Die Plünderer der Rentenkassen
Wie die Regierung eine Generation ausplündert
Wenn man zwischen ziellosen und gezielten Krisenmaßnahmen der Regierungskoalition zu unterscheiden versucht, wird man einräumen müssen, daß die Erhöhung der Rentenbeiträge ein sehr gezielter Schlag war. In ihm vor allem drückt sich der Geist der gegenwärtigen Regierung aus, die auch eine Generationenherrschaft ist. "Wir machen das mit unserer Generation", hieß es schon am Wahlabend unter den Siegern. Die personelle Zusammensetzung des Kabinetts, das inzwischen amtiert, und auch das Alter vieler anderer Repräsentanten der Administration Schröder lassen keinen Zweifel daran, welche Generation mit "unserer Generation" gemeint ist. Es sind die Altersgenossen von achtundsechzig.
Daß gerade die Achtundsechziger für die letzte, katastrophale Überspannung des Rentensystems vor dessen absehbarem Zusammenbruch verantwortlich sind, hat eine nicht zu bestreitende Logik. Denn in den kommenden zehn Jahren werden just die zwischen 1940 und 1950 Geborenen in den Ruhestand gehen, sofern sie sich dort nicht bereits befinden. Diese Generation hat die höchsten Rentenansprüche in der Geschichte des deutschen Sozialsystems und wahrscheinlich auch aller anderen Sozialsysteme der westlichen Welt angehäuft. Sie kann auf eine fast sechzigjährige Friedensperiode zurückblicken, in der berufliche Karrieren und individuelle Sehnsüchte sich mit einer ungefährdeten Eigengesetzlichkeit entfalten durften, die in der Geschichte der Neuzeit ohne Beispiel ist. Keine Hyperinflation wie die von 1923, kein Börsenkrach wie der von 2001/2002, kein Weltkrieg und keine Massenepidemie haben die Lebensläufe der Generation von achtundsechzig durcheinandergebracht.
Die eine und einzige zeitgeschichtliche Erschütterung, von der die Achtundsechziger betroffen sind, ist eben die Studentenrevolte von 1968, ihr Heldenepos und Gründungsmythos. Daß wir die Chronologie dieses fröhlichen Aufstands inzwischen auswendig hersagen können, daß der historisch und moralisch ungleich wichtigere Prager Frühling in unserem Bewußtsein hinter den kleindeutschen Wirrungen zurücktritt, dafür haben schon die jungen Lehrerinnen und Lehrer gesorgt, die aus den instandbesetzten Universitäten der sechziger in die Schulen der siebziger Jahre strömten.
Dieselben Lehrkräfte haben uns auch beigebracht, zwischen Text und Kontext, Genesis und Geltung, grob gesagt: zwischen Anspruch und Realität eines philosophischen Satzes oder einer politischen Haltung zu unterscheiden. Wir haben nun Gelegenheit, diese Differenzierung anzuwenden. Hinter allen steuer- und beitragsschöpfenden Maßnahmen, die in diesen Tagen auf uns zukommen, steht, wie es heißt, die Notwendigkeit, die betreffenden Verteilungssysteme je für sich "zu sichern". Dabei kann von einer solchen Sicherheit, wie ein Blick auf die Altersstruktur der Bevölkerung beweist, längst keine Rede mehr sein. Um wenigstens ihr Phantasma aufrechtzuerhalten, hat sich die Koalition das byzantinische Vernebelungsmodell der "Riester-Rente" ausgedacht. Da diese, wie bekannt, vom Volk nicht angenommen wird, könnte sie ihm schon bald verordnet werden. Die Regierung Schröder mag den Anspruch erheben, ihr Programm sei auf Konsens gebaut; bei dessen Durchsetzung aber enthüllt sie ihr wahres Gesicht.
Die Anhebung des Beitrags zur Rentenversicherung ist nun die eigentliche Königssteuer dieser konstitutionellen Kanzlermonarchie. Sie trifft nicht diejenigen, die von ihr profitieren, sondern fast ausschließlich jene, die nie in den Genuß einer ihren Beitragszahlungen entsprechenden gesetzlichen Rente gelangen werden: die Zwanzig-, Dreißig- und Vierzigjährigen. Aus der Anfangsphase der Französischen Revolution gibt es eine berühmte Karikatur, auf der ein Bauer einen Kleriker und einen Aristokraten auf seinem tief gebeugten Rücken trägt. Inzwischen gibt es keine drei Stände mehr, aber das ständische Modell ist wieder im Schwange. Diesmal schleppt ein Erwerbsstand, dessen Kräfte immer erkennbarer schwinden, einen von Jahr zu Jahr an Umfang und Gewicht zunehmenden Genußstand. Die Schieflage der sozialen Schichtung, an der die Monarchien der frühen Neuzeit scheiterten, ist zur Schieflage der Generationen geworden.
