K R A N K E N H Ä U S E R
Deutschlands größter Krankenhauskonzern Vivantes macht in Berlin vor, wie man Kliniken umkrempelt und Ärzten die Kunst des preiswerten Heilens beibringt. Die Schlacht um die Ressource Gesundheit ist eröffnet
Freitag, 5.45 Uhr. Der Tag, an dem Horst Bayers Leben in Hälften zerfallen wird, in eine gesunde und eine kranke, beginnt sehr unauffällig. Er geht aus seiner Wohnung, vier Stockwerke hinunter, ohne Aufzug, in der Tasche ein belegtes Brötchen und die Thermoskanne. Er will heute Decken spachteln, Arbeit über Kopf, nichts Besonderes für einen Anstreicher, nichts Besonderes für einen 45Jährigen, der einmal Ringer war und Fußballspieler auf rechts außen, der Fallschirm springt und taucht. So kommt die Frühstückspause, geht die Mittagspause, dann holt Bayer neues Material. Links trägt er 15 Liter Spachtelmasse, rechts 10 Liter Grundierung, als auf der Treppe seine linke Hand taub wird und ihm kalter Schweiß ausbricht. Zu seinem Kollegen sagt er: "Du, mir ist mit einem Mal so komisch." Das Herz. Der Kollege lässt den Notarzt kommen.
Es ist Freitag, 13.40 Uhr. Im Herzkatheter-Labor des Klinikums Berlin-Friedrichshain tränkt die Schwester ein Tuch mit Desinfektionsmittel und wischt den Untersuchungstisch. Auf einem Monitor unter der Decke steht "bayer 1307/02". Im Nebenzimmer wiegt sich der Oberarzt im Drehstuhl: "So. Der Tisch ist gedeckt."
Seit anderthalb Jahren ist das Berliner Krankenhaus Friedrichshain nur noch eine Filiale, genau genommen: Teil eines Großunternehmens, das sich Vivantes nennt und dem Land Berlin gehört. Vivantes versammelt zehn ehemals städtische und ehemals eigenständige Kliniken unter einem gemeinsamen Dach. Deutschlands größter Krankenhauskonzern ist entstanden, mit knapp 12 000 Beschäftigten und gut 6000 Betten. Ein Sanierungsfall von vornherein, hoch verschuldet. Die Ärzte sind zu teuer, die Pfleger und Schwestern auch, von den Verwaltungsleuten gar nicht zu reden. Überhaupt: Die Berliner Gesundheit ist zu teuer, noch teurer als die Gesundheit im Bundesschnitt, die auch schon ziemlich teuer ist. Patienten werden älter und kränker, in Berlin sind sie besonders krank, aber die Krankenkassen müssen knausern, in Berlin ist die AOK kürzlich fast pleite gewesen. Folglich fasste der Senat einen Notplan: Ein Wunder muss her und einer, der es geschehen lassen kann. Wolfgang Schäfer ist gekommen, seither Chef von Vivantes, kein Arzt, ein Manager der Medizin, 58 Jahre alt, es geht ihm ein Ruf voraus. Das Klinikum in Kassel hat er saniert, es schreibt jetzt schwarze Zahlen.
Wenn Wolfgang Schäfer versucht, einen lockeren Eindruck zu machen, spannt sich sein rechter Arm stocksteif über das Polster der Ledercouch in seinem Büro, als habe er vor, gleich das Kissen zu erdrosseln. Spricht man ihn in dieser Pose darauf an, dass er, den manche einen hartherzigen Manager nennen, Mitglied der SPD ist, zieht Schäfer ein so erschrockenes Gesicht, dass man meinen könnte, er sei soeben der Untreue überführt worden. "Niemals" denke er während der Arbeit an die Partei, "keinen Gedanken verschwende ich daran". 1200 Jobs sind in den Vivantes-Kliniken weggefallen, seit er da ist. Eine übergeordnete Zentrale hat er aufgebaut, gefüllt mit Managern, die den Krankenhäusern alle paar Wochen durchgeben, ob sie sich rechnen. Kosten, Erlöse, Bilanz. Finanzcontroller hat Schäfer geholt, Medizincontroller, Sanierer, Kalkulierer, Menschen, die über Krankheiten anderer Menschen in Ziffernfolgen erzählen. Die Welt dreht sich jetzt schneller.
Vivantes-Kliniken dürfen Chefärzte oder Pfleger oder Schwesternschülerinnen nicht mehr selbst einstellen, nicht mehr eigenständig Antibiotika beschaffen. Alles Sache der Zentrale. Schäfer lässt ausrechnen, welche Fachabteilung im Krankenhaus mit geringstem Aufwand den höchsten Ertrag bringt. "Best practice" nennt Schäfer diesen Wettbewerb, und der Sieger soll Ärzten auf den hinteren Plätzen ein leuchtendes Vorbild sein.
Das ganz normale Krankenhaus soll wie ein Wirtschaftsbetrieb handeln, fortwährend, überall. Von Win-win-Situationen ist daher die Rede, von Benchmarking und Case-Management. Wolfgang Schäfer erhebt die Sprache des Geldes nun zur Pflichtsprache im Krankenhaus. Weil sich lange nichts bewegte, muss Schäfer jetzt besonders viel bewegen. Deswegen lässt sich in Berlin schon heute ein Bild davon machen, was in ganz Deutschland auf öffentliche Kliniken zukommt.
Freitag, 13.45 Uhr. Vor dem Krankenhaus wird die Trage mit dem Patienten bayer 1307/02 scheppernd aus dem Rettungswagen gezogen und zum Aufzug geschoben. Im Katheter-Labor reißt die Schwester ein Plastikpaket auf, das Kardio-Komplettset, Artikelnummer 967065.5. Im Flur öffnet sich die Aufzugtür, der Patient bayer 1307/02 kommt mit den Füßen zuerst ins Krankenhaus. Die Schwester bindet dem Oberarzt den Kittel zu. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen die Kosten. Je länger die Herzkranzgefäße des Patienten bayer 1307/02 verschlossen bleiben, desto stärker leidet sein Herzmuskel unter Sauerstoffmangel. Je stärker sein Herzmuskel unter Sauerstoffmangel leidet, desto schwächer wird das Herz bleiben. Je schwächer das Herz bleibt, desto größer ist das Risiko, dass Patient bayer 1307/02 einen Schrittmacher, viele Medikamente, lange Kuren braucht. Reichlich teuer.
Wenn es etwas Dringendes zu regeln gab, eine Stellenbesetzung zum Beispiel, rief Professor Roland Schiffter früher die Personalchefin in seinem Klinikum an oder den Verwaltungsleiter. Dann ging meist was, "früher" zumindest, sagt der 64 Jahre alte Neurologe, und wie er dieses Wort ausspricht, hört es sich nach einer Ewigkeit an. "Früher" meint allerdings die Zeit vor der Vivantes-Zeit, vor anderthalb Jahren, doch wenn es auch eine gefühlte Zeit gibt, dann sind die vergangenen anderthalb Jahre für Schiffter eine Ewigkeit. Seit es Vivantes gibt, schreibt er Briefe an die Zentrale des Konzerns, meist antwortet niemand. Seinen zornigsten Brief schickte er Anfang September hilfesuchend an die Chefärzte im Vivantes-Konzern, Filiale Auguste-Viktoria-Klinikum. Anschließend bat Hauptgeschäftsführer Schäfer den Absender zum ersten Mal persönlich zu sich - um ihm mitzuteilen, dass er ihn jetzt feuern werde. Wegen "massiv geschäftsschädigenden Verhaltens", schreibt Schäfers Personalcontroller später an das zuständige Bezirksamt.
