Der Guru der Geld-Gurus (EuramS)13.08.2006 08:33:00Wall Street verehrt ihn seit langem: Wirtschafts-Professor Bruce Greenwald gilt als Großmeister der Value-Investoren, als eine Art Warren Buffett der Theorie. Jetzt hat er in Deutschland seine Gewinnformel erklärt – die auch in schlechten Zeiten funktioniert von Jens Castner Warum?", fragt der Mann auf dem Podium. "Warum gerade ich? Warum war Gott so gnädig, mich auszuerwählen, diese unterbewerte Aktie zu entdecken?" Als er die ersten Kicherlaute aus dem Publikum vernimmt, ist Schluss mit lustig. Die sonore Stimme wird schärfer. "Stellen Sie sich diese Frage immer, wenn Sie glauben, Sie könnten an der Börse ein Schnäppchen machen: Warum sind Millionen andere Anleger so blöd, diese Perle zu übersehen? Und warum in aller Welt gibt es einen Trottel, der bereit ist, sie für diesen Preis abzugeben?" Selbst alte Hasen unter den Investmentprofis geraten in Verzückung, wenn Bruce Greenwald – so heißt der Mann mit der sonoren Stimme – ihnen den Spiegel vorhält. Auch wenn es um Banalitäten geht, um simpelste Börsenpsychologie, es ist einfach ein Erlebnis, den Aktien-professor sprechen zu hören. "Wenn Sie sich’s leisten können, studieren Sie bei ihm", sagt Stefan Rehder von der Bayerischen Landesbank, dem es kürzlich gelang, Bruce Greenwald für einen Vortrag auf der "Value Intelligence Conference" nach Deutschland zu holen. Greenwald wirkt wie ein Fremdkörper in der Liga der geschniegelten Maßanzugträger, die ihre Körper nach Dienstschluss in Fitness-Studios stählen. Er ist mit 60 nicht mehr der jüngste, er ist untersetzt, geht am Stock. Sein Sakko ist schludrig über die Stuhllehne geworfen, dem Sitz seiner Krawatte merkt man an, dass sie ihn stört. Fehlte nur noch, dass er in der Hosentasche nach Zigaretten kramte. Okay, Greenwald raucht nicht. Aber selbst das würden sie ihm in New York verzeihen. Greenwald ist einer vom alten Schlag. Einer wie Warren Buffett, der kein Blatt vor den Mund nimmt und das Weltbild der Börsianer mit Vorliebe auf den Kopf stellt. "Was ist der wertvollste Markenname der Welt?", will Greenwald von seinen Studenten wissen. Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: Coca-Cola, was sonst. "Und was glaubt ihr", insistiert Greenwald, "macht mehr Eindruck auf euer Mädel? Wenn ihr mit einem Sixpack Coke unterm Arm aufkreuzt oder wenn ihr mit einem Porsche-Cabrio vorfahrt?" Dafür lieben ihn die Wall-Street-Yuppies. Weil er so anders ist. So ehrlich, so authentisch. Greenwald ist der Guru der Wall-Street-Gurus. "Er ist derjenige, der in die Sprache der Wissenschaft übersetzt, was Superinvestoren wie Warren Buffett und Charlie Munger in der Praxis betreiben", erklärt Professor Max Otte von der Fachhochschule Worms. Eine Gallionsfigur für alle Value-Investoren. Der Value-Stil ist – vereinfacht ausgedrückt – nichts anderes als die Erkenntnis, dass man Aktien am besten dann kauft, wenn sie billig sind. Benjamin Graham, der Urvater dieses Investmentansatzes, hatte beim Wall-Street-Crash 1929 beinahe sein gesamtes Vermögen eingebüßt. Statt sich – wie viele andere – die Kugel zu geben, ging er den Ursachen des Fiaskos auf den Grund und entwickelte eine Überlebensstrategie für Investoren: Jede Aktie hat einen inneren Wert, der sich über Kennzahlen wie Kurs/Gewinn-Verhältnis, Kurs/Buchwert-Verhältnis und Dividendenrendite ausrechnen lässt. Wer nur die Aktien kauft, die deutlich unter ihrem inneren Wert notieren, erhält eine Sicherheitsmarge. Das schützt zwar nicht vor zufälligen, stimmungsgetriebenen Kursschwankungen, führt langfristig