Erfurter Amokläufer macht deutlich, dass nicht nur Terroristen, Schläfer und Fundamentalisten Bedrohungen darstellen, sondern die Gewalt auch in den eigenen Reihen jederzeit und überall explodieren kann
Ein relegierter Schüler des Erfurter Gutenberg Gymnasiums erschießt am Ort seines Schulversagens 16 Menschen - neun Lehrerinnen, vier Lehrer, eine Schülerin, einen Schüler sowie einen Polizisten - und richtet sich anschließend selbst hin. "Vorbilder" für diesen in Deutschland beispiellosen Gewaltexzess hat es vor allem in Amerika genug gegeben. Beim Columbine High-School-Massaker, in der Santana High School nahe bei San Diego, aber auch bereits 1996 in Dunblane/Schottland töteten Amokläufer Schüler und Lehrer. Während wir uns zuvor unsere feine zivilisatorische Distinktion mindestens heimlich gegenüber Amerika bescheinigten, scheint diese alteuropäische Überlegenheit nun auch endgültig dahin zu sein.
Der Täter im martialischen Ninja-Look agierte mit Pump-Gun und Handfeuerwaffe, nicht viel anders als es weiland Steve McQueen in Peckinpahs The Getaway oder Schwarzenegger im "Terminator" vorführten. Amerikanische Jagdszenen also in Erfurt, wie sie Deutschland so noch nicht gesehen hat. Kein Wunder, dass es für die New York Times und Washington Post die Spitzenmeldung des Tages war, obwohl Nachrichten aus Deutschland dort ansonsten Mangelware sind.
Noch bevor die Hintergründe zum Täter vorlagen, sahen nicht nur Vertreter von Jagd- und Sportgemeinschaften ein Kernproblem im illegalen deutschen Waffenmarkt, der aus osteuropäischen Ländern beliefert wird. Inzwischen hat die Polizei allerdings preisgegeben, dass der 19-jährige Robert S. als Mitglied eines Schützenvereins zwei Waffenscheine besaß. Er hat die Mordwerkzeuge mithin völlig legal erworben. Müssen die Waffengesetze drastisch verschärft werden, wie es die Gewerkschaft der Polizei in einer ersten Stellungnahmen sofort forderte?
Gewiss, gute Gründe für Waffenbesitz in einer Gesellschaft, die das Gewaltmonopol auf den Staat übertragen hat, gibt es nur wenige. Der Ländervergleich zwischen den USA und Japan belegt zudem überdeutlich, welches Unheil der leichte Zugang zu vorgeblichen Verteidigungswaffen anrichtet (Private Homeland Security). Der Bundestag hatte zufällig am Tag des Massakers das relativ restriktive Waffengesetz in eher marginalen Punkten noch weiter verschärft und war damit den üblichen liberalen Bedenken nicht gefolgt. Die Gewaltbereitschaft, die sich auch unter restriktiven Bedingungen des Waffenerwerbs ihrer blutigen Mittel versieht, ist mit Gesetzesverschärfungen indes längst nicht erledigt.
Für einen Moment reflektiert die Gesellschaft nun ihren Umgang mit Gewalt in der Hektik, die der üblichen medialen Verarbeitung solcher Ereignisse angemessen ist. Auf Fassungslosigkeit, Entsetzen, Trauer werden jetzt psychologische Erkenntnisse, Rezepturen von Konfliktforschern und politische Mutmaßungen aus reichem Füllhorn geschüttet, um ja nicht den Eindruck entstehen zu lassen, die Gesellschaft würde nicht auch mit diesem Problem fertig werden. Immerhin blüht die zarte Erkenntnis, dass nicht nur Terroristen, Schläfer und Fundamentalisten Bedrohungen darstellen, sondern die Gewalt auch in den eigenen Reihen jederzeit und überall explodieren kann.
Ist es mehr als ein singuläres Ereignis? Lässt sich das Massaker auf eine irre geleitete Täterpsyche reduzieren? Eine Schülerin berichtet, der Täter habe angelegentlich den Wunsch geäußert, dass er berühmt werden wolle. Das sah Herostratos bekanntlich genauso. Und beiden ist es gelungen.