Der Geschäftsführer mag es nicht, wenn man schlecht über ihn spricht, gar außerhalb des Konzerns: Schiffter hatte Kopien seines Briefes an den Präsidenten der Berliner Ärztekammer und die Senatorin für Gesundheit geschickt. "Ein ärztlich verantwortbarer Klinikbetrieb im bisherigen Umfang" sei "nicht mehr aufrechtzuerhalten", schrieb der Chefarzt, nachdem die Vivantes-Zentrale Anträge auf Verlängerung von drei befristeten Arztstellen abgelehnt hatte, "die Hälfte der Arztstellen" in seiner Abteilung. Roland Schiffter, ein besonnener, kluger Mann, ein prominenter Neurologe, wenige Wochen vor seiner Pensionierung plötzlich ein Rebell?
Der Fall wird zum Fanal. Das Bezirksamt stimmt der "Entlassung" nicht zu, aufgebrachte Betriebsräte verteilen Flugblätter in Kantinen, Personalversammlungen einigen sich auf Solidaritätsadressen, Chefärzte bitten den Geschäftsführer, "die Entscheidung rückgängig zu machen". Und auf dem Flur vor seinem Zimmer begegnet Schiffter jungen Ärzten, die ihm auf die Schulter klopfen und gratulieren. "Wie mutig Sie sind!" - "Endlich sagt mal einer was!" - "Wir können nichts sagen, wir haben Familie ..." Die Arbeitsbelastung vieler Ärzte und Pfleger ist enorm gestiegen, so sehr, dass manche Abteilungen es aufgegeben haben, Überstunden überhaupt noch zu notieren. Für Chefarzt Schiffter steht die Gesundheit der Patienten auf dem Spiel. Ihm graut vor dem "Stromlinien-Krankenhaus". Genug habe er gehört vom Sparen und Schließen, von diesem Deadline-Gerede, das neuerdings die entscheidenden Sitzungen bestimmt. Die Sprache des Geldes ist ihm zuwider, wenn sie zur Sprache des Heilens wird. Weil Stellen gestrichen werden, der "Patientendurchfluss" aus Kostengründen aber steigen muss, bleibe zu wenig Zeit für die Bettlägrigen, berichten Pfleger und Schwestern: Kranke könnten nicht mehr regelmäßig gewaschen werden, auch das Zähneputzen falle immer öfter aus, besonders an Wochenenden.
"Ich werde nicht Anzeige erstatten, wenn ein Patient aus dem Bett fällt und die überlastete Schwester mal wieder nichts merkt", sagt ein Vivantes-Betriebsrat, "dann kriegt nur die Schwester einen Riesenärger, aber nichts ändert sich. Ich liefere das Personal nicht aus." So oder ähnlich denken viele, und deshalb lassen sich Missstände lange verschweigen. Wenn die Stationen 121 und 122 der Vivantes-Filiale Humboldt-Klinikum in einem geharnischten Brief an die Zentrale vor "irreparablen Schadensereignissen" wegen ständiger Personalnot warnen, ohne das Schreiben jedoch zu unterzeichnen, wird das hinterrücks schon als Husarenstück gefeiert.
In diesen Wochen lässt Schäfer jeden Chefarzt in jeder Vivantes-Klinik bei sich erscheinen, und ganz gleich, wie effizient bisher gewirtschaftet wurde, jeder Chefarzt hört die Frage: Wo können Sie noch sparen? "Wie Klippschüler" fühlen sich manche behandelt. Um kurz vor neun reist Schäfer an zum "Strukturgespräch”, einen kargen Mehrzweckraum hat er sich dafür ausgesucht. Um Punkt neun soll der erste Mediziner erscheinen, um 10.30 Uhr der nächste und so fort, den ganzen Tag, unter Umständen bis in die Nacht. An solchen Tagen sieht man Chefärzte wie Patienten auf klapprigen Plastikstühlen vor der geschlossenen Tür des zentralen Terminverteilers warten, und in diesen Momenten verraten zuckende Mundwinkel, dass auch ein verschlagenes Machtspiel im Gange ist.
Alle paar Wochen lässt sich einer von drei "Regionaldirektoren" bei den Chefärzten sehen. Der Abgesandte der Konzernspitze stellt seinen Laptop auf, startet den Video-Beamer und wirft die "Analyse Leistungszahlen" an die Wand: Patientenfallzahl + Verweildauer = Berechnungsgrundlage. An den Rand der Tabellen ist eine Ampel gemalt wie in einem Schulbuch der vierten Klasse. Grün bedeutet: sehr schöne Zahlen. Meist steht die Ampel auf Rot. Ist der Mann mit den Ampeln verschwunden, rufen einige Krankenhausärzte ihre niedergelassenen Kollegen an: Bitte schickt doch mal wieder ein paar Patienten.
Freitag, 14 Uhr. Im Katheter-Labor hängt die Schwester eine Flasche Kontrastmittel an den Tropf, der Oberarzt sticht dem Patienten bayer 1307/02 die Schleuse in den Arm, dreimal pulsiert Blut auf das hellblaue Abdecktuch, dann schiebt der Oberarzt den Katheter bis ins Herz und richtet die Röntgenkanone auf die Brust des Patienten bayer 1307/02. Auf dem Monitor sehen die Adern wie die schwarzen Äste eines kahlen Baumes aus. Der Oberarzt hebt die Brauen. Ein schwerer Infarkt. Der Riva, der dicke Vorderwandast, ist verschlossen. In England heißt er widow-maker. Witwenmacher.
"Sagen wir bis Viertel nach? Um halb habe ich wieder eine auf dem Tisch. Und ich brauche zwölf Minuten für die Fahrt." Es ist Viertel vor. Die Uhr läuft. Sie ist außer einem Plastikherzen der einzige schmückende Einrichtungsgegenstand im Friedrichshainer Büro von Professor Dietrich Andresen. Der Mediziner ist 53 Jahre alt, ein Mann mit grauen Haaren, grauem Schnauzer und gebräunten Pianistenhänden. Andresen ist Chefarzt der Kardiologen in gleich zwei Vivantes-Filialen: Krankenhaus Friedrichshain und im Klinikum Am Urban in Berlin-Kreuzberg. Er ist der Liebling der Vivantes-Manager. Vielleicht ist er sogar der Arzt der Zukunft.
Andresen hat die Verweildauer der Herzpatienten binnen zwei Jahren von 10,3 auf 5,3 Tage verkürzt. Damit liegt er unter dem Bundesdurchschnitt. Die Ampel des Regionaldirektors steht bei ihm auf Grün, Vivantes bescheinigt ihm best practice - und die Kollegen Strebertum. Aus Neid?
Andresen behandelt Richard von Weizsäcker. Er ist häufig interviewter Experte beim Sender Freies Berlin, mal in den Nachrichten, mal als Talkgast, der mit dem Schauspieler Günther Pfitzmann über Infarkte plaudert. Er soll, tuscheln seine Mitarbeiter, Gast auf Hans-Dietrich Genschers 70. Geburtstag gewesen sein. Vor allem aber wird seine Arbeit den anderen Chefärzten als beispielhaft vorgehalten: Seht, es geht auch schneller.
Die Uhr in seinem Büro zeigt zehn vor. 25 Minuten noch.