jedoch immer zum Erfolg. Denn eines Tages, so seine mittlerweile empirisch belegte Theorie, nähert sich jede Aktie ihrem inneren Wert an. Was Graham, der von 1928 bis 1957 an der Columbia-Universität in New York lehrte, seinen Studenten mit auf den Weg gab, nennt sich heute Fundamentalanalyse und ist das Handwerkszeug jedes Börsenprofis. Dass trotzdem die wenigsten so erfolgreich sind wie Grahams Musterschüler Warren Buffett, liegt zum einen an der mangelnden Geduld der Anleger –es kann Jahre dauern, bis das Graham-Szenario eintritt. Zum anderen gehen die wenigsten Investoren wirklich konsequent nach der Value-Methode vor: Sie legen ihren Analysen nicht die bekannten, tatsächlich erzielten Erträge und Dividenden eines Unternehmens zu Grunde, sondern rechnen mit möglicherweise in der Zukunft erzielbaren Größen, die aber keineswegs sicher sind. "Die Zukunft ist die am wenigsten verlässliche Kennzahl, die es gibt", warnt Value-Professor Bruce Greenwald. Warren Buffet war Grahams bester Schüler, Bruce Greenwald ist sein legitimer Nachfolger. Greenwald leitet an der Columbia-Universität den Lehrstuhl für Graham & Dodd Investing, benannt nach Graham und dessen Partner David Dodd. Da die Graham-Methode längst bekannt ist und ganze Heerscharen von Analysten den Markt nach aussichtsreichen Aktien durchforsten, ist die Suche nach unterbewerteter Substanz schwieriger geworden als zu Grahams Zeiten. Greenwald hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die Aktienanalyse um Kennziffern zu erweitern, die Graham noch vernachlässigen konnte. Eines seiner Lieblingsthemen ist Wachstum, englisch Growth, und dessen Auswirkung auf die zukünftige Gewinn- und Kursentwicklung von Unternehmensanteilen. Greenwald ist keiner, der Value und Growth als Gegensätze ansieht, wie viele Investoren das tun. Das sei Unsinn, sagt er: "Wachstum kann durchaus Value sein, wenn ein Unternehmen es richtig anstellt." Zu diesem Zweck hat er eine mathematische Formel entwickelt, die Aufschluss gibt, "ob Wachstum gut oder neutral ist oder oder gar Werte vernichtet." Wie die Baisse der Jahre 2000 bis 2003 gezeigt hat, war die Annahme vieler Manager, ihr Unternehmen müsse den Umsatz um jeden Preis steigern, ein Trugschluss, der Milliardenvermögen vernichtet hat. Schon Graham hatte erkannt, dass es nicht darum geht, den Umsatz zu steigern, sondern den Gewinn. Wenn ein Unternehmen den Gewinn maximieren will, muss es entweder mehr verkaufen oder die Kosten senken. Falls sich das Management für die erste Variante, also für Wachstum entscheidet, muss es in der Regel Investitionen tätigen. Greenwalds Rechenmodell zielt darauf ab, herauszufinden, ob die Gewinnqualität (also die Rendite auf das eingesetzte Kapital) durch diese Investitionen positiv oder negativ beeinflusst wird. Die erste Frage, die Greenwald stellt, lautet: Was kostet es, das Geld nicht an die Eigentümer – also an die Aktionäre – auszuschütten? Da diese mit den ausgeschütteten Dividenen ja andere Aktien kaufen könnten, unterstellt er, dass die Kapitalkosten eines börsennotierten Unternehmens identisch mit der Rendite sind, die der Aktienmarkt im allgemeinen abwirft. Um diese zu errechnen, nimmt er den Kehrwert des durchschnittlichen Kurs/Gewinn-Verhältnisses (KGV) und addiert dazu die Inflationsrate. Beim Markt-KGV von 16 und einer Inflation von zwei Prozent ergibt sich daraus eine durchschnittliche Renditeerwartung von 8,25 Prozent. Da es riskanter ist, eine einzelne Aktie zu kaufen als zum Beispiel einen Indexfonds, sollte ein Unternehmen also mit dem Geld etwas