News - 16.04.06 08:57
Der neue Star aus Asien
Indien war jahrzehntelang das Aschenputtel unter Asiens Volkswirtschaften. Nun tänzelt das Land als stolze Prinzessin aufs Parkett der Globalisierung. Die größte Demokratie der Welt schwingt sich zum neuen Star auf. Ein Handelsblatt-Bericht.
NEU-DELHI. Investoren hofieren das Land als die nächstegroße Wachstumsstory nach China. Den Wandel illustriert eine Google-Suche: Wer das Stichwort "Indien" mit "Boom" oder "Wachstum" verbindet, erhält inzwischen mehr Treffer als bei der Suche nach Attributen, mit denen das Land früher assoziiert wurde, wie "Armut", "Guru", "Kamasutra" oder "Tiger".
Anzeichen des Wirtschaftsbooms, der das Land mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt erfasst hat, finden sich allüberall: Flüge sind auf Wochen ausgebucht, kein Hotelbett mehr unter 300 Dollar die Nacht, die Mieten steigen jährlich um die Hälfte, die Löhne um ein Siebtel. Von Delhi bis Kalkutta knubbeln sich Trabantenstädte, selbst in Provinzstädten wuchern Shopping- Malls, und die Zahl der Autoswächst so schnell, dass der Verkehr vor dem Infarkt steht.
Seit 2003 wächst Indiens Wirtschaft im Schnitt mit acht Prozent - und damit deutlich schneller als um die sechs Prozent, die das Land seit Beginn der Liberalisierung 1991 zulegte. Und die Zukunftsaussichten sind rosig: "In den kommenden fünf JahrenwirdIndienauf einen Wachstumskurs von neun bis zehn Prozent einschwenken", ist Premierminister Manmohan Singh sicher. Der Optimismus hat auch Bankvolkswirte infiziert. Goldman Sachs erwartet, dass Indien in den nächsten 50 Jahren diehöchstenWachstumsraten der Welt vorweisen wird und die Volkswirtschaft in 30 Jahren zur weltweiten Nummer drei nach China und den USA aufsteigt. Die Deutsche Bank ist noch optimistischer: Umdurchschnittlich 5,5 Prozent im Jahr soll Indien bis 2020 schneller wachsen als jedes andere Land der Welt und zur Nummer drei der Weltwirtschaftsmächte aufsteigen. Ohne die Volksrepublik als Messlatte wäre Indien bereits heute der weltweite Wachstumsstar und müsste sich nicht mit Platz zwei und demTrostpreis der am schnellsten wachsenden Demokratie begnügen.
Die Regierungsform der Demokratie bremst den Reformprozess. Wie in Deutschland oder Frankreich werden auch in Indien Wahlkämpfe leichter mit dem Versprechen von Subventionen gewonnen als mit harten Strukturreformen. Anders als inChina können Bürger vor Gericht Einspruch erheben gegen den Bau von Staudämmen, Autobahnen oder den Abriss von Slums. Das verzögert Großprojekte. Aber die Demokratie macht Indien grundstabil und den Aufstieg zur Wirtschaftsmacht berechenbar. Trotz der Vielfalt an Sprachen, Religionen undKasten fürchtet kein Beobachter Indiens Kollaps oder einen Bürgerkrieg.
Dem Westen entsteht mit Indien ein verlässlicher politischer Partner in Asien, der seine Werte teilt.US-Präsident Bush wertete das Land im März zu einer "globalen Führungsmacht" auf und erklärte: "Gemeinsam haben wir die Kraft, die Welt zu verändern." Sein Besuch zementierte eine strategische Partnerschaft zwischen der mächtigsten und der größten Demokratie der Welt. Die Allianz mit den USA zahlt sich für Indien nicht nur sicherheitspolitisch aus, sondern auch wirtschaftlich wie etwa durch Kooperationen in der Hochtechnologie und Energiesicherheit.
Indiens offene Gesellschaft fordert und fördert individuelle Kreativität und privates Unternehmertum. "In der Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Freiheit liegt eine Kraft, die technologieintensiven Industrien hilft", sagt der Columbia-Ökonom Jagdish Bhagwati. Diktaturen könnten solche Kräfte nicht freisetzen. Anders als im staatsgetriebenen Reich der Mitte treiben Indiens Privatunternehmer den Wirtschaftsaufschwung. Sie finanzieren sich an gut regulierten Kapitalmärkten, setzen Ressourcen effizient ein, steigern ihre Produktivität und denken indischer Firmen in den vergangenen fünf Jahren phänomenale Gewinne eingefahren, während sie mit chinesischen Titeln viel Geld verloren. In Indiens aufstrebender Marktwirtschaft machen Auslandsinvestoren zwar noch geringere Umsätze, erzielen aber höhere Gewinne als in der Volksrepublik. Siemens-Aufsichtsratschef Heinrich von Pierer etwa bezeichnet die Ertragssituation als "überdurchschnittlich". In China sei sie nur "zufriedenstellend". Es ist auch kein Zufall, dass die akutelle Forbes-Liste der Milliardäre 23 Inder ausweist und nur acht Chinesen - und das, obwohl ihr Heimatmarkt bei vielen Produkten nur ein Fünftel so groß ist wie der chinesische.
Der Binnenmarkt birgt großes Potenzial. Merrill Lynch geht davon aus, dass der Konsumbedarf der Inder bereits in zehn Jahren an dender Chinesen heranreicht. Die am frühesten liberalisierten Branchen wachsen explosiv: Die Autoproduktion stieg seit 1991 von 150 000 auf über eine Million. Der Luftverkehr legt um 20 Prozent jedes Jahr zu und soll dieses Tempo Analysten zufolge für mindestens fünf Jahre halten.Dasselbe gilt für den Mobilfunk, der um 30 Prozent wächst.
Ein wichtiger Wachstumsfaktor ist Indiens Bevölkerung.Das Durchschnittsalter beträgt 24 Jahre, und jeder Dritte ist unter 15. Während Chinas Bevölkerung auf Grund der Ein-Kind- Politik schrumpfen wird, wirft Indien bis 2020 rund 250 Millionen Arbeiter auf den Markt. Das prädestiniert das Land als Partner eines ergrauten Westens. Die Flut der Arbeitssuchenden stellt die Politik aber auch vor große Herausforderungen. Mut zu beherzten Reformen braucht die Regierung bei Arbeitsrecht und Infrastruktur ebenso wie bei der Öffnung sensibler Branchen wie des Einzelhandels und der Landwirtschaft.
Quelle: Handelsblatt.com