Ich musste herzlich lachen, als unsere Staats- und Regierungschefs im Jahre 2000 in Lissabon beschlossen haben, zu dem führenden Wirtschaftsraum der Welt aufsteigen "zu wollen" und Ländern wie den USA oder China zu zeigen, was eine GDP-Harke ist...
Ich kann mir heute noch ein dickes Grinsen nicht verkneifen *hoho*
:-)
Naja, es kam wie es kommen musste und ab hier geb ich nun ab an die Kollegen... *g*
Hausaufgaben erledigen
Verfehlt die EU ihr ehrgeiziges Ziel, bis 2010 die "dynamischste und wettbewerbsfähigste wissensbasierte Wirtschaft der Welt" zu werden? Nach dem Urteil der hochrangigen Expertengruppe unter Leitung von Wim Kok ist bislang jedenfalls zu wenig geschehen. Der Abstand zu den Volkswirtschaften in den USA und Asien hat eher noch zugenommen.
Die Gruppe unabhängiger Sachverständiger hatte im Mai 2004 mit der Überprüfung der seit vier Jahren bestehenden Lissabon-Strategie begonnen. Damit sollen die Vorarbeiten für eine Überprüfung zur Halbzeit auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates im März 2005 der EU-Kommission unterstützt werden.
Wichtige Benchmarks verfehlt
"Die Gesamtperformance der europäischen Wirtschaft in den vergangenen vier Jahren ist enttäuschend", so der Kok-Bericht:
- Die Produktivitätswachstumsrate der EU15 im Zeitraum 1996-2003 betrug im Schnitt 1,4 gegenüber 2,2 Prozent in den USA.
- Die Wachstumskurve ist auf 1,4 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) abgeflacht, die USA liegen bei 2,8 Prozent des BIP.
- Die Beschäftigungsquote ist zwar von 62,5 Prozent (1999) auf 64,3 Prozent (2003) gestiegen, doch beträgt der Abstand zu den USA noch 10 Prozent.
- Ausgaben für Forschung und Entwicklung stagnieren bei 2 Prozent des BIP, in den USA erreichen sie fast die 3-Prozent-Marke. Nur Schweden und Finnland stehen besser da.
Korrekturen am Konzept notwendig
Die Argumente, die für die Lissabon-Strategie sprechen, sind heute zwingender denn je. Europa muss um seiner selbst willen Innovationen vorantreiben. Gerade wenn Europa das Gesellschaftsmodell mit einem hohen Maß an Sozialstaatlichkeit erhalten will, dann muss es ökonomisch besser dastehen. Fazit: Ein ehrgeiziges Reformprogramm auf allen Ebenen sollte in den kommenden Jahren in den Vordergrund der EU-Politik rücken.
Kurz gefasst: die Lissabon-Ziele Am 22./23. März 2000 beschloss der Europäische Rat in Lissabon eine neue Strategie. Im Kern handelt es sich um ein Bündel sich gegenseitig beeinflussender Reformen (aus den Schlussfolgerungen des Rates):
Kurz- und langfristige Benchmarks
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Interview mit Thomas Mirow
Entscheidung in Hauptstädten
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Thomas Mirow (SPD) ist deutsches Mitglied der hochrangigen Sachverständigengruppe unter Vorsitz von Wim Kok.
EU-Nachrichten: Die Kok-Gruppe hat heute den Lissabon-Bericht vorgestellt, sie haben mitgewirkt. Was ist der Befund?
Thomas Mirow: Wir stellen fest, dass man schon in der "alten" EU von den gesetzten Zielen weit entfernt ist. Es ist daher unwahrscheinlich, dass die Ziele bei dem Produktionsniveau, der Beschäftigungsquote sowie der Forschung und Entwicklung erreicht werden. Mehr noch: Die EU wird durch die Erweiterung weiter zurückgeworfen. Denn die neuen Mitgliedstaaten liegen in allen wesentlichen Indikatoren deutlich unter dem Durchschnitt der EU, außer beim Punkt Wirtschaftswachstum.
