow: Das ist irrelevant. Man kann eine Rezession mit drei Prozent oder null Prozent Inflation bekommen.
WamS: Nach den Statuten der EZB hat sie nur eine Aufgabe. Und das ist, sich ausschließlich um die Geldwertstabilität zu kümmern.
Thurow: Und allein dieses Konzept, sich nur auf die Inflation zu konzentrieren, ist für sich genommen schon verrückt und dumm. Der US-Notenbankpräsident Allan Greenspan ist gehalten, die Inflationsrate, Wachstum und andere Faktoren zu berücksichtigen.
WamS: Haben wir in Europa, in Deutschland zu große Angst vor der Inflation?
Thurow: Absolut. Wenn Dr. Faustus Ihnen die Frage stellt, ob Sie zehn Prozent Inflation oder zehn Prozent Deflation wollen, nehmen Sie die Inflation. Es hat immer Länder gegeben, die gut gelebt haben mit Inflation. Es hat aber noch nie ein Land gegeben, dem es mit einer Deflation gut ging.
WamS: Aber die Idee, Europa mit einer gemeinsamen Währung stärker zusammenwachsen zu lassen, halten Sie für richtig?
Thurow: Absolut, aber dafür braucht man in der Zentralbank ein paar schlaue Köpfe. Die Europäer haben eine tumbe Zentralbank.
WamS: Ist Ihr Urteil über die Wirtschaftskompetenz europäischer Politiker genauso eindeutig?
Thurow: Politiker lösen die Probleme erst, wenn sie zu einer Krise geworden sind. Sie gewinnen ja nichts dabei, Probleme im Vorfeld zu lösen.
WamS: Über die Krise in der Altersversorgung reden wir hier zu Lande seit gut zwei Dekaden.
Thurow: Die Krise in der Altersversicherung ist ein Thema für das Jahr 2015, 2020. Es ist sehr hart in der Demokratie, eine Krise ins Visier zu nehmen, die in den kommenden zehn bis 15 Jahren nicht passieren wird. Politiker werden nicht dafür gewählt, dass sie ein Problem lösen, das noch so lange auf sich warten lässt.
WamS: Aber wir sehen doch das Problem der Arbeitslosigkeit.
Thurow: Aber das ist doch kein Problem. Die Menschen, die keine Arbeit haben, werden doch bezahlt. Solange die Menschen, die in Europa arbeiten, bereit sind, hohe Steuern zu zahlen und ihr Geld an die Menschen zu geben, die nicht arbeiten, gibt es doch kein Problem.
WamS: Würden Sie Europa empfehlen, diesen Weg weiterzugehen?
Thurow: In den USA wird den Arbeitlosen kein Geld überwiesen.
WamS: Und?
Thurow: In den USA liegt die Arbeitslosenrate bei vier Prozent und in Europa liegt sie bei zehn Prozent.
WamS: Ist das nicht etwas zu simpel?
Thurow: Aber so einfach ist das nun mal. In Amerika haben die Großunternehmen selbst dann Leute entlassen, wenn sie hochprofitabel waren. Wenn Sie keine Leute feuern können, können Sie auch keine neue Technologie einsetzen.
WamS: Neue Techniken können aber kein Selbstzweck sein.
Thurow: Sind sie ja auch nicht. Okay, wenn jemand gefeuert wird, der älter als 55 Jahre ist, ist er draußen. Aber jeder, der jünger ist, kann auch wieder einsteigen.
WamS: Kaum vorstellbar, dass Ihre Sicht der Dinge jemals in Europa populär wird.
Thurow: Ich kann Ihnen auch erklären, warum: In den USA hat man viel Verständnis für das Scheitern. Das hat einen historischen Grund: In die USA sind nie die erfolgreichen Menschen gezogen, sondern immer die Armen und Hungrigen, die, die in der Heimat gescheitert sind. Wir geben den Leuten eine zweite, dritte und vierte Chance.
WamS: Was für Lehren können aus dem Kursverfall der US-Technologiebörse Nasdaq gezogen werden?
Thurow: Bestimmte Gesetze ändern sich einfach nicht. Finanzcrashs sind ein Bestandteil des Kapitalismus.
WamS: Die Familie Walton, die Anteile am Einzelhandelskonzern Wal-Mart hält, ist reicher als Bill Gates von Microsoft, der über Jahre die Rangliste anführte. Zeigt das einen Paradigmenwechsel, hin zum traditionellen Geschäft, weg von der Technologie?
Thurow: Wal-Mart ist ein fürchterlicher Laden und dominiert den Einzelhandel nicht wegen seiner Läden. Aber er hat eine einzigartige Logistik aufgebaut mit einem unglaublichen elektronischen Warenverteilsystem.
WamS: Erlebnis-Shopping der ganz anderen Art. Aber der Laden ist billig.
Thurow: Wal-Mart will nicht das machen, was die anderen Läden auch machen, nur besser. Das Unternehmen kann seine Warenbestände so managen wie kein anderes. Das ist deren Erfolgsgeheimnis.