Fünf Argumente gegen ein zweites 1929
Coba
31. Oktober 2008, 10:38
Rezession, einbrechende Aktienmärkte-manche befürchten, dass wir wie 1929 vor einer Weltwirtschaftskrise stehen. Auch wir haben die Mitte 2007 ausgebrochene Krise von Anfang an sehr ernst genommen. Aber mittlerweile ist es an der Zeit, auf Argumente gegen ein zweites 1929 hinzuweisen. Das wichtigste: Anders als damals sind die Zentralbanken heute nicht mehr im Goldstandard gefangen und können das Bankensystem mit Liquidität versorgen.
�Das Verständnis der großen Depression ist der heilige Gral der Volkswirtschaftslehre�, schrieb 1995 Ben Bernanke, der heutige Fed-Chef. Von Keynes über Friedman bis zu Bernanke haben viele bedeutende Ökonomen nach den Ursachen der Weltwirtschaftskrise gesucht. Deshalb verstehen wir sie heute ziemlich gut. Notenbänker und Politiker haben die Lehren aus der großen Depression verinnerlicht. Vor allem das spricht gegen ein neues 1929.
1. Zentralbanken nicht mehr im Goldstandard gefangen
Ende der zwanziger Jahre herrschte der Goldstandard. Die Zentralbanken waren verpflichtet, mindestens einen bestimmten Teil (in den USA 40%) der Geldbasis (Bargeld und Sichteinlagen der Geschäftsbanken bei den Zentralbanken) durch Gold zu decken. Allerdings mussten sie die von ihr ausgegebene Geldbasis bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise aus Vorsichtsgründen durch mehr als das vorgeschriebene Minimum decken. Schließlich konnten jederzeit Inländer oder Ausländer verlangen, sich Bargeld oder ihre Einlagen bei den Zentralbanken in Gold auszahlen zu lassen. Um die Golddeckung zu erhöhen hat etwa die US-Notenbank Ihre Geldbasis, von Juni 1928 bis Juni 1930 um 6% gesenkt. Dieses Schrumpfen der Geldbasis entzog den US-Geschäftsbanken Reserven, die sie dringend benötig hätten, um die US-Wirtschaft in der Krise mit Geld und Kredit zu versorgen.
Anders als beim Goldstandard können die Zentralbanken heute die Geldbasis selbst bestimmen, etwa indem sie den Geschäftsbanken Aktiva, meist Staatsanleihen, abkaufen und ihnen dafür Einlagen gutschreiben. Das gibt ihnen die Möglichkeit, die Geldbasis in Krisenzeiten auszuweiten, damit die Geschäftsbanken in der Lage bleiben, die Wirtschaft mit Liquidität zu versorgen. Während die US-Geldbasis zu Beginn der Weltwirtschaftskrise fatalerweise sank, ist sie in den USA seit Anfang 2008 um 40% gestiegen.
2. Regierungen stützen Banken
Die US-Zentralbank hat während der Weltwirtschaftskrise tatenlos zugesehen, wie eine US-Bank nach der anderen kippte. Nach dem spektakulären Konkurs der New York Bank of the United States stürmten die verunsicherten Kunden die Banken, um ihre Einlagen abzuheben und so in Sicherheit zu bringen. Diese Panik ließ vor allem viele lokale Banken zusammenbrechen. Bis 1933 war ein Drittel aller US-Banken in Konkurs gegangen, ihre Einlagen wurden größtenteils vernichtet. Die verbliebenen Banken hielten sich mit Ausleihungen zurück. Das war neben dem oben erwähnten Schrumpfen der Geldbasis ein weiterer Grund, warum die Geldmenge (Einlagen der Nichtbanken bei den Geschäftsbanken und Bargeld) von 1929 bis 1933 um etwa ein Viertel sank. In einer Untersuchung aus dem Jahr 1995 hat Ben Bernanke, der heutige Fed-Chef, diese Unterversorgung mit Geld als die wesentliche Ursache für Deflation und Depression ausgemacht.1 Letztlich stützte er damit die zentrale These des Monetaristen Milton Friedman.
Aus den Fehlern der 30er Jahre haben die Regierungen längst ihre Lehren gezogen. Deshalb haben die meisten Industriestaaten mittlerweile beschlossen, Einlagen und bestimmte Verbindlichkeiten ihrer Banken zu garantieren und ihnen sogar frisches Eigenkapital zur Verfügung zu stellen. Dieses beherzte Eingreifen sollte wesentlich dazu beitragen, dass das Bankensystem in der Lage bleibt, die Wirtschaft mit Liquidität zu versorgen.
3. Fiskalpolitik steuert aktiv gegen
Die Finanzminister wollten zu Beginn der Depression in erster Linie die öffentlichen Haushalte ausgleichen. Teilweise ist das darauf zurückzuführen, dass viele Staaten bei steigenden Defiziten mit einem Vertrauensverlust und in der Folge Kapitalabzügen ins Ausland rechneten. Im Rahmen des Goldstandards hätte das auch zu einem Verlust an Goldreserven geführt. Deutschland war völkerrechtlich sogar zu einem ausgeglichenen Haushalt verpflichtet, um seinen Reparationsverpflichtungen an die Siegermächte des 1. Weltkrieges nachkommen zu können. Die deutsche Regierung kürzte ihre Ausgaben und verordnete niedrigere Löhne und Preise. Das setzte eine deflationäre Spirale in Gang, in der sich der Rückgang von Preisen und Löhnen sowie der Abschwung der Wirtschaft wechselseitig verstärkten. Der deutschen Wirtschaft wurde ein Prozess des Gesundschrumpfens verordnet, der auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Ausland verbessern sollte. Für diese Politik erntete Reichskanzler Brüning die Bezeichnung �Hungerkanzler�.