Die mit weißem Leder beschlagene Tür geht auf, die Sekretärin reicht Tee, Andresen sitzt auf der Vorderkante seines Sessels und wippt mit den Füßen. Wenn er redet, zieht er mit den Handkanten Linien durch die Büroluft, senkrechte, waagerechte, als würde er Bilanztabellen zeichnen. Wie hat er das hingekriegt mit der Verweildauer? "Wir machen kein Hornberger Schießen mit tagelangem EKG und so. Bei uns wird der Patient auf den Tisch gelegt, Katheter rein, ratz, fatz, nach 15 Minuten haben wir die Wahrheit. Bums, basta, aus." Jede Untersuchung im Katheter-Labor, in dem auch Patient bayer 1307/02 behandelt wird, spart Tage, sagt der Chefarzt. Ebenso seine Anweisung für vorhersehbare Operationen. Die Risiko-Aufklärung 24 Stunden vorher? "Machen wir ambulant. Der Patient kommt einen Tag vorher ins Krankenhaus, damit wir ihn über die Risiken aufklären. Dann schicken wir ihn wieder nach Hause, denn darüber schlafen kann er auch im eigenen Bett."
Fünf vor. 20 Minuten noch.
Die Buchhalter in der Zentrale verehren ihn wegen seiner Eile. Andresen ist schon jetzt für das Jahr 2004 gerüstet: Von da an sollen Deutschlands Krankenhäuser von den Kassen nicht mehr pro Tag und belegtes Bett bezahlt werden, sondern nach "Fallkostenpauschalen", nach Diagnosis Related Groups (DRG). Jede Krankheit, jeder Behandlungsschritt, bekommt einen festen Wert in Euro zugeteilt. Ein Herzinfarkt ist dann teurer als eine Blinddarmentzündung, abgerechnet wird pro Heilung, gleichgültig, wie lange die dauert. Je schneller die Leute also wieder aus den Betten sind, desto eher ist Platz für neue, an denen wiederum Geld zu verdienen ist. Andresen hat mal grob hochgerechnet, dass er unter dem DRG-System Gewinne machen würde.
Volle Stunde. 15 Minuten noch.
Der Gewinn wird sich für ihn auszahlen. Vivantes unterbreitet seinen Chefärzten jetzt neuartige Verträge: Mehr als das Grundgehalt bekommt nur derjenige, der sein Budget einhält oder gar darüber hinaus Geld verdient. "Hätt ich kein Problem mit", meint Andresen. Er pendelt zwischen den Operationstischen Friedrichshain und Kreuzberg. Er hat, um Personal zu sparen, statt zwei Ärzten nur noch einen Arzt im Katheter-Labor stationiert. Und er vermietet das Labor zweimal im Monat an einen niedergelassenen Arzt, schließlich kostet die Technik dort rund eine Million Euro, doch sie veraltet schnell, "von mir aus können die Maschinen deshalb rund um die Uhr arbeiten". Das sei so, als würden sich zwei Nachbarn einen Rasenmäher teilen. Allerdings auch den Gärtner, ohne dass der davon etwas hat. Denn mit dem Katheter-Labor vermietet der Chefarzt auch seine Krankenschwestern, doch die bekommen für ihre Mehrarbeit kein Geld.
Zehn nach. Fünf Minuten noch.
Es ist, als habe Andresen in seiner Abteilung ein riesiges Fließband aufgebaut, darauf gleiten die Patienten vom Tag der Aufnahme bis zur Entlassung, immer schneller, über ihnen eine Anzeigetafel mit der Verweildauer. Alles fließt so schnell vorüber, dass manche Assistenzärzte auf Andresens Stationen sagen, sie kriegten - Akkordarbeitern gleich - den Kopf nicht mehr hoch, und die Ausbildung junger Mediziner bleibe auf der Strecke bei diesem Zeitdruck.
Viertel nach. Die Zeit ist um.
Sind die Klagen berechtigt? "In Gottes Namen: Wir sind kein Postamt." Der Chefarzt steht auf, läuft wehenden Kittels zum Telefon, nimmt den Hörer, wählt und sagt: "Andresen hier. Sie können die Frau jetzt auflegen."
Freitag, 14.05 Uhr. Die Röntgenbilder im Katheter-Labor des Professor Andresen zeigen zwei Verschlüsse im Herzen des Patienten bayer 1307/02. Aus dem Radio in der Ecke des Raumes singt Herbert Grönemeyer, der Oberarzt sagt: "Sie haben viel Kalk in den Gefäßen." Patient bayer 1307/02 schaut aus verständnislosen Augen. "Schlechte Kabel, Herr Bayer!" Der Oberarzt bläst die Verschlüsse mit einem Ballonkatheter auf und verstärkt das Ganze mit zwei Stents - das sind kleine Drahtgeflechte, mit denen die Adern aufgestemmt bleiben. Der Oberarzt zieht seine Handschuhe aus, wirft sie auf den blutigen Müllberg zwischen den Füßen des Patienten bayer 1307/2 und sagt im Gehen: "So. Das war's." Im Radio wirbt ein Möbelhaus.
Peter Steinfurths Eingriff dauerte länger, zehn Monate genau. Es war ein Eingriff in die Gewissheiten und Gemütlichkeiten der alten Bundesrepublik, und der sollte kompliziert werden, weil modernes Management auf die Ständegesellschaft der Krankenhäuser traf. Dass es Komplikationen geben würde, ließ schon Steinfurths neudeutsche Berufsbezeichnung erahnen: Projektleiter Technisches Facility Management.
Der Projektleiter Technisches Facility Management also hatte im Herbst vergangenen Jahres den Auftrag bekommen, die Wäschekosten in den zehn Vivantes-Häusern um 30 Prozent zu senken. Eigentlich eine leichte Aufgabe, mit zwei Maßgaben wäre sie im Wesentlichen zu erfüllen gewesen. Die erste: Je einheitlicher die Arztkittel, desto größer die Bestellmenge und somit der Rabatt. Die zweite: Je größer der Kunstfaseranteil im Gewebe, desto unnötiger ist das teure Bügeln. Es wäre so einfach gewesen - wäre Vivantes ein normales Unternehmen.
Weil Vivantes aber ein Gebilde aus zahlreichen Interessengruppen ist, tagte von November an die "Große Wäschekommission". Zehn Monate lang diskutierte der Projektleiter Technisches Facility Management mit Betriebsräten, Betriebsärzten, Hygienikern und OP-Schwestern über das Baumwoll-Kunstfaser-Verhältnis, über "irritative Kontaktekzeme" und über "karziogene Wirkungen" verschiedener Farbstoffe. Die Schwestern forderten freie Wahl zwischen Röcken, Siebenachtelhosen und normalen Hosen. Die Chefärzte schrieben Petitionen, um ihre Privilegien zu retten - insbesondere den Chefarztkittel aus reiner Baumwolle mit Rückenriegel und vor allem mit verdeckter Knopfleiste.
Der Projektleiter Technisches Facility Management stellte viele Fragen, das Personal gab ihm nur eine Antwort. Darf ein Assistenzarzt aussehen wie sein Chef? Nein. Ist ein Mischungsverhältnis von 50 Prozent Baumwolle und 50 Prozent Kunstfaser akzeptabel? Nein. Darf der Aufnäher mit dem Vivantes-Schriftzug gedruckt sein? Nein, gestickt. Darf der Aufnäher denn an den Kragen? Nein, lieber an die Brust. Darf der Vorname aufs Namensschild? Nein, meinten die Ärzte. Darf der Nachname aufs Namensschild? Nein, meinten die Schwestern.