Das Mißverhältnis wäre nicht so eklatant, stünde mit den Achtundsechzigern nicht gerade jene Generation zur Pensionierung an, welche die Segnungen des bundesdeutschen Sozialstaats am längsten und ausgiebigsten genossen hat. Ihre Machtergreifung durch die Rentengesetzgebung der Koalition läßt sich mit nichts vergleichen, was sich in den letzten zweihundert Jahren der Industrialisierung und Modernisierung ereignet hat - sie gleicht Versteinerungsprozessen in vormodernen, gerontokratischen Gesellschaften, etwa der ägyptischen am Ausgang des Neuen Reiches.
Wie dort die unermeßlich angewachsene Priesterkaste der Zukunft des Landes ihre eigene vorzog, finanzieren heute die Kinder von Marx und Coca-Cola die blühenden Landschaften ihres Ruhestands durch Schröpfung ihrer Nachkommen. Daß statt dessen hier und heute ein Ausgleich zwischen den Ansprüchen der heutigen und der künftigen Rentner, eine generationenübergreifende gerechte Verteilung auch der Lasten und Zumutungen des Riester-Modells stattfinden müßte, scheint ein Gedanke zu sein, der für die Köpfe der Regierenden zu groß ist. Jene Generation, die einst die Phantasie an die Macht bringen wollte, baut heute nur noch darauf, daß die Sintflut erst nach ihr kommt. Aber die Flut wird sie einholen. Wir stehen am Beginn einer Epoche gesellschaftlicher Beunruhigungen, von deren Form und Ausmaß wir noch keine Vorstellung haben.
ANDREAS KILB
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2002, Nr. 274 / Seite 37
Wie die Regierung eine Generation ausplündert
Wenn man zwischen ziellosen und gezielten Krisenmaßnahmen der Regierungskoalition zu unterscheiden versucht, wird man einräumen müssen, daß die Erhöhung der Rentenbeiträge ein sehr gezielter Schlag war. In ihm vor allem drückt sich der Geist der gegenwärtigen Regierung aus, die auch eine Generationenherrschaft ist. "Wir machen das mit unserer Generation", hieß es schon am Wahlabend unter den Siegern. Die personelle Zusammensetzung des Kabinetts, das inzwischen amtiert, und auch das Alter vieler anderer Repräsentanten der Administration Schröder lassen keinen Zweifel daran, welche Generation mit "unserer Generation" gemeint ist. Es sind die Altersgenossen von achtundsechzig.
Daß gerade die Achtundsechziger für die letzte, katastrophale Überspannung des Rentensystems vor dessen absehbarem Zusammenbruch verantwortlich sind, hat eine nicht zu bestreitende Logik. Denn in den kommenden zehn Jahren werden just die zwischen 1940 und 1950 Geborenen in den Ruhestand gehen, sofern sie sich dort nicht bereits befinden. Diese Generation hat die höchsten Rentenansprüche in der Geschichte des deutschen Sozialsystems und wahrscheinlich auch aller anderen Sozialsysteme der westlichen Welt angehäuft. Sie kann auf eine fast sechzigjährige Friedensperiode zurückblicken, in der berufliche Karrieren und individuelle Sehnsüchte sich mit einer ungefährdeten Eigengesetzlichkeit entfalten durften, die in der Geschichte der Neuzeit ohne Beispiel ist. Keine Hyperinflation wie die von 1923, kein Börsenkrach wie der von 2001/2002, kein Weltkrieg und keine Massenepidemie haben die Lebensläufe der Generation von achtundsechzig durcheinandergebracht.