Auch die USA betrieben eine restriktive Haushaltspolitik. Der Finanzminister lehnte Hilfen für die Arbeitslosen ab. Die Staatsausgaben fielen von 10 Mrd. USD 1930 auf 8,7 Mrd. USD 1932 und 1933. Auch real lagen die Staatsausgaben 1933 etwas niedriger als 1930.
Gegenwärtig sieht dies ganz anders aus. Die US-Regierung erhöht das Haushaltsdefizit massiv und stützt so die Wirtschaft. Das Defizit der US-Bundesregierung dürfte von 161 Mrd. USD im Haushaltsjahr 2007 auf 1000 Mrd. USD im Haushaltjahr 2009 (Oktober 2008 bis September 2009) steigen. Die Mittel werden teilweise zur Stützung des Bankensystems verwendet, fließen aber auch in Konjunkturprogramme.
4. Automatische Stabilisatoren wirken im Hintergrund
Einige der bekanntesten Fotos aus der Weltwirtschaftskrise zeigen lange Schlangen von Arbeitslosen vor den öffentlichen Suppenküchen. Die stark steigende Arbeitslosigkeit führte bei den Betroffenen schnell zu massiven Einkommensverlusten, da die Arbeitslosenversicherungen nur recht rudimentär waren.
Seither wurden die sozialen Sicherungssysteme stark ausgebaut. Steigt die Arbeitslosigkeit in einer Rezession, wird den Betroffenen für einen bestimmten Zeitraum Arbeitslosengeld bezahlt, das den durch Verlust des Arbeitsplatzes ausgelösten finanziellen Einbruch abfedert. Im Abschwung erhöht die Arbeitslosenversicherung automatisch ihre Ausgaben und stabilisiert so die Nachfrage und damit die Wirtschaft. Ein anderer automatischer Stabilisator ist der Rückgang des Steueraufkommens in der Rezession. Durch Steuererhöhungen wurde dieser Stabilisator in der Weltwirtschaftskrise außer Kraft gesetzt. Als automatischen Stabilisator muss man auch den starken Anstieg der Staatsquote ansehen. Heute machen die Ausgaben des Staates (inkl. der Sozialversicherungen) je nach Land zwischen einem Drittel und der Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aus. Die schwankungsarmen öffentlichen Ausgaben stabilisieren im Abschwung die gesamte Wirtschaftsleistung. Neben einer verbesserten Geldpolitik sind die automatischen Stabilisatoren ein Grund dafür, dass die Konjunkturzyklen nach dem zweiten Weltkrieg vergleichsweise gemäßigt ausfielen. Es ist kaum vorstellbar, dass das Bruttoinlandsprodukt diesmal derart massiv einbricht wie in den Jahren nach 1929.
5. Regierungen kooperieren
Nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise versuchten immer mehr Regierungen, die eigene Wirtschaft durch Zollanhebungen zu schützen. Berüchtigt wurde der �Smoot Hawley Tariff Act� in den USA. Durch dieses Gesetz stieg der effektive Zollsatz für Importe in die USA von 13,5% im Jahr 1929 auf 19,8% im Jahr 1933. Die Zollanhebungen provozierten Gegenmaßnahmen der Handelspartner, es setzte ein Zollwettlauf ein, der internationale Handel kam zum Erliegen, was die Weltwirtschaftskrise verschärfte. Auch auf anderen Gebieten kooperierten die Staaten nicht. Sie weigerten sich, ihre Geldpolitiken aufeinander abzustimmen oder sich gegenseitig Kredite zu gewähren. Der fehlende internationale Beistand, etwa in Form von Notenbankkrediten, war mitverantwortlich für den Zusammenbruch des österreichischen und deutschen Bankenwesens.
Auch daraus haben die Politiker Lehren gezogen. Nach dem zweiten Weltkrieg schufen sie internationale Institutionen, die Zollanhebungsrunden verhindern und die internationale Zusammenarbeit regeln sollten. Das allgemeine Zollabkommen GATT sorgte für niedrigere Zölle auf Industrieerzeugnisse. Die Nachfolgeinstitution WTO wacht über die Einhaltung der Regeln im Welthandel. Der Internationale Währungsfonds kann über Beistandskredite bei Zahlungsbilanzproblemen helfen. Nicht zuletzt arbeiten die wichtigsten Zentralbanken der Welt eng zusammen; die abgestimmte Zinssenkung von Fed, EZB und anderen Notenbanken am 8. Oktober ist nur ein Beispiel von vielen.
Kein zweites 1929-aber was dann?
Gewichtige Argumente sprechen somit gegen eine Depression im Stil der 30er Jahre. Stattdessen prognostizieren wir sowohl für die USA als auch für den Euroraum eine Rezession, die etwas länger und tiefer ausfallen dürfte als die beiden letzten zu Beginn der 90er Jahre und am Anfang dieses Jahrzehnts. Dies wird auf den Gewinnen der Unternehmen lasten. Vermutlich haben die Aktienkurse ihr Tief noch nicht gesehen, ein Einbruch wie in der Weltwirtschaftskrise ist aber unwahrscheinlich.
aktienmarkt.net/...en_ein_zweites_1929,dw2008-10-31-473710.htm