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Im Zwiespalt des Kapitalismus
konflikte um privatisierungen
Mit der Einführung der Marktwirtschaft hat Chinas kommunistische Führung einen beispiellosen Wirtschaftsboom ausgelöst. Aber sie tut sich schwer damit, dessen Folgen für Umwelt und Sozialgefüge in den Griff zu bekommen.
Ein gewaltiges Stahlskelett, geformt wie ein gigantisches «Z», schraubt sich derzeit im Pekinger Osten in atemberaubender Geschwindigkeit in die Höhe: das künftige Hauptquartier des chinesischen Staatsfernsehens CCTV, des grössten TV-Senders der Welt. Das vom holländischen Architekten Rem Koolhaas entworfene Ensemble mit gläserner Haut wird mit 234 Metern nicht nur das höchste und verrückteste, sondern für weit über eine halbe Milliarde Euro auch das teuerste Bauwerk Pekings werden.
Die Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses, die in diesen Tagen aus allen Teilen Chinas angereist sind, werden das Projekt wohl mit gemischten Gefühlen betrachten: hin und her gerissen zwischen dem Stolz über den kühnen Schwung ihrer Hauptstadt und der bangen Frage, ob das viele Geld nicht für andere, dringendere Aufgaben hätte verwendet werden können.
Marxistische Manager
Das neue TV-Hauptquartier, das bald über zehntausend Mitarbeiter beherbergen soll, gehört zu den Symbolen des neuen China – so wie das «Vogelnest» und der «Eiswürfel», die international bewunderten futuristischen Olympiabauten im Norden Pekings. Dieses China ist, unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei, auf dem Weg in die vorderste Reihe der Weltmächte – fast 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion. Anders als die Ostblock-Staaten, die alle in den politischen und wirtschaftlichen Bankrott geschlittert waren, hat die chinesische KP eine erstaunliche Wende vollbracht.
Das Erstaunliche daran: Verantwortlich für den Boom sind bekennende Kommunisten. Alle hohen Funktionäre und Manager Chinas – ob in Behörden, Banken oder Staatsunternehmen – müssen der KP angehören. Und die hat sich kaum gewandelt: Die Führung entscheidet wie in alten Zeiten in der neuen «Verbotenen Stadt» Zhongnanhai neben dem Kaiserpalast im Geheimen über Ziele und Strategien. Sie reden vom Marxismus-Leninismus, von den Mao-Zedong-Gedanken und von der Deng-Xiaoping-Theorie genauso gekonnt wie über Aktienkurse, Hedgefonds und Derivate und stören sich an Widersprüchen keinen Deut.
Investoren angelockt
Diese Funktionäre schafften es, Investoren aus allen Ecken der Welt – darunter viele Auslandchinesen – zu überreden, Geld nach China zu bringen. Seit den Neunzigerjahren flossen über tausend Milliarden Dollar ins Reich der Mitte, mit denen rund 500 000 Fabriken gebaut wurden. Chinas Unternehmen haben bis heute so viel produziert und exportiert, dass Pekings Banken auf einem Riesenberg Devisen sitzen: Mehr als tausend Milliarden Dollar sind es bereits.
Längst verkaufen die Chinesen nicht mehr nur Billigwaren wie T-Shirts, Papierblumen oder Plastikpuppen. Selbst die Autoexperten in Europa, die noch vor kurzem über «chinesische Klapperkisten» kicherten, denken mittlerweile um: Im vergangenen Jahr haben die Autowerke bereits 340 000 Personenwagen ausserhalb Chinas verkauft. Das sind fast doppelt so viele wie 2005 – und das sei, versprechen chinesische Konzerne wie Geely oder Brilliance, nur der Anfang. Vor allem den Exporten in die USA und nach Europa hat es die chinesische Wirtschaft zu verdanken, das sie seit über zwei Jahrzehnten jährlich um rund zehn Prozent gewachsen ist. Schon vor zwei Jahren schoss China – statistisch gesehen – an Grossbritannien und Frankreich vorbei an die vierte Stelle der Weltwirtschaft. Bald wird das Land auch Deutschland überholen und nur noch Japan und die USA vor sich haben.
Schaltstelle der Weltwirtschaft
Weil sie um die Arbeitsplätze im eigenen Land fürchten, pilgern Politiker aus den USA und Europa regelmässig nach China und beknien die Pekinger Regierung, ihre Währung, den Yuan, anzuheben. Ihre Hoffnung: Wenn der Yuan mehr wert ist, werden die Chinesen mehr Maschinen, Parfum oder Lokomotiven aus dem Ausland kaufen, weil die für sie dann billiger werden. Doch Peking hat sich bisher nicht erweichen lassen, sondern hält den Yuan fest auf dem bisherigen Kurs. Gleichwohl ist der KP-Führung klar, dass es so nicht weitergehen kann. Bricht der amerikanische Markt ein, gerät auch Chinas Wirtschaft ins Trudeln.
