die welt 8.10.02
Börse ruft nach dem Rettungsring der Politik
Forderungskatalog reicht von höheren Staatsausgaben über niedrigere Zinsen bis zu Änderungen im Wettbewerbsrecht
Von Holger Zschäpitz
Berlin – Die Situation erinnert ein wenig an den Atheisten, der das Ende nahen sieht, auf seine letzten Tage noch fromm wird und nach dem heiligen Geist ruft. Auch die eingefleischtesten Vertreter eines freien Marktes unter den Börsianern fordern jetzt ein rettendes Eingreifen des Staates. Angesichts täglich neuer Tiefstände haben sie ihren Glauben an die Selbststeuerung der Börse verloren. „Man muss sich schon überlegen, ob wir es noch mit einem funktionierenden Markt zu tun haben“, sagt Joachim Paech, Chefhändler von Julius Bär. „Jetzt kann nur noch Hilfe von außen die Vertrauenskrise beenden.“
Am Montag stürzte der Dax in der Spitze weitere 3,4 Prozent in die Tiefe. Vom Jahreshoch im März hat sich der Dax mittlerweile halbiert, vom Allzeithoch hat das deutsche Kursbarometer sogar fast 70 Prozent verloren. Das ist der größte Wertverlust seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930-er Jahren. Zwischen April 1927 und Mai 1932 war der deutsche Markt 73 Prozent eingeknickt. Nur noch im größten deutschen Bärenmarkt aller Zeiten von Mai 1918 bis Februar 1920 wurde mit 92 Prozent noch mehr an Börsenkapital vernichtet. „Der Kurseinbruch hat jetzt schon historische Ausmaße angenommen, wird aber von der Regierung fast vollständig ignoriert“, beklagt Paech. „Hier geht es nicht darum, dass einige Leute verkaufen. Wir haben eine ausgewachsene Risikoscheu, die ihresgleichen sucht. Die Politik muss endlich aufwachen und dem Pessimismus der Anleger den Krieg erklären.“ Fast beschwörend ergänzen die Experten von Merrill Lynch. „Die Börse ist das Herz des kapitalistischen Systems. Wenn das Kapital nicht mehr in die richtigen Bahnen des ökonomischen Körpers gelangt, kollabiert die Wirtschaft“, schreibt Michael Hartnett, Merrill-Chefstratege in Europa.
Die Börsianer halten für die Regierung bereits einen umfangreichen Forderungskatalog parat. So solle die Wirtschaft mit einer koordinierten Fiskal- und Geldpolitik wiederbelebt werden. Nur eine Kombination aus höheren Staatsausgaben und niedrigeren Zinsen könne die Abwärtsspirale an den Märkten stoppen. Die realen Zinsen müssten auf Null gesenkt werden. Bei einer erwarteten Inflation in Deutschland von 1,2 Prozent hieße das weitere Senkungen um 200 Basispunkte. Gleichzeitig sollten die sieben führenden Industriestaaten am Devisenmarkt gegebenenfalls intervenieren, um einen Sturz des Dollar aufzuhalten. Auch bei den Staatsausgaben gilt es nach Ansicht der Börsianer Tabus zu brechen. So dürften die EU-Stabilitätskriterien nicht mehr sakrosankt sein. Vielmehr sollten die Regierungen die Ausgaben erhöhen, um eine Rezession zu vermeiden. „Lockert den Stabilitätspakt“, schreibt Anthony Thomas, Ökonom bei Dresdner Kleinwort Wasserstein, den Politikern ins Stammbuch. „Man muss anders denken, wenn man mit den Folgen einer geplatzten Spekulationsblase konfrontiert wird“, ergänzt Dieter Wermuth, Chefvolkswirt der japanischen UFJ-Bank. Die Regierungen müssten jetzt vor allem schnell handeln. „Wenn die fiskalischen Impulse zu spät kommen, könnten sie wirkungslos sein. Man müsse in den Krisenzeiten wie heute, höhere Defizite hinnehmen.
Doch mit einer lockereren Ausgabepolitik ist es nach Meinung von Börsianern noch längst nicht getan. Vielmehr seien die Regierungen auch in der Pflicht, an Unternehmen Kredite auszugeben, um eine Kreditklemme (Credit Crunch) und damit Massenpleiten zu verhindern. Denn der Börsencrash habe die privaten Kreditinstitute in eine Krise gestürzt. Die meisten Geschäftsbanken hielten sich mit Ausleihungen zurück. „Hier muss der Staat in die Bresche springen“, sagt Wermuth. Paech fordert gar Hilfen für die notleidende Institute. „Bei jeder Stahlkrise ist die Politik zur Stelle. Wenn es bei den Banken brennt, fehlt die Feuerwehr.“
Doch die Wunschliste der Börsianer ist noch länger. So können sich einige Experten temporäre Änderungen im Wettbewerbsrecht vorstellen. „In vielen Sektoren wie bei Halbleitern oder der Telekommunikation gibt es Überkapazitäten. Hier sollte man ‚Strukturkrisenkartelle‘ zulassen, damit konkurrierende Unternehmen sich bezüglich Kapazitätsabbau absprechen können“, sagt ein Experte.
An den Börsen scheint Alarmstufe Rot zu herrschen. Denn wenn schon die neoliberalen Börsianer nach dem Staat rufen, muss das Kind schon fast in den Brunnen gefallen sein. Ob den Atheisten die späte Besinnung noch rettet, ist ungewiss
***Wenn das Kapital nicht mehr in die richtigen Bahnen des ökonomischen Körpers gelangt***
megarofl
schätze, das sind die taschen der banker....
und ich wette, dass ein paar der zopf brennt.....