Industrie sieht 200.000 Stellen in Gefahr

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BeMi:

Industrie sieht 200.000 Stellen in Gefahr

 
16.10.02 09:01
SPIEGEL ONLINE - 15. Oktober 2002, 18:32
URL: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,218318,00.html
Baugeld-Kürzung

Industrie sieht 200.000 Stellen in Gefahr

Die Sparpläne der rot-grünen Regierung lösen in der Wirtschaft eine Welle der Empörung aus. Die geplante Kürzung der Eigenheimförderung etwa gefährde allein in der Baubranche rund 200.000 Arbeitsplätze.

Berlin - Der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (ZDB) sieht durch die geplante Kürzung der Eigenheimzulage 200.000 Arbeitsplätze vor allem im Mittelstand in Gefahr. Der Verband erwarte, dass nun im kommenden Jahr etwa 50.000 Eigenheime weniger gebaut würden, erklärte ZDB-Präsident Arndt Frauenrath am Dienstag in Berlin. "Dies bedeutet den weiteren Verlust von mehr als 200.000 Arbeitsplätzen in der Bauwirtschaft selbst sowie in den vor- und nachgelagerten Bereichen."

Die Veränderungen bei der Eigenheimzulage beträfen vor allem junge, kinderlose Paare, die sich künftig keine eigenen vier Wände mehr leisten könnten. Dass es sich bei der Neuregelung um Familienförderung handele, sei eine Lüge. Nach Berechnungen des Verbands hätte eine Familie mit zwei Kindern nach der alten Förderung beim Bau eines eigenen Hauses jährlich 4084 Euro erhalten und insgesamt bei achtjähriger Förderzeit 32.672 Euro. Nach der Neuregelung würde dieselbe Familie nur noch 2400 Euro jährlich und insgesamt 19.200 Euro bekommen, vorausgesetzt sie hat trotz abgesenkter Einkommensgrenze Anspruch auf das Geld.

Wohnungsverbände und Landesbausparkassen erklärten, die Bundesregierung müsse den "Kahlschlag bei der Wohneigentumsförderung sofort stoppen". Der Bundesverband Deutscher Fertigbau sprach vom "schwersten Schlag gegen Häuslebauer und Bauwirtschaft seit Bestehen der Bundesrepublik". Der Verband Deutscher Makler (VDM) beklagte, Rot-Grün missachte, dass eine Milliarde Euro bisherige Eigenheimförderung einen Nachfrageschub von 2,3 Milliarden ausgelöst habe.

Kritik an Erhöhung der ermäßigten Mehrwertsteuer

Die Kritik zahlreicher Branchen entzündete sich auch an der Erhöhung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von 7 auf 16 Prozent für zahlreiche Güter von Kulturgegenständen bis hin zum Blumenhandel, sowie an der stärkeren Versteuerung von Gewinnen aus Aktienverkäufen und einer Mindestbesteuerung für Großbetriebe. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) bezweifelten die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung.

Auch der Bund der Steuerzahler kritisierte die "unzureichende Sparbemühungen", so dass die zuvor geplante Neuverschuldung von 15,5 Milliarden Euro 2003 um 2,6 Milliarden erhöht werden müsse. Damit wächst laut Steuerzahlerbund- Präsident Karl Heinz Däke die künftige Zinsbelastung des Bundes um jährlich rund 143 Millionen Euro. Für den DIHK sind die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen "kraftlos und mutlos".

DGB-Chef Michael Sommer begrüßte dagegen die "sozial gerechte Modernisierung". Die Umweltschutzverbände lobten die für 2005 vorgesehene Ermäßigung der Mehrwertsteuer für Bahnfahrkarten von 16 auf 7 Prozent.

Nach letzten Angaben des Bundesfinanzministeriums summieren sich die Einsparungen durch Kürzung von Ausgaben und Steuervergünstigungen 2003 auf 14,4 Milliarden Euro. Darin enthalten sind 2,2 Milliarden Entlastungen für die Länderhaushalte und 600 Millionen für die Gemeinden. Die Gesamtsumme steigt in den Folgejahren auf 22,5 Milliarden in 2004, 31,9 Milliarden in 2005 und 33,6 Milliarden in 2006. Daran ist der Bund dann mit 21,3 Milliarden Euro beteiligt, die Länder mit 7,9 Milliarden und die Gemeinden mit 4,4 Milliarden Euro.

Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD), SPD-Fraktionsvize Joachim Poß und die Grünen-Finanzsprecherin Christine Scheel kündigten an, am Sparkurs und am Neuverschuldungsziel von Null im Jahr 2006 werde festgehalten. Eichel erwartet von 2003 an kein Überschreiten der Drei- Prozent-Defizitgrenze nach dem Maastrichter Vertrag mehr. Nach Aussage von Poß werden insbesondere strukturschwache Gemeinden von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe profitieren.



BeMi:

"Vier Jahre werden vertan"

 
16.10.02 09:07
SPIEGEL ONLINE - 15. Oktober 2002, 18:07
URL: www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,218332,00.html
Interview zum Koalitionsprogramm

"Vier Jahre werden vertan"

Meinhard Miegel lässt an den Plänen der Koalition kein gutes Haar. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE schlägt der Wirtschaftsexperte eine Nullrunde für das Kabinett vor.