Hat der Europäische Rat im Jahr 2000 die Kräfte für mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit der EU überschätzt?
Der wichtigere Aspekt ist, dass die Hausaufgaben nicht gemacht worden sind. Aber "Lissabon 2000" war in der Tat auch geprägt von der Atmosphäre der New Economy, die dann - kaum dass die Tinte trocken war - in sich zusammenbrach. Das spürt man unter anderem daran, dass das Thema Industrie und Industrieproduktion - für die deutsche Volkswirtschaft von besonderem Gewicht - in der Lissabon-Agenda kaum vorkommt. Das Hauptproblem liegt allerdings nicht in einer falschen Anlage, sondern einer unzulänglichen Umsetzung.
Die Sachverständigengruppe und die EU-Kommission bemängeln "strukturelle Verkrustungen". Heißt das mehr Flexibilität?
Man muss mit dem Begriff nach mehr Flexibilität sorgsam umgehen, denn viele verstehen darunter eine Rücknahme sozialstaatlicher Absicherungen. Schweden etwa verfügt hier über ein hohes Niveau, zugleich aber ist sein Arbeitsmarkt überaus anpassungsfähig. Ein Großteil der Mitgliedstaaten ist dagegen nicht vorbereitet auf die Alterung der Gesellschaft, sowohl bei der Versorgung als auch der Gesundheit. Sie investieren nicht genug in Forschung und Entwicklung oder in die Fähigkeiten von Menschen. Gegenüber den USA sind sie bei der Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologien sogar zurückgefallen. Anstöße zur Modernisierung sind - kurz gesagt - in einem Großteil der europäischen Gesellschaften unterentwickelt.
Gerät der Standort Europa gegenüber den USA stärker ins Hintertreffen?
Die Vereinigten Staaten haben gegenüber der EU einen Wohlstandsvorsprung von 30 Prozent. 10 Prozent - Mehr Menschen arbeiten. 10 Prozent - Sie arbeiten länger. 10 Prozent - Sie arbeiten produktiver. Letzeres hat mit der Implementierung von Informationstechnologien in den Arbeitsprozess zu tun. Europa hat ein Problem.
Es gibt innerhalb der EU ein deutliches Gefälle. Warum orientiert man sich nicht stärker an den "fortgeschrittenen" Staaten?
Wenn die EU so gut wäre, wie Finnland und Schweden, hätten wir wenig Sorgen auf dem Gebiet. Dann lägen wir auch vor den USA. Nun sind dies relativ kleine, homogene Gesellschaften. Deutschland, Frankreich und Italien sollten ihnen nacheifern, aber es gibt große strukturelle und kulturelle Unterschiede - und also kein einfaches Rezept. Wir plädieren für eine Bewertung nach 14 klaren Indikatoren, um die Fortschritte besser zu beurteilen.
Wird man zur Halbzeitbilanz 2005 die Reformagenda verändern müssen?
Wir sollten uns nicht zu lange aufhalten bei der Frage, ob das Ziel, wettbewerbsfähigste Gesellschaft zu werden, bis 2010 zu erreichen ist. Es ist richtig, es zu versuchen. Wir plädieren nicht dafür, die Strategie neu aufzurollen, wohl aber zu konzentrieren auf die Hauptfaktoren Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum. Wir empfehlen Schritte und Aktionen in fünf Punkten:
- Verbesserung der Wissensgesellschaft,
- Vollendung des Binnenmarktes,
- Schaffung eines besseren Unternehmensklimas - etwa schnellere Unternehmensgründungen,
- mehr Anpassungsfähigkeit der Ar-beitsmärkte und schließlich
- Investitionen in Öko-Innovationen.
Die Umsetzung aber entscheidet sich zu einem erheblichen Anteil in den europäischen Hauptstädten. Deswegen empfehlen wir den Staats- und Regierungschefs, nationale Aktionspläne zu entwickeln und diese mit den Parlamenten und Sozialpartnern zu diskutieren.
Quelle:
»EU-Nachrichten« Nr. 39 vom 04.11.2004