Die eine und einzige zeitgeschichtliche Erschütterung, von der die Achtundsechziger betroffen sind, ist eben die Studentenrevolte von 1968, ihr Heldenepos und Gründungsmythos. Daß wir die Chronologie dieses fröhlichen Aufstands inzwischen auswendig hersagen können, daß der historisch und moralisch ungleich wichtigere Prager Frühling in unserem Bewußtsein hinter den kleindeutschen Wirrungen zurücktritt, dafür haben schon die jungen Lehrerinnen und Lehrer gesorgt, die aus den instandbesetzten Universitäten der sechziger in die Schulen der siebziger Jahre strömten.
Dieselben Lehrkräfte haben uns auch beigebracht, zwischen Text und Kontext, Genesis und Geltung, grob gesagt: zwischen Anspruch und Realität eines philosophischen Satzes oder einer politischen Haltung zu unterscheiden. Wir haben nun Gelegenheit, diese Differenzierung anzuwenden. Hinter allen steuer- und beitragsschöpfenden Maßnahmen, die in diesen Tagen auf uns zukommen, steht, wie es heißt, die Notwendigkeit, die betreffenden Verteilungssysteme je für sich "zu sichern". Dabei kann von einer solchen Sicherheit, wie ein Blick auf die Altersstruktur der Bevölkerung beweist, längst keine Rede mehr sein. Um wenigstens ihr Phantasma aufrechtzuerhalten, hat sich die Koalition das byzantinische Vernebelungsmodell der "Riester-Rente" ausgedacht. Da diese, wie bekannt, vom Volk nicht angenommen wird, könnte sie ihm schon bald verordnet werden. Die Regierung Schröder mag den Anspruch erheben, ihr Programm sei auf Konsens gebaut; bei dessen Durchsetzung aber enthüllt sie ihr wahres Gesicht.
Die Anhebung des Beitrags zur Rentenversicherung ist nun die eigentliche Königssteuer dieser konstitutionellen Kanzlermonarchie. Sie trifft nicht diejenigen, die von ihr profitieren, sondern fast ausschließlich jene, die nie in den Genuß einer ihren Beitragszahlungen entsprechenden gesetzlichen Rente gelangen werden: die Zwanzig-, Dreißig- und Vierzigjährigen. Aus der Anfangsphase der Französischen Revolution gibt es eine berühmte Karikatur, auf der ein Bauer einen Kleriker und einen Aristokraten auf seinem tief gebeugten Rücken trägt. Inzwischen gibt es keine drei Stände mehr, aber das ständische Modell ist wieder im Schwange. Diesmal schleppt ein Erwerbsstand, dessen Kräfte immer erkennbarer schwinden, einen von Jahr zu Jahr an Umfang und Gewicht zunehmenden Genußstand. Die Schieflage der sozialen Schichtung, an der die Monarchien der frühen Neuzeit scheiterten, ist zur Schieflage der Generationen geworden.
Das Mißverhältnis wäre nicht so eklatant, stünde mit den Achtundsechzigern nicht gerade jene Generation zur Pensionierung an, welche die Segnungen des bundesdeutschen Sozialstaats am längsten und ausgiebigsten genossen hat. Ihre Machtergreifung durch die Rentengesetzgebung der Koalition läßt sich mit nichts vergleichen, was sich in den letzten zweihundert Jahren der Industrialisierung und Modernisierung ereignet hat - sie gleicht Versteinerungsprozessen in vormodernen, gerontokratischen Gesellschaften, etwa der ägyptischen am Ausgang des Neuen Reiches.
Wie dort die unermeßlich angewachsene Priesterkaste der Zukunft des Landes ihre eigene vorzog, finanzieren heute die Kinder von Marx und Coca-Cola die blühenden Landschaften ihres Ruhestands durch Schröpfung ihrer Nachkommen. Daß statt dessen hier und heute ein Ausgleich zwischen den Ansprüchen der heutigen und der künftigen Rentner, eine generationenübergreifende gerechte Verteilung auch der Lasten und Zumutungen des Riester-Modells stattfinden müßte, scheint ein Gedanke zu sein, der für die Köpfe der Regierenden zu groß ist. Jene Generation, die einst die Phantasie an die Macht bringen wollte, baut heute nur noch darauf, daß die Sintflut erst nach ihr kommt. Aber die Flut wird sie einholen. Wir stehen am Beginn einer Epoche gesellschaftlicher Beunruhigungen, von deren Form und Ausmaß wir noch keine Vorstellung haben.
ANDREAS KILB
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2002, Nr. 274 / Seite 37