Im Jahre 356 vor Christus brannte der Artemis-Tempel in Ephesos lichterloh. Das Gotteshaus, damals eines der Sieben Weltwunder wurde komplett zerstört. Der Täter war schnell gefunden: ein Bürger der Stadt wollte mit dem Attentat seinen eigenen Namen in die Annalen der Geschichte bringen. Um ihm diese Genugtuung nicht zu geben, beschlossen die Bürger von Ephesos, dass der Name des Verbrechers für immer verschwiegen werden sollte. Doch der Plan gelang nicht. Noch heute wissen wir den Namen des Attentäters: Herostratos.
Wissen wir dadurch sehr viel mehr über das gesellschaftliche Gewaltpotenzial? Die Medien sind schuld, die Gesellschaft ist schuld, die Eltern sind schuld, der Täter ist schuld. Irgendeiner ist immer schuld, wenn die aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängte Gewalt sich in einer Form zeigt, die deshalb so unheimlich ist, weil man sie nicht kalkulieren oder in die Statistiken wegräumen kann. Gewaltexzesse diesen Zuschnitts passen nicht zu der gesellschaftlich akzeptierten Gewaltausübung. An Verkehrstote oder Terrorbekämpfung sollen wir uns gewöhnen, aber ein Einzelner, der das staatliche Gewaltmonopol provoziert, besitzt vermeintlich gefährlichere Dimensionen.
Dabei ist etwa die "geistig-moralische Wende" auf deutschen Schulhöfen nicht erst seit gestern zu beobachten. Pädagogische Maßnahmen, die kids zu zivilisieren, sind offensichtlich Mangelware und verschwinden hinter eindimensionalen Leistungsprofilen, die soziale Kompetenzen zum Zufallsprodukt werden lassen. Non scholae, sed vitae discimus?
Die Kultusministerkonferenz will es jetzt richten. Aber wie? Überforderte Lehrer als Orientierungsfiguren sind in einer aggressiven Starkultgesellschaft ohnehin wenig attraktive Zeitgenossen. Schumi, der offen bekennende Nichtwähler und halsbrecherische Raser, ist der wahre Held der Turbo-Gesellschaft. Der gesellschaftliche Schulterschluss der Schulen mit Eltern, den gefährlichen Kindern den Weg der Tugend zu weisen, ist allenfalls eine Fiktion. Erhöhte Gewaltbereitschaft ist heute schon in Grundschulen zu beobachten, wenn man bereit ist, die Augen aufzumachen. Lehrer berichten, dass sie ihre Taschen nicht mehr im Klassenraum liegen lassen, weil sie anschließend vergeblich ihren Geldbeutel suchen würden. Sollen wir deshalb Schulen in Hochsicherheitsgefängnisse verwandeln, Metalldetektoren an jedem Klassenzimmer anbringen, den Gang zur Toilette nur unter polizeilicher Aufsicht zulassen? Vielleicht schon - weil diese Veranstaltungen unseren so selektiven wie hilflosen Umgang mit der Gewalt am besten illustrieren würden.
Die gesellschaftliche Verarbeitung des im Deutschland der Nachkriegsgeschichte beispiellosen Massakers läuft jetzt auf Hochtouren. Konfliktforscher, Psychologen, Politiker werden an die mediale Front geworfen, um mit ihren schnellen Rezepturen zugleich gegen voreilige Schlüsse zu warnen. Die Jagdszenen aus Erfurt werden im Wahlkampf das Thema "Innere Sicherheit" zusätzlich aufheizen, als ob dieses Thema wirklich politisierbar wäre. Gelernt haben wir also nur zum wiederholten Mal, dass im Herzen der Zivilisation die Gewalt sitzt. Vermutlich ist die eigentliche politische Frage immer nur, in welche Richtung sich das gesellschaftliche Gewaltpotenzial ausdehnen darf. Vor Querschlägern der vorliegenden Art sind wir dadurch nicht gefeit, zum wenigsten, wenn pastörliche Betroffenheitsreden die Paradoxien entsolidarisierter Gesellschaften kaschieren wollen.