Premierminister Wen Jiabao warnt vor den Gefahren zu grosser Abhängigkeit von ausländischen Investoren und Käufern. Bisher habe China Glück gehabt, weil die Bedingungen des Weltmarktes günstig waren, doch müsse es in Zukunft verstärkt «auf seine eigenen Kräfte bauen». Die 1,3 Milliarden Chinesen könnten längerfristig nur vorankommen, wenn ihre Fabriken nicht nur für den Export, sondern vermehrt auch fürs eigene Volk produzierten und dessen «ständig wachsende materielle und kulturelle Bedürfnisse» befriedigten. Derweil werden Chinas Politiker und Bankiers an den Finanzplätzen der Welt hofiert und zu Gipfeltreffen eingeladen. Die jüngeren von ihnen haben vielfach in den USA oder Europa studiert oder an der zentralen Parteihochschule Managementvorträgen von Dozenten der amerikanischen Harvard-Universität gelauscht.
Wie verflochten Chinas Wirtschaft mittlerweile mit dem Rest der Welt ist, war Ende Februar zu spüren: Als die Aktien in Schanghai plötzlich um fast neun Prozent einbrachen, stärker als je in den letzten zehn Jahren, rauften sich auch die Finanzmakler in Tokio, London und New York die Haare. Dort gaben die Kurse ebenfalls sofort nach, wenn auch weniger stark.
Hohe soziale Kosten
Der frühere Staats- und Parteichef Jiang Zemin und sein energischer Premierminister Zhu Rongji hatten sich in den Neunzigerjahren vor allem darauf konzentriert, die Wirtschaft für ausländische Investoren attraktiv zu machen: In ihrer Regierungszeit trat China der Welthandelsorganisation WTO bei und errichtete immer mehr Industrieparks, in denen Millionen junge Frauen und Männer vom Land für minimale Löhne arbeiteten.
Den Erfolg dieser Politik sehen die heutigen Chefs von Partei und Regierung, KP-Generalsekretär Hu Jintao und Premier Wen, mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Immer deutlicher werden die enormen Kosten, die das rasante Wachstum dem Land und seinen Bürgern aufgebürdet hat. Denn der neue Wohlstand ist höchst ungerecht verteilt: Hunderte Millionen Chinesen sind immer noch so arm, dass sie ihr Geld nicht, wie es sich Premier Wen wünscht, für mehr Konsum ausgeben können. Sie brauchen ihr Erspartes für Notgroschen im Alter, für den Arztbesuch oder für das Schulgeld der Kinder. Der neue Reichtum, der sich in Superprojekten wie dem Pekinger Fernsehzentrum, in schicken Einkaufspalästen und gläsernen Wolkenkratzern zeigt, ist einer kleinen Schicht vorbehalten.
Wachsende Spannungen
Obwohl es den meisten Chinesen heute wirtschaftlich besser geht als vor zehn Jahren, wachsen deshalb die Spannungen in der KP. In einem offenen Brief an die Regierung warf eine Gruppe Pekinger Professoren den Politikern vor, sie hätten es zugelassen, dass staatliches Vermögen im Wert von Hunderten Millionen Dollar «in private und ausländische Hände» gefallen sei. Die Kluft zwischen extremer Armut und extremen Reichtum wachse, schimpfen die Kritiker. Was sei das für eine KP, die so etwas zulasse!
Beissende Ungerechtigkeit, wuchernde Korruption, ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem, Hunderte Millionen Chinesen ohne Kranken- und Altersversicherung, Dorfschulen ohne Lehrer und immer mehr Studienabgänger, die keine Arbeit finden – das sind die Folgen, mit denen die Verlierer der Reformen kämpfen müssen. Dazu kommen dramatische Umweltprobleme, deren Ausmass in Peking erst ganz allmählich zur Kenntnis genommen wird. Niemand weiss zum Beispiel, wie das Land mit den Millionen Dürreflüchtlingen zurechtkommen soll, die in den kommenden Jahren aus den vertrockneten Gebieten des Westens und Nordens in Regionen ziehen werden, die schon jetzt überbevölkert sind.
Sehnsucht nach Harmonie
Auf die vielen sozialen Unruhen in den letzten Jahren hat die KP-Spitze mit einer veränderten Strategie reagiert: Unter Parolen wie den «Menschen in den Mittelpunkt stellen» oder «harmonische Gesellschaft» leiteten Hu und Wen eine Reihe von sozialen Reformen ein, die vielfach vor allem symbolischen Wert haben – aber nicht nur. Bauern müssen nicht mehr so viele Steuern zahlen, die Schulgebühren sollen ihnen erlassen werden. In den Städten, in denen rund 40 Prozent der Chinesen leben, erhalten die Ärmsten jetzt Sozialhilfe, die allerdings nur wenige Euro im Monat beträgt.
Solche Versprechungen tragen dazu bei, dass viele Chinesen glauben möchten, die KP-Führung meine es ernst, wenn sie Besserung gelobt. Die Misere sei vor allem von korrupten Funktionären verschuldet, die sich nicht um Gesetze, Vorschriften und Anweisungen aus Peking scherten, lautet die landläufige Meinung.