 
IWG Bonn

Meinhard Miegel, 63, arbeitete nach seinem Jurastudium zunächst bei Henkel und dann in der Bundesgeschäftsstelle der CDU. Seit 1977 leitet er das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn.


SPIEGEL ONLINE: CSU-Generalsekretär Thomas Goppel hat SPD und Grünen eine "bis ins Kleinste ausgeklügelte Abzocke" vorgeworfen. Wie bewerten Sie die Pläne der Regierung?

Meinhard Miegel: Das große Ziel der Bundesregierung war, durch ihre Politik Wachstumsimpulse auszulösen und die Beschäftigungslage zu verbessern. Das was jetzt beschlossen worden ist, ist ganz sicherlich nicht dazu geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Es ist eher ein Signal dafür, dass in den nächsten vier Jahren so weitergewurstelt werden soll wie in den vergangenen vier Jahren. Das kennen wir alle: Es wird weder besser noch schlechter, aber weitere vier Jahre werden vertan, um wichtige Reformen auf den Weg zu bringen.

SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie in dem Koalitionsprogramm Ansätze, die ein höheres Wirtschaftswachstum erwarten lassen?

Miegel: Nein. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Die Wirtschaft wird sich auf Grund dieser Maßnahmen nicht dynamischer entwickeln, als sie sich ohnehin entwickelt hätte. Ich kann nicht erkennen, warum jetzt irgendjemand in Deutschland zusätzlich investieren oder zusätzlich Arbeitsplätze schaffen sollte.

SPIEGEL ONLINE: Befürchten sie nun, dass das Wirtschaftswachstum zum Erliegen kommt?

Miegel: Das denke ich nicht. Wir haben momentan einen konjunkturellen Tiefpunkt erreicht. Das nächste Jahr wird sicher etwas besser aussehen als das laufende Jahr. Aber das Wachstum wird voraussichtlich nicht so dynamisch verlaufen, dass die öffentlichen Haushalte saniert, die sozialen Sicherungssysteme finanziert und die Beschäftigungslage verbessert werden können. Auch die Annahme, dass die Koalition in den kommenden Jahren tatsächlich die geplanten Mehreinnahmen verbuchen kann, halte ich für wenig realistisch.

SPIEGEL ONLINE: Wäre es nicht möglich, dass Superminister Clement das Ruder herumreißt?

Miegel: Ich vermag nicht zu beurteilen, was er im Hinterkopf hat. Das, was die Koalitionäre zu Papier gebracht haben, lässt allerdings nichts in dieser Richtung erwarten. Aber vielleicht bringt er ja Dinge auf den Weg, die bis jetzt noch nicht zu erkennen sind.

SPIEGEL ONLINE: Wird er sich an die Steinkohlesubventionen herantrauen?

Miegel: Hier läuft der Vertrag noch bis 2005. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er an ihm etwas ändert. Danach wird die unsinnige Steinkohlesubventionierung wohl allenfalls auf Druck der europäischen Kommission abgebaut. Clement wird sich hüten, etwas zu tun, was die Wahlchancen seiner Partei in Nordrhein-Westfalen gefährden könnte.

SPIEGEL ONLINE: Die Gewerkschaften haben das Sparpaket der Koalition als sozial gerecht bezeichnet. Wie sehen Sie das?

Miegel: Ich weiß nicht, was die Gewerkschaften unter sozialer Gerechtigkeit verstehen. Der Gaspreis wird sich erhöhen, die Flugpreise werden sich erhöhen. Das sind Dinge, die treffen die breite Bevölkerung. Darüber hinaus ist völlig willkürlich beschlossen worden, allen, die zwischen 4500 und 5000 Euro im Monat verdienen, eine Art Sondersteuer aufzuerlegen damit die Rentenversicherung aufrecht erhalten werden kann. Das alles sind für mich keine Akte sozialer Gerechtigkeit.

SPIEGEL ONLINE: Wie kann der Wirtschaft kurzfristig auf die Beine geholfen werden?

Miegel: Kurzfristig kann überhaupt nichts mehr getan werden, da ist der Zug abgefahren. Die strukturellen Verwerfungen sind einfach zu groß. Wenn etwas schnell in Bewegung gesetzt werden soll, dann ist das nur noch durch ermutigende Signale möglich.

SPIEGEL ONLINE: Welche wären das?

Miegel: Beispielsweise könnte die Regierung sagen: Das Kabinett fängt bei den eigenen Einkommen mit einer Nullrunde an und wird dafür Sorge tragen, dass auch der öffentliche Dienst im kommenden Jahr mit einer Nullrunde oder allenfalls einem Inflationsausgleich Vorlieb nimmt. Gleichzeitig müssen große Anstrengungen gemacht werden, dass die öffentliche Verwaltung effizienter wird. Dann könnte man wenigstens in diesem Bereich sagen: Hier tut sich etwas. Zusätzlich müsste dringend eine weitere Verkleinerung des Bundestages und der Bundesbehörden in Angriff genommen werden. Wenn solche Dinge als Ziel der nächsten vier Jahre glaubwürdig dargestellt würden, würden viele Leute sagen: endlich passiert etwas. Und sie würden die Ärmel aufkrempeln.

Das Interview führte Carsten Matthäus



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