heise.de
Gruß
Happy End
Ein relegierter Schüler des Erfurter Gutenberg Gymnasiums erschießt am Ort seines Schulversagens 16 Menschen - neun Lehrerinnen, vier Lehrer, eine Schülerin, einen Schüler sowie einen Polizisten - und richtet sich anschließend selbst hin. "Vorbilder" für diesen in Deutschland beispiellosen Gewaltexzess hat es vor allem in Amerika genug gegeben. Beim Columbine High-School-Massaker, in der Santana High School nahe bei San Diego, aber auch bereits 1996 in Dunblane/Schottland töteten Amokläufer Schüler und Lehrer. Während wir uns zuvor unsere feine zivilisatorische Distinktion mindestens heimlich gegenüber Amerika bescheinigten, scheint diese alteuropäische Überlegenheit nun auch endgültig dahin zu sein.
Der Täter im martialischen Ninja-Look agierte mit Pump-Gun und Handfeuerwaffe, nicht viel anders als es weiland Steve McQueen in Peckinpahs The Getaway oder Schwarzenegger im "Terminator" vorführten. Amerikanische Jagdszenen also in Erfurt, wie sie Deutschland so noch nicht gesehen hat. Kein Wunder, dass es für die New York Times und Washington Post die Spitzenmeldung des Tages war, obwohl Nachrichten aus Deutschland dort ansonsten Mangelware sind.
Noch bevor die Hintergründe zum Täter vorlagen, sahen nicht nur Vertreter von Jagd- und Sportgemeinschaften ein Kernproblem im illegalen deutschen Waffenmarkt, der aus osteuropäischen Ländern beliefert wird. Inzwischen hat die Polizei allerdings preisgegeben, dass der 19-jährige Robert S. als Mitglied eines Schützenvereins zwei Waffenscheine besaß. Er hat die Mordwerkzeuge mithin völlig legal erworben. Müssen die Waffengesetze drastisch verschärft werden, wie es die Gewerkschaft der Polizei in einer ersten Stellungnahmen sofort forderte?
Gewiss, gute Gründe für Waffenbesitz in einer Gesellschaft, die das Gewaltmonopol auf den Staat übertragen hat, gibt es nur wenige. Der Ländervergleich zwischen den USA und Japan belegt zudem überdeutlich, welches Unheil der leichte Zugang zu vorgeblichen Verteidigungswaffen anrichtet (Private Homeland Security). Der Bundestag hatte zufällig am Tag des Massakers das relativ restriktive Waffengesetz in eher marginalen Punkten noch weiter verschärft und war damit den üblichen liberalen Bedenken nicht gefolgt. Die Gewaltbereitschaft, die sich auch unter restriktiven Bedingungen des Waffenerwerbs ihrer blutigen Mittel versieht, ist mit Gesetzesverschärfungen indes längst nicht erledigt.
Für einen Moment reflektiert die Gesellschaft nun ihren Umgang mit Gewalt in der Hektik, die der üblichen medialen Verarbeitung solcher Ereignisse angemessen ist. Auf Fassungslosigkeit, Entsetzen, Trauer werden jetzt psychologische Erkenntnisse, Rezepturen von Konfliktforschern und politische Mutmaßungen aus reichem Füllhorn geschüttet, um ja nicht den Eindruck entstehen zu lassen, die Gesellschaft würde nicht auch mit diesem Problem fertig werden. Immerhin blüht die zarte Erkenntnis, dass nicht nur Terroristen, Schläfer und Fundamentalisten Bedrohungen darstellen, sondern die Gewalt auch in den eigenen Reihen jederzeit und überall explodieren kann.
Ist es mehr als ein singuläres Ereignis? Lässt sich das Massaker auf eine irre geleitete Täterpsyche reduzieren? Eine Schülerin berichtet, der Täter habe angelegentlich den Wunsch geäußert, dass er berühmt werden wolle. Das sah Herostratos bekanntlich genauso. Und beiden ist es gelungen.