Krebsübel Korruption
Für den Volkskongress, der zurzeit seine Jahrestagung abhält, ist ein Schwerpunktthema gesetzt worden: die «Niederschlagung der Korruption». Es ist allerdings nicht das erste Mal und wohl auch nicht das letzte Mal, dass die KP die Korruption mit einer Kampagne von oben auszumerzen versucht. Zwar hat sie jüngst den Schanghaier Parteichef festgesetzt, der sich am Pensionsfonds der Stadt vergriffen und illegale Aktiengeschäfte betrieben haben soll, aber viele andere bleiben unbehelligt.
Von «Glasnost» wie in der offener gewordenen späten Sowjetunion gibt es auch nach vielen Jahren der Reform wenig zu sehen, die chinesische «Perestroika» bezieht sich nur auf den Umbau der Wirtschaft. Chinas TV-Journalisten werden auch in ihrem schicken neuen Gebäude keine Einzelheiten über Skandale in den höheren Etagen der KP berichten dürfen.
Garantie für Eigentum
Das Zauberwort heisst «sozialistisches Eigentumssystem chinesischen Typs»: Nach langjährigen internen Debatten hat Chinas Regierung einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der erstmals in der Geschichte der Volksrepublik privates Eigentum ebenso schützt wie das des Staates und kollektiver Einrichtungen. Es soll den Millionen Chinesen, die in den letzten Jahren zum Beispiel Wohnungen gekauft oder geerbt haben, mehr rechtliche Sicherheit bieten. Privatunternehmer erhalten besseren Schutz für ihre Investitionen.
Über den Entwurf beraten nun die knapp 3000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses, des jährlich tagenden Pseudo-Parlaments. Es wird erwartet, dass das Gesetz ohne grossen Widerspruch durchgeht. Damit springt die Kommunistische Partei, ideologisch nach wie vor dem öffentlichen Eigentum verpflichtet, über ihren Schatten. Es haben sich offenkundig jene Kräfte in der KP durchgesetzt, die Privateigentum und seinen Schutz als wichtigen Stützpfeiler des Wirtschaftswachstums betrachten. Das Paragrafenwerk sei nötig, um Chinas Entwicklung im «Anfangsstadium des Sozialismus» zu verbessern, hiess es.
Unruhen wegen Konfiskationen
Ohne das neue Gesetz seien «der Wohlstand des Landes und die gesellschaftliche Stabilität» bedroht, erklärte der Sprecher des Volkskongresses. In vielen Teilen des Landes kam es in den letzten Jahren zu Unruhen, weil örtliche Funktionäre die Bewohner ganzer Siedlungen und Dörfer aus ihren Häusern und von ihren Feldern vertrieben hatten, um ohne angemessene Entschädigung Industrieanlagen, Golfplätze oder Wohnsiedlungen zu bauen.
Gegner der Vorlage werfen der KP vor, all jene zu belohnen, die sich seit Beginn der Wirtschaftsreformen in den Achtzigerjahren durch die Ausplünderung staatlicher Betriebe bereichert hätten, während die früheren Beschäftigten ohne Rente und Arbeit zurückblieben. Die Parteiführung weist den Vorwurf zurück: Das Gesetz schütze nur «rechtmässig durch harte Arbeit erworbenes Eigentum». Der Widerstand in den eigenen Reihen hatte dazu geführt, dass die Vorlage immer wieder überarbeitet wurde. Laut der jüngsten Version hat niemand das Recht, Entschädigungen «in die eigene Tasche zu stecken, zu unterschlagen oder ihre Auszahlung zu verzögern». Wer sich illegal an staatlichem Vermögen vergreift, riskiert Strafe.
Agrarland ausgenommen
Das Recht auf Privatbesitz war bereits 2004 in die Verfassung aufgenommen worden. Bisher fehlten aber die Paragrafen, die genau definieren, was privates, staatliches und kollektives Eigentum ist – und wer darüber verfügen darf. Besonders heiss umstritten war die Frage, ob den Bauern der Grund und Boden übertragen wird. Die Partei hat sich jetzt dagegen entschieden. Offiziell werden auch in Zukunft alle landwirtschaftlichen Grundstücke dem Staat oder dem Dorfkollektiv gehören. Lokale Funktionäre dürfen Land im «öffentlichen Interesse» beschlagnahmen, wenn sie die Bewohner angemessen entschädigen.
Wer sich ungerecht behandelt fühlt, kann sich jetzt allerdings auf ein nationales Gesetz und nicht nur auf lokale Vorschriften berufen. Die Vorlage definiert jedoch das «öffentliche Interesse» nicht. Angesichts der wuchernden Städte und der raschen Umwandlung von Feldern in wertvolle Baugrundstücke ist die Herrschaft über die Landtitel für Chinas Funktionäre die sicherste Methode, sich die eigenen Taschen zu füllen. Die Abgeordneten werden den Entwurf voraussichtlich in der kommenden Woche verabschieden. Die Zahl der Gegenstimmen dürfte einen Hinweis darauf geben, wie stark der Unmut in der Bevölkerung über das Gesetz ist.
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limi
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