Zwanzig Probanden testeten sechs Wochen lang unterschiedlichste Kollektionen. Ärzte traten zu Probeoperationen in den neuen Kitteln an. Am Ende gewann jedoch der Projektleiter Technisches Facility Management - bereichert um die Erkenntnis, dass der medizinische Fortschritt in den letzten 100 Jahren zwar rasend war, eine Krankenhausgesellschaft aber, in der die einzig erträgliche Veränderung lange Zeit nur die Tariferhöhung war, auf Reformversuche mit den Gegenmitteln der aufgeklärten Klassengesellschaft antwortet. In manchen Geschossen der Kliniken gibt es zwar mehr Hierarchieebenen als Zimmertüren, doch schließen sich selbst Widersacher im Nu zusammen, wenn es Besitzstände zu verteidigen gilt.
In Berlin gibt es diese Erkenntnis auch gedruckt, als "Rahmenbetriebsvereinbarung", mit der die ehemals städtischen Krankenhäuser unter dem privaten Vivantes-Dach aufgingen. Der Vertrag ist der schriftlich niedergelegte Konsensgedanke der alten Bundesrepublik: Bei Veränderungen soll es keine Verlierer geben. 14 eng bedruckte Seiten garantieren Kündigungsschutz bis Ende 2006, Prämien für alle Mitarbeiter, die auf Kurzarbeit gehen wollen; auch das Vorgehen bei Meinungsunterschieden zwischen Vivantes-Geschäftsführung und Betriebsrat ist genauestens festgelegt: "Die Schiedsstelle besteht aus je drei Mitgliedern des Gesamtbetriebsrates sowie drei von der Geschäftsführung benannten Vertretern/Vertreterinnen und einer/einem externen Vorsitzenden. Gesamtbetriebsrat und Geschäftsführung benennen jeweils drei externe Vertreter/innen für den Vorsitz. Aus diesen insgesamt sechs Vorschlägen wird für jedes Verfahren die/der Vorsitzende durch Los ermittelt."
Den Vertrag unterzeichneten zwei Vivantes-Geschäftsführer. Und zwölf Betriebsräte.
Freitag, 14.40 Uhr. Der Patient bayer 1307/02 ist gerade erst auf den Flur geschoben worden, die Schwester desinfiziert den Behandlungstisch in Erwartung des Patienten 1308/02, da gerinnt Nummer 1307/02 am Computer im Katheter-Labor schon zu ein paar Zahlen im Kosten-Kontroll-Programm, die online an Chefarzt Andresen gehen:
"Bayer, Horst, geb. 5. 6. 1957. Dauer der Untersuchung 30 min. Durchleuchtungszeit 10 min. Materialverbrauch: 220 ml Kontrastmittel Marke Imeron 350, zwei Diagnostikkatheter der Firma Cordis, eine 6 F rad-Schleuse der Firma Cordis, einen XB 3,5 6 F-Führungskatheter der Firma Cordis, einen Ballonkatheter Maverick 3,0/20 der Firma Boston Scientific, zwei Stents Multi-Link der Firma Guidant, das Kardio-Komplettset Modell Urban/Berlin."
"Verhältnismäßig hoher Materialaufwand", sagt der Oberarzt. Am Morgen hatte er einen einfacheren Fall; am Ende der Behandlung hat er gesagt: "Gewinn." Der Oberarzt soll hier der Beste sein. Der Beste heißt auch: der Sparsamste. Sparsamer noch als der Chef. Das ergibt die regelmäßige Kontrolle bei Professor Andresen: Wer verschwendet Material, weil er sich bei der Länge der Katheter verschätzt? Beim Druck auf die Ballons? Dem Oberarzt passiert das selten.
Die Controller in der Vivantes-Zentrale werden am Ende der Behandlung die Daten von bayer 1307/02 zusammenstellen. Sie werden errechnen: 753 Euro Personalkosten Ärzte.
Es gab in Berlin schon einmal einen jungen Arzt, der viel Aufhebens um Zahlen machte. Einen außerordentlich guten Doktor, gerade habilitiert an der Berliner Charité, schlau, fleißig, in den Augen der Obrigkeit aber rotzfrech. Im Frühjahr 1848, mit 26 Jahren, ist dieser Rudolf Virchow in Oberschlesien gewesen und hat die Menschen an Hungertyphus sterben sehen - aber eigentlich an Armut, denn die Reichen blieben verschont. Zurück in Berlin, beginnt Virchow damit, eine Wochenschrift herauszugeben: Die medicinische Reform. Er schreibt fortan von Gleichheit und Fürsorgepflichten, davon, dass Gesundheit weder vom Vermögen abhängen dürfe noch von der Barmherzigkeit einiger Ärzte und kirchlicher Spitäler. Stattdessen fordert Virchow das Recht auf ärztliche Behandlung. Für jeden. Ein Staat, eine Kommune, die sich nicht um die "öffentliche Gesundheitspflege" kümmerten, handelten unsittlich. "Die medizinische Statistik wird unser Richtscheit sein", schreibt Virchow 1849 in der Reform, "Leben um Leben wollen wir abwägen und zusehen, wo die Leichen dichter liegen, bei den Arbeitern oder den Privilegierten."
Zwei Jahrzehnte später, Virchow ist mittlerweile Abgeordneter im Berliner Stadtrat, Mitglied des Preußischen Landtags und berühmter Zellularpathologe, hat er sich durchgesetzt. Unter seiner Leitung entwirft der Schinkel-Schüler Martin Gropius ein Krankenhaus nach revolutionärem Konzept: im Grünen gelegen, bestehend aus einzelnen Pavillons mit großen Fenstern, die Häuser verbunden durch unterirdische Gänge für Transporte infektiöser Patienten. Am 8. Oktober 1874 dann, im selben Jahr, in dem Berlin, ebenfalls auf Virchows Betreiben, als eine der ersten europäischen Großstädte eine Kanalisation erhält, nehmen die Ärzte im Städtischen Krankenhaus im Friedrichshain ihre Arbeit auf. Anfang des 19. Jahrhunderts schreibt eine englische Zeitschrift, wer immer in Europa ein Spital errichte, möge sich am Krankenhaus im Friedrichshain orientieren. Die Zukunft, das war die öffentlich finanzierte, fürsorgliche Klinik.
127 Jahre nach der Eröffnung sagt Chefarzt Andresen im selben Krankenhaus: "Das Gesundheitswesen ist ein Markt, ein Wirtschaftsfaktor. Die einen verkaufen Autos, wir machen Patienten gesund." Der Preis dafür? Ist privat zu zahlen. Grundsicherung für alle, das Weitere über Privatversicherungen. Und der Richtscheit? Die Kosten-Nutzen-Statistik.
Samstag, 7 Uhr. Patient bayer 1307/02 hat eine ruhige Nacht auf der Intensivstation hinter sich. Blut wird ihm abgenommen, zur Kontrolle der Gerinnungswerte und des Fettwechsels. Das Labor wird eine "Basisdiagnostik" machen - alles, was nötig ist; mehr nicht. So wird der Patient bayer 1307/02 nicht erfahren, ob er vielleicht unter Vitaminmangel leidet oder einen Tumor hat. Der Intensivarzt sagt: "Das Krankenhaus ist kein Platz für Früherkennung mehr. Den Automatismus ,volles Programm' gab es früher. Jetzt kommt der Patient mit einem Zielauftrag zu uns. Da fahndet man nicht nach Problemen, die einen länger beschäftigt hätten." In den Labors des Krankenhauses ist die Zahl der Analysen in den vergangenen zwei Jahren um ein Zehntel zurückgegangen. Patient bayer 1307/02 interessiert sich mehr dafür, wie Hertha spielt.