Im Jahre 356 vor Christus brannte der Artemis-Tempel in Ephesos lichterloh. Das Gotteshaus, damals eines der Sieben Weltwunder wurde komplett zerstört. Der Täter war schnell gefunden: ein Bürger der Stadt wollte mit dem Attentat seinen eigenen Namen in die Annalen der Geschichte bringen. Um ihm diese Genugtuung nicht zu geben, beschlossen die Bürger von Ephesos, dass der Name des Verbrechers für immer verschwiegen werden sollte. Doch der Plan gelang nicht. Noch heute wissen wir den Namen des Attentäters: Herostratos.
Wissen wir dadurch sehr viel mehr über das gesellschaftliche Gewaltpotenzial? Die Medien sind schuld, die Gesellschaft ist schuld, die Eltern sind schuld, der Täter ist schuld. Irgendeiner ist immer schuld, wenn die aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängte Gewalt sich in einer Form zeigt, die deshalb so unheimlich ist, weil man sie nicht kalkulieren oder in die Statistiken wegräumen kann. Gewaltexzesse diesen Zuschnitts passen nicht zu der gesellschaftlich akzeptierten Gewaltausübung. An Verkehrstote oder Terrorbekämpfung sollen wir uns gewöhnen, aber ein Einzelner, der das staatliche Gewaltmonopol provoziert, besitzt vermeintlich gefährlichere Dimensionen.
Dabei ist etwa die "geistig-moralische Wende" auf deutschen Schulhöfen nicht erst seit gestern zu beobachten. Pädagogische Maßnahmen, die kids zu zivilisieren, sind offensichtlich Mangelware und verschwinden hinter eindimensionalen Leistungsprofilen, die soziale Kompetenzen zum Zufallsprodukt werden lassen. Non scholae, sed vitae discimus?
Die Kultusministerkonferenz will es jetzt richten. Aber wie? Überforderte Lehrer als Orientierungsfiguren sind in einer aggressiven Starkultgesellschaft ohnehin wenig attraktive Zeitgenossen. Schumi, der offen bekennende Nichtwähler und halsbrecherische Raser, ist der wahre Held der Turbo-Gesellschaft. Der gesellschaftliche Schulterschluss der Schulen mit Eltern, den gefährlichen Kindern den Weg der Tugend zu weisen, ist allenfalls eine Fiktion. Erhöhte Gewaltbereitschaft ist heute schon in Grundschulen zu beobachten, wenn man bereit ist, die Augen aufzumachen. Lehrer berichten, dass sie ihre Taschen nicht mehr im Klassenraum liegen lassen, weil sie anschließend vergeblich ihren Geldbeutel suchen würden. Sollen wir deshalb Schulen in Hochsicherheitsgefängnisse verwandeln, Metalldetektoren an jedem Klassenzimmer anbringen, den Gang zur Toilette nur unter polizeilicher Aufsicht zulassen? Vielleicht schon - weil diese Veranstaltungen unseren so selektiven wie hilflosen Umgang mit der Gewalt am besten illustrieren würden.
Die gesellschaftliche Verarbeitung des im Deutschland der Nachkriegsgeschichte beispiellosen Massakers läuft jetzt auf Hochtouren. Konfliktforscher, Psychologen, Politiker werden an die mediale Front geworfen, um mit ihren schnellen Rezepturen zugleich gegen voreilige Schlüsse zu warnen. Die Jagdszenen aus Erfurt werden im Wahlkampf das Thema "Innere Sicherheit" zusätzlich aufheizen, als ob dieses Thema wirklich politisierbar wäre. Gelernt haben wir also nur zum wiederholten Mal, dass im Herzen der Zivilisation die Gewalt sitzt. Vermutlich ist die eigentliche politische Frage immer nur, in welche Richtung sich das gesellschaftliche Gewaltpotenzial ausdehnen darf. Vor Querschlägern der vorliegenden Art sind wir dadurch nicht gefeit, zum wenigsten, wenn pastörliche Betroffenheitsreden die Paradoxien entsolidarisierter Gesellschaften kaschieren wollen.
heise.de
Gruß
Happy End