anstellen, das deutlich mehr Rendite verspricht als der Gesamtmarkt, zum Beispiel zehn Prozent. Um die Renditeerwartung an ein Unternehmen zu ermitteln, setzt Greenwald auf die andere Seite der Gleichung die Dividendenrendite. Dazu addiert er die Verzinsung jenes Teils des Unternehmensgewinns, der nicht als Dividende ausgeschüttet wird. Wenn ein Unternehmen, das heute eine Nettomarge von fünf Prozent erwirtschaftet, für jeden Euro, den es ins Wachstum investiert, 15 Cent pro Jahr zurückbekommt, liegt diese Rendite über den Kapitalkosten – in diesem Fall bei zehn Prozent. Es ist also sinnvoller, das Geld zu investieren, als es auszuschütten. Der dritte Summand in der Formel ist das organische Wachstum eines Unternehmens, die Rate, mit der es den Gewinn steigern würde, wenn es nichts investieren müsste. Im Einzelhandel sind das zum Beispiel die "Same Store Sales", die Steigerungsraten bei gleicher Verkaufsfläche, ohne Eröffnung neuer Geschäfte. Die Kunst der Analysten besteht demnach darin, einerseits die Rendite des nicht ausgeschütteten Kapitals möglichst genau vorherzusagen und andererseits das organische Wachstum realistisch einzuschätzen. "Lassen Sie sich dabei nie von optimistischen Aussagen des Managements blenden", rät Greenwald, "sondern schauen Sie sich die Historie an und nehmen Sie Sicherheitsabschläge vor." In vielen Branchen entspreche das organische Wachstum bestenfalls der Steigerungsrate des Bruttoinlandsproduktes. Ein Praxisseminar, das er auf der Value-Konferenz für deutsche Analysten hielt, förderte nach der Formel "Dividendenrendite plus Rendite auf das einbehaltene Kapital plus organisches Wachstum" Frappierendes zu Tage: Wachtsumsklassiker Dell zum Beispiel kommt auf eine unterdurchschnittliche Renditeerwartung von fünf Prozent und ist damit kein Investment wert. Adidas hat mit dem Kauf von Reebok nach Greenwalds Schema viel zu teuer ins Wachstum investiert und fällt hinter den Erzrivalen Nike zurück. Vermeintliche Langweiler wie American Express dagegen schneiden hervorragend ab. Überhaupt sind es die großen US-Blue-Chips, aber auch europäische Standardwerte, denen Greenwald derzeit am meisten Value zubilligt. Die KGVs von 14 bis 16 seien vergleichsweise günstig, weshalb die großen Titel die von Graham geforderte Sicherheitsmarge böten. Die ist auch notwendig, denn Value-Investoren sind eher skeptisch für die Märkte. Warren Buffett warnt bereits seit Jahren, er finde an der Börse kaum noch unterbewertete Aktien, weshalb er zunehmend in nicht börsennotierte Unternehmen investiert. Auch Landesbanker Stefan Rehder sieht Ungemach auf die Märkte zukommen: "Die Margen der Unternehmen bewegen sich auf Rekordniveau. In der Vergangenheit war das meist ein Wendepunkt. Wir weden uns auf rückläufige Margen einstellen müssen." Das könnte der Anfang vom Ende sein, glaubt Professor Max Otte. Er ist von der Greenwald-Methode so überzeugt, dass er dem Guru das Versprechen abgerungen hat, hier zu Lande Seminare für Manager abzuhalten, um sie für den Value-Ansatz zu sensibilisieren. Denn selbst, wenn es mit der Konjunktur bergab geht, werden, so Otte, "diejenigen Unternehmen auf der Gewinnerseite stehen, die wirkliche Werte für die Aktionäre geschaffen haben." Value-Investoren verkaufen im übrigen nie alles, auch wenn sie für die Märkte traditionell eher schwarz sehen – sie verlassen sich auf die Sicherheitsmarge. Das Credo lautet: Investiere so, als käme morgen der Crash. Oder wie Greenwald sagt: "Warum hat Warren Buffett vom Börsenkrach 1987 sogar profitiert? Weil er darauf vorbereitet war." -red-