Die Controller werden addieren: 196 Euro für die Dienste medizinisch-technischer Assistenten.
Dass sie zu teuer, zu alt, zu langsam ist, hat sie nicht gewusst. Sie hat ihre Arbeit gemacht, geputzt, gewischt, fast 20 Jahre lang im selben Krankenhaus, ehe sie von der Mitarbeiterin zum Kostenfaktor wurde. Die Frau - nennen wir sie Frau Stern, weil die Angst, den wahren Namen zu sagen, spätestens seit dem Fall Schiffter zu groß geworden ist - wird in den Büchern von Vivantes als Einsparpotenzial geführt. Sie ist eine von 185 Putzfrauen, die der Krankenhauskonzern beschäftigt. Noch. Denn den Großteil der Reinigungsarbeit haben längst Fremdfirmen übernommen; und weil deren Personal ein Drittel billiger ist, wäre es am günstigsten, Frau Stern schnell loszuwerden. Nur wie?
Der Geschäftsführer Finanzen hatte eine Idee: Er unterstellte Frau Stern und alle anderen Vivantes-Putzfrauen den Fremdfirmen "da draußen", wie er die Welt jenseits der Krankenhäuser nennt - mit der Maßgabe, den Frauen die marktübliche Leistung abzufordern: 200 Quadratmeter pro Stunde. In den Krankenhäusern, "drinnen" also, war nur die Hälfte üblich.
Seit Frau Stern einer Fremdfirma unterstellt ist, putzt sie pro Achtstundenschicht drei 200 Meter lange Flure, 78 Patientenzimmer, zwölf Bäder, sechs Tagungsräume, sechs Diensträume, drei Pausenräume. Überall den Boden, die Wandlampen, die Waschbecken, die Fensterbänke. Aber sie schafft es nicht. Viele ihrer Kolleginnen schaffen es nicht und werden krank. Als die Fremdfirmen anfingen, ihnen das marktübliche Putzen beizubringen, lag der Krankenstand bei 30 Prozent. "Arbeitsverweigerung", vermutet der Geschäftsführer Finanzen. "Überlastung, Bandscheibenschäden, Muskelverhärtungen, Immunschwächen", meinen die Putzfrauen; sie sind im Schnitt über 40 Jahre alt, älter als die Kolleginnen "da draußen".
Sie haben sich von 100 auf 170 Quadratmeter pro Stunde gesteigert, noch immer 30 Quadratmeter zu wenig, die neuen Vorgesetzten schimpfen und drohen, "doch nur im Einzelfall gibt es mal Übergriffe", sagt der Geschäftsführer Finanzen. Binnen eines halben Jahres haben 40 Putzfrauen aufgegeben, sie gingen gegen Abfindung. 40 Kostenfaktoren weniger, aus Vivantes-Sicht "erfreulich", sagt der Geschäftsführer Finanzen, "ich hoffe, die Zahl steigt noch höher". Sie wird wohl. Denn Vivantes will eine eigene Tochterfirma für Reinigung gründen, als künftige Teilhaber wetteifern einige dieser Fremdfirmen. Gute Chancen, von Vivantes als Partner ausgewählt zu werden, kann sich jene Firma ausmalen, die schon heute am sparsamsten wirtschaftet. "Sparsam" bedeutet auch: Wer ist die meisten Vivantes-Putzfrauen losgeworden?
Montag, 13.45 Uhr. Der Patient bayer 1307/02, am Sonntag ins normale Bettenhaus verlegt, Station 34, Zimmer 14.413, muss zur Echokardiografie. Die Ultraschalluntersuchung seines Herzens bestätigt ihm eine normale Pumpfunktion und eine nur geringfügige, vorübergehende Schädigung des Herzmuskels.
Die Controller werden ermitteln: 1177 Euro Personalkosten Pfleger und Schwestern.
Nur selten passiert es in diesen Tagen, dass Vivantes-Chef Schäfer ein paar Stunden unbehelligt bleibt von Widersachern. Aber es gibt diese Momente noch, es sind erhabene, kostbare Augenblicke im Leben eines Kürzungsmanagers. In den Fluren der Vivantes-Filiale Klinikum Neukölln hat die Initiative "Künstler für Organspende" ihre Acrylbilder aufgehängt, die Umarmung II heißen oder Herzen in Utopia. Wolfgang Schäfer eröffnet die Ausstellung mit einer feinsinnigen Rede, als plötzlich jemand aus einer Ecke tritt und ein Transparent hochhält. Gegen Stellenabbau, gegen Pflegenotstand, gegen, gegen, gegen. Der Demonstrant ist kein Fremder, schon oft hat sich Schäfer über ihn geärgert, zwei Abmahnungen hat er ihm geschickt, ihm eine einstweilige Verfügung verpassen lassen, ein Gerichtsverfahren gegen ihn geführt. Volker Gernhardt, Chef des Betriebsrates im Klinikum Berlin-Neukölln, drückt sich meist am Rand herum, wenn Schäfer öffentlich auftritt.
Eigentlich ist jemand wie Volker Gernhardt weder in dem Dienstleistungsbetrieb Krankenhaus noch in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vorgesehen, weil Gernhardt im Grunde nicht gegen Schäfer kämpft, sondern gegen das Schäfer-Prinzip, das Rationalisieren und Privatisieren. Überall zieht Gernhardt Gegner an, im eigenen Krankenhaus, sogar in der Gewerkschaft und im Gesamtbetriebsrat. Die Widersacher in seinem eigenen Betriebsrat Neukölln verteilen Flugblätter auf Fluren, um Gernhardts Politik anzuprangern: "Können wir uns Hahnenkämpfe leisten?" Daraufhin kopiert eine von Gernhardts Mitstreiterinnen Flugblätter, auf denen zu lesen ist: "Ihr könnt mir nur noch leid tun!" Gernhardt will beim allgemeinen Abbau nicht mithelfen, partout nicht.
Man könnte das leicht als Spinnerei eines notorischen Revoluzzers abtun, wenn dahinter nicht ein Dilemma steckte, das die 172 Betriebsräte in den Kliniken beschäftigt: Auf ein Co-Management haben sie sich eingelassen, von Beginn an. Einem Sparkurs haben sie zugestimmt, einer GmbH auch und dafür ihr Idealbild von der Anstalt öffentlichen Rechts aufgegeben. Im Gegenzug haben sie das BAT-Gehalt bekommen, einen früheren ÖTV-Funktionär als Arbeitsdirektor und eben die Zusage, dass ein paar Jahre lang niemand rausfliegt. Aber jetzt, auf dem vorläufigen Höhepunkt des Streits um Geld und Jobs, zweifeln Betriebsräte mit einem Mal: Darf man noch Co-Manager spielen, wenn Co-Management bedeutet, Schmerzen zuzufügen?
Es spricht einiges dafür, es spricht einiges dagegen. Am Ruder bleiben? Natürlich. Die Brocken hinwerfen, wenn der Kurs nicht stimmt? Natürlich. Verantwortung übernehmen auch in der Krise? Aber ja. Verantwortung übernehmen für Brutalitäten? Auf keinen Fall. Die BAT-Welt ist fürchterlich unübersichtlich geworden, seit eine GmbH hineinregiert. Nur Volker Gernhardt plagt sich nicht mit grundlegenden Zweifeln, er weiß, wo er steht, auf der gegnerischen Seite, unerschütterlich. Wann immer sich eine neue Arbeitsgruppe bildet, die über leere Kassen und Konsequenzen zu beraten hat, gesellt sich Gernhardt hinzu und nimmt sich vor: "Da arbeite ich destruktiv mit."
Dienstag, 9 Uhr. Patient bayer 1307/02 hat keine Schmerzen, kann wieder Treppen steigen, bespricht mit der Sozialarbeiterin die Anschlussheilbehandlung. Die Assistenzärztin diagnostiziert "geringe Krankheitseinsicht", das könne der Nachteil einer so schnellen Heilung sein, sagt sie. "Ich bin wohl nicht der klassische Herzinfarktpatient", sagt er. Zu Mittag isst er Bockwurst mit Kartoffelpüree.
Die Controller werden summieren: 1485 Euro für Essen, Reinigung, Verwaltung, Versicherung, Wasser, Strom und Abfallentsorgung.
Manchmal geraten Thomas Noll die Schlüsselbegriffe durcheinander, weil er die Welten, aus denen die Begriffe stammen, nahtlos miteinander verschmolzen hat. "Der einzelne Konstrukteur", sagt er dann und korrigiert sich sofort: "Äh, der einzelne Chefarzt." Solche Verwechslungen sind verzeihlich, schließlich will Noll den Chefärzten beibringen, dass sie "von der Industrie lernen" sollen. Den zentralen Einkauf für alle Vivantes-Krankenhäuser leitet Noll - Röntgengeräte, Pillen, Notizblöcke, einfach alles. Seitdem es Noll und seine Leute gibt, sind beispielsweise die Kosten für Herzschrittmacher um ein Drittel gefallen. Was niemanden ernsthaft aufregen könnte, wenn Noll den Chefärzten nicht zugleich an die Standesehre gegangen wäre. Ein Mediziner darf jetzt nicht mehr bestellen, was er für richtig hält; er bestellt gar nichts mehr. Noll bestellt. Aber erst, nachdem ausgesiebt wurde. "Produktlinien standardisieren", sagt Noll. Weniger Varianten aussuchen, stattdessen von jedem Artikel eine viel größere Menge ordern, bei drastisch sinkenden Preisen natürlich.
"Marktmacht", sagt Noll. "Definieren Sie nur das Produkt", verlangt er von den Ärzten, "dann entscheidet der Markt." - "Ich erwarte, jetzt folgenden Preis zu bekommen", fordert er von Lieferanten. Anfangs nahmen die Pharmafirmen den energisch redenden Noll nicht ernst. Der blufft nur, dachte man, vielleicht macht der sich wichtig. Als aber einige Firmen von Vivantes keine Aufträge mehr bekamen, verschärfte sich plötzlich der Ton.
Solange jeder Chefarzt selbst bestimmte, was seine Abteilung wo einkaufte, ließen sich die Pharmareferenten gern und oft bei ihm blicken, führten ihre neuesten Maschinen vor, luden die Herren ein zum Arthrose-Kongress auf Lanzarote, 18Loch-Golfplatz inklusive, oder wiesen hin auf einträglich gesponserte Referate über Lungenemphyseme, und am Ende war ein Einkaufszettel auf die individuellen Bedürfnisse eines leitenden Angestellten im Arztkittel hin zurechtgekungelt worden. Diese sorgsam austarierte Harmonie hat der Zentralisierer und Standardisierer Noll empfindlich gestört. "Sie werden sich doch von denen aus der Zentrale nicht vorschreiben lassen, welches Produkt Sie kaufen", redeten die Pharmavertreter den Chefärzten ein, und zu Nolls Leuten sagten sie: "Sie glauben doch nicht, dass ein Chefarzt sich von Ihnen vorschreiben lässt, welches Produkt er kauft!" Nur ungern spricht Thomas Noll über die ärztlichen Methoden des Widerstands, lieber darüber, wer sich am Ende durchgesetzt hat. Er sagt: "Mit uns haben Chefärzte neue Erfahrungen gemacht. Nicht alle waren sofort begeistert. Sie verstehen?"
Mittwoch, 9 Uhr. Bei Patient bayer 1307/02 läuft das Langzeit-EKG, 24 Stunden Endkontrolle, am nächsten Morgen wird er die Klinik wohl verlassen dürfen. Der Patient bayer 1307/02 ist jetzt auf Diät gesetzt, die Blutanalysen haben eine Fettstoffwechselstörung ergeben; er wird Fettsenker einnehmen müssen, sein Leben lang.
Die Controller werden feststellen: 1582 Euro für Spritzen, Pillen, Kontrastmittel, Katheter, Verbände und andere Hilfsmittel.
Verkniffen mustert Wolfgang Schäfer die Runde, die Lippen zum Strich gepresst, die Hände durch Falten zur Ruhe gezwungen, ein betender Ökonom, zur öffentlichen Auskunft getrieben und deshalb fahrig, bis die Blende einer Kamera klickt. Pressekonferenz. Sanierung von Vivantes läuft auf Hochtouren titelt der für die Journalisten vorbereitete Handzettel. Aber Wolfgang Schäfer macht ein Gesicht, als müsse er die Insolvenz verkünden. Zögerlich referiert er über die ungeheuren Probleme, vor denen er stehe, Schulden, Kosten. Als er gefragt wird, wie viele Jobs in den kommenden Monaten wegfallen müssten, drückt er sich um die Antwort herum: "Die Diskussion ist eine Frage der Betrachtungsweise." - "Die Diskussion muss eine flexible sein." Ein kaltschnäuziger Held der medizinischen Abbruchbranche spricht hier nicht, eher einer, der zwischen allen Stühlen sitzt und dennoch hofft, in dieser unbequemen Position eine gute Figur abzugeben.
Gewerkschaften verlangen von ihm sichere Arbeitsplätze, selbstverständlich gemäß Tarifvertrag. Ärzte werden zornig auf ihn, sobald ihnen die Arbeit über den Kopf wächst. Pfleger und Schwestern wollen nicht Lückenbüßer sein. Patienten beschweren sich, wenn sie nach der Schwester läuten und niemand kommt. Die gesetzlichen Krankenkassen schleppen rekordverdächtige Defizite mit sich herum und überweisen Vivantes nun Jahr für Jahr 20 Millionen Euro weniger. Die Kosten für Gesundheit steigen, aber der Beitrag zur Krankenversicherung, der jedem Arbeitnehmer monatlich vom Gehalt abgezogen wird, darf nicht steigen. Darin sind sich die Schröders und Stoibers und Westerwelles einig.
Weil Gesundheit nicht teurer werden darf für den kleinen Mann, muss Wolfgang Schäfer ziemlich gemein sein zum kleinen Mann. Schäfer streicht Arbeitsplätze kleiner Leute, damit Krankenhäuser für kleine Leute bezahlbar bleiben. Schäfer ist manchmal sehr unsolidarisch, um dem Solidarprinzip zu genügen. Vielleicht erschreckt ihn deshalb die Frage, ob sich der Sozialdemokrat Schäfer und der Sanierer Schäfer gut miteinander vertragen.
Donnerstag, 8.57 Uhr. Bei der Morgenbesprechung der Kardiologen schließt die Assistenzärztin ihren Bericht über den Patienten bayer 1307/2 mit den Worten: "Echokardiografisch zeigte sich eine intakte LV-Funktion mit einer umschriebenen Wandbewegungsstörung im Spitzenvorderwandbereich. Der weitere Verlauf war komplikationslos. Der Patient war unter mäßiger körperlicher Belastung beschwerdefrei und kreislaufstabil."
Die Controller haben Bilanz gezogen: 5193 Euro Gesamtkosten, ein erfreulicher Wert.
Um 8.58 Uhr ist Patient bayer 1307/02 kein Thema mehr für die Mediziner. Auf Station 34, Zimmer 14.413, wischt ihm eine Putzfrau um die Beine. Auf dem Flur desinfiziert eine Schwester sein Bett. Patient bayer 1307/02 ist am Ende des Fließbandes von Chefarzt Andresen angelangt, gleich wird er herunterfallen, zurück ins Leben, und dann wird er nach Hause gehen. Vier Stockwerke hinauf, ohne Aufzug. Er ist wieder der Privatmann Horst Bayer, gesund, wiederhergestellt zumindest, und dieser Privatmann sagt, dass er nicht einen Cent mehr an die Krankenkasse zahlen wolle, es nicht könne, "auf keinen Fall". Es ist Punkt 10 Uhr, als Horst Bayer das Krankenzimmer verlässt. Mit sieben Pillen in einer kleinen Plastiktüte und mit einem kleinen Zettel als Anleitung für die zweite Hälfte seines Lebens, das vor sechs Tagen zerbrach. Vor 5,8 Tagen, um genau zu sein.
Zeit
Deutschlands größter Krankenhauskonzern Vivantes macht in Berlin vor, wie man Kliniken umkrempelt und Ärzten die Kunst des preiswerten Heilens beibringt. Die Schlacht um die Ressource Gesundheit ist eröffnet
Freitag, 5.45 Uhr. Der Tag, an dem Horst Bayers Leben in Hälften zerfallen wird, in eine gesunde und eine kranke, beginnt sehr unauffällig. Er geht aus seiner Wohnung, vier Stockwerke hinunter, ohne Aufzug, in der Tasche ein belegtes Brötchen und die Thermoskanne. Er will heute Decken spachteln, Arbeit über Kopf, nichts Besonderes für einen Anstreicher, nichts Besonderes für einen 45Jährigen, der einmal Ringer war und Fußballspieler auf rechts außen, der Fallschirm springt und taucht. So kommt die Frühstückspause, geht die Mittagspause, dann holt Bayer neues Material. Links trägt er 15 Liter Spachtelmasse, rechts 10 Liter Grundierung, als auf der Treppe seine linke Hand taub wird und ihm kalter Schweiß ausbricht. Zu seinem Kollegen sagt er: "Du, mir ist mit einem Mal so komisch." Das Herz. Der Kollege lässt den Notarzt kommen.
Es ist Freitag, 13.40 Uhr. Im Herzkatheter-Labor des Klinikums Berlin-Friedrichshain tränkt die Schwester ein Tuch mit Desinfektionsmittel und wischt den Untersuchungstisch. Auf einem Monitor unter der Decke steht "bayer 1307/02". Im Nebenzimmer wiegt sich der Oberarzt im Drehstuhl: "So. Der Tisch ist gedeckt."
Seit anderthalb Jahren ist das Berliner Krankenhaus Friedrichshain nur noch eine Filiale, genau genommen: Teil eines Großunternehmens, das sich Vivantes nennt und dem Land Berlin gehört. Vivantes versammelt zehn ehemals städtische und ehemals eigenständige Kliniken unter einem gemeinsamen Dach. Deutschlands größter Krankenhauskonzern ist entstanden, mit knapp 12 000 Beschäftigten und gut 6000 Betten. Ein Sanierungsfall von vornherein, hoch verschuldet. Die Ärzte sind zu teuer, die Pfleger und Schwestern auch, von den Verwaltungsleuten gar nicht zu reden. Überhaupt: Die Berliner Gesundheit ist zu teuer, noch teurer als die Gesundheit im Bundesschnitt, die auch schon ziemlich teuer ist. Patienten werden älter und kränker, in Berlin sind sie besonders krank, aber die Krankenkassen müssen knausern, in Berlin ist die AOK kürzlich fast pleite gewesen. Folglich fasste der Senat einen Notplan: Ein Wunder muss her und einer, der es geschehen lassen kann. Wolfgang Schäfer ist gekommen, seither Chef von Vivantes, kein Arzt, ein Manager der Medizin, 58 Jahre alt, es geht ihm ein Ruf voraus. Das Klinikum in Kassel hat er saniert, es schreibt jetzt schwarze Zahlen.
Wenn Wolfgang Schäfer versucht, einen lockeren Eindruck zu machen, spannt sich sein rechter Arm stocksteif über das Polster der Ledercouch in seinem Büro, als habe er vor, gleich das Kissen zu erdrosseln. Spricht man ihn in dieser Pose darauf an, dass er, den manche einen hartherzigen Manager nennen, Mitglied der SPD ist, zieht Schäfer ein so erschrockenes Gesicht, dass man meinen könnte, er sei soeben der Untreue überführt worden. "Niemals" denke er während der Arbeit an die Partei, "keinen Gedanken verschwende ich daran". 1200 Jobs sind in den Vivantes-Kliniken weggefallen, seit er da ist. Eine übergeordnete Zentrale hat er aufgebaut, gefüllt mit Managern, die den Krankenhäusern alle paar Wochen durchgeben, ob sie sich rechnen. Kosten, Erlöse, Bilanz. Finanzcontroller hat Schäfer geholt, Medizincontroller, Sanierer, Kalkulierer, Menschen, die über Krankheiten anderer Menschen in Ziffernfolgen erzählen. Die Welt dreht sich jetzt schneller.
Vivantes-Kliniken dürfen Chefärzte oder Pfleger oder Schwesternschülerinnen nicht mehr selbst einstellen, nicht mehr eigenständig Antibiotika beschaffen. Alles Sache der Zentrale. Schäfer lässt ausrechnen, welche Fachabteilung im Krankenhaus mit geringstem Aufwand den höchsten Ertrag bringt. "Best practice" nennt Schäfer diesen Wettbewerb, und der Sieger soll Ärzten auf den hinteren Plätzen ein leuchtendes Vorbild sein.
Das ganz normale Krankenhaus soll wie ein Wirtschaftsbetrieb handeln, fortwährend, überall. Von Win-win-Situationen ist daher die Rede, von Benchmarking und Case-Management. Wolfgang Schäfer erhebt die Sprache des Geldes nun zur Pflichtsprache im Krankenhaus. Weil sich lange nichts bewegte, muss Schäfer jetzt besonders viel bewegen. Deswegen lässt sich in Berlin schon heute ein Bild davon machen, was in ganz Deutschland auf öffentliche Kliniken zukommt.
Freitag, 13.45 Uhr. Vor dem Krankenhaus wird die Trage mit dem Patienten bayer 1307/02 scheppernd aus dem Rettungswagen gezogen und zum Aufzug geschoben. Im Katheter-Labor reißt die Schwester ein Plastikpaket auf, das Kardio-Komplettset, Artikelnummer 967065.5. Im Flur öffnet sich die Aufzugtür, der Patient bayer 1307/02 kommt mit den Füßen zuerst ins Krankenhaus. Die Schwester bindet dem Oberarzt den Kittel zu. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen die Kosten. Je länger die Herzkranzgefäße des Patienten bayer 1307/02 verschlossen bleiben, desto stärker leidet sein Herzmuskel unter Sauerstoffmangel. Je stärker sein Herzmuskel unter Sauerstoffmangel leidet, desto schwächer wird das Herz bleiben. Je schwächer das Herz bleibt, desto größer ist das Risiko, dass Patient bayer 1307/02 einen Schrittmacher, viele Medikamente, lange Kuren braucht. Reichlich teuer.
Wenn es etwas Dringendes zu regeln gab, eine Stellenbesetzung zum Beispiel, rief Professor Roland Schiffter früher die Personalchefin in seinem Klinikum an oder den Verwaltungsleiter. Dann ging meist was, "früher" zumindest, sagt der 64 Jahre alte Neurologe, und wie er dieses Wort ausspricht, hört es sich nach einer Ewigkeit an. "Früher" meint allerdings die Zeit vor der Vivantes-Zeit, vor anderthalb Jahren, doch wenn es auch eine gefühlte Zeit gibt, dann sind die vergangenen anderthalb Jahre für Schiffter eine Ewigkeit. Seit es Vivantes gibt, schreibt er Briefe an die Zentrale des Konzerns, meist antwortet niemand. Seinen zornigsten Brief schickte er Anfang September hilfesuchend an die Chefärzte im Vivantes-Konzern, Filiale Auguste-Viktoria-Klinikum. Anschließend bat Hauptgeschäftsführer Schäfer den Absender zum ersten Mal persönlich zu sich - um ihm mitzuteilen, dass er ihn jetzt feuern werde. Wegen "massiv geschäftsschädigenden Verhaltens", schreibt Schäfers Personalcontroller später an das zuständige Bezirksamt.
Der Geschäftsführer mag es nicht, wenn man schlecht über ihn spricht, gar außerhalb des Konzerns: Schiffter hatte Kopien seines Briefes an den Präsidenten der Berliner Ärztekammer und die Senatorin für Gesundheit geschickt. "Ein ärztlich verantwortbarer Klinikbetrieb im bisherigen Umfang" sei "nicht mehr aufrechtzuerhalten", schrieb der Chefarzt, nachdem die Vivantes-Zentrale Anträge auf Verlängerung von drei befristeten Arztstellen abgelehnt hatte, "die Hälfte der Arztstellen" in seiner Abteilung. Roland Schiffter, ein besonnener, kluger Mann, ein prominenter Neurologe, wenige Wochen vor seiner Pensionierung plötzlich ein Rebell?
Der Fall wird zum Fanal. Das Bezirksamt stimmt der "Entlassung" nicht zu, aufgebrachte Betriebsräte verteilen Flugblätter in Kantinen, Personalversammlungen einigen sich auf Solidaritätsadressen, Chefärzte bitten den Geschäftsführer, "die Entscheidung rückgängig zu machen". Und auf dem Flur vor seinem Zimmer begegnet Schiffter jungen Ärzten, die ihm auf die Schulter klopfen und gratulieren. "Wie mutig Sie sind!" - "Endlich sagt mal einer was!" - "Wir können nichts sagen, wir haben Familie ..." Die Arbeitsbelastung vieler Ärzte und Pfleger ist enorm gestiegen, so sehr, dass manche Abteilungen es aufgegeben haben, Überstunden überhaupt noch zu notieren. Für Chefarzt Schiffter steht die Gesundheit der Patienten auf dem Spiel. Ihm graut vor dem "Stromlinien-Krankenhaus". Genug habe er gehört vom Sparen und Schließen, von diesem Deadline-Gerede, das neuerdings die entscheidenden Sitzungen bestimmt. Die Sprache des Geldes ist ihm zuwider, wenn sie zur Sprache des Heilens wird. Weil Stellen gestrichen werden, der "Patientendurchfluss" aus Kostengründen aber steigen muss, bleibe zu wenig Zeit für die Bettlägrigen, berichten Pfleger und Schwestern: Kranke könnten nicht mehr regelmäßig gewaschen werden, auch das Zähneputzen falle immer öfter aus, besonders an Wochenenden.
"Ich werde nicht Anzeige erstatten, wenn ein Patient aus dem Bett fällt und die überlastete Schwester mal wieder nichts merkt", sagt ein Vivantes-Betriebsrat, "dann kriegt nur die Schwester einen Riesenärger, aber nichts ändert sich. Ich liefere das Personal nicht aus." So oder ähnlich denken viele, und deshalb lassen sich Missstände lange verschweigen. Wenn die Stationen 121 und 122 der Vivantes-Filiale Humboldt-Klinikum in einem geharnischten Brief an die Zentrale vor "irreparablen Schadensereignissen" wegen ständiger Personalnot warnen, ohne das Schreiben jedoch zu unterzeichnen, wird das hinterrücks schon als Husarenstück gefeiert.
In diesen Wochen lässt Schäfer jeden Chefarzt in jeder Vivantes-Klinik bei sich erscheinen, und ganz gleich, wie effizient bisher gewirtschaftet wurde, jeder Chefarzt hört die Frage: Wo können Sie noch sparen? "Wie Klippschüler" fühlen sich manche behandelt. Um kurz vor neun reist Schäfer an zum "Strukturgespräch”, einen kargen Mehrzweckraum hat er sich dafür ausgesucht. Um Punkt neun soll der erste Mediziner erscheinen, um 10.30 Uhr der nächste und so fort, den ganzen Tag, unter Umständen bis in die Nacht. An solchen Tagen sieht man Chefärzte wie Patienten auf klapprigen Plastikstühlen vor der geschlossenen Tür des zentralen Terminverteilers warten, und in diesen Momenten verraten zuckende Mundwinkel, dass auch ein verschlagenes Machtspiel im Gange ist.
Alle paar Wochen lässt sich einer von drei "Regionaldirektoren" bei den Chefärzten sehen. Der Abgesandte der Konzernspitze stellt seinen Laptop auf, startet den Video-Beamer und wirft die "Analyse Leistungszahlen" an die Wand: Patientenfallzahl + Verweildauer = Berechnungsgrundlage. An den Rand der Tabellen ist eine Ampel gemalt wie in einem Schulbuch der vierten Klasse. Grün bedeutet: sehr schöne Zahlen. Meist steht die Ampel auf Rot. Ist der Mann mit den Ampeln verschwunden, rufen einige Krankenhausärzte ihre niedergelassenen Kollegen an: Bitte schickt doch mal wieder ein paar Patienten.
Freitag, 14 Uhr. Im Katheter-Labor hängt die Schwester eine Flasche Kontrastmittel an den Tropf, der Oberarzt sticht dem Patienten bayer 1307/02 die Schleuse in den Arm, dreimal pulsiert Blut auf das hellblaue Abdecktuch, dann schiebt der Oberarzt den Katheter bis ins Herz und richtet die Röntgenkanone auf die Brust des Patienten bayer 1307/02. Auf dem Monitor sehen die Adern wie die schwarzen Äste eines kahlen Baumes aus. Der Oberarzt hebt die Brauen. Ein schwerer Infarkt. Der Riva, der dicke Vorderwandast, ist verschlossen. In England heißt er widow-maker. Witwenmacher.
"Sagen wir bis Viertel nach? Um halb habe ich wieder eine auf dem Tisch. Und ich brauche zwölf Minuten für die Fahrt." Es ist Viertel vor. Die Uhr läuft. Sie ist außer einem Plastikherzen der einzige schmückende Einrichtungsgegenstand im Friedrichshainer Büro von Professor Dietrich Andresen. Der Mediziner ist 53 Jahre alt, ein Mann mit grauen Haaren, grauem Schnauzer und gebräunten Pianistenhänden. Andresen ist Chefarzt der Kardiologen in gleich zwei Vivantes-Filialen: Krankenhaus Friedrichshain und im Klinikum Am Urban in Berlin-Kreuzberg. Er ist der Liebling der Vivantes-Manager. Vielleicht ist er sogar der Arzt der Zukunft.
Andresen hat die Verweildauer der Herzpatienten binnen zwei Jahren von 10,3 auf 5,3 Tage verkürzt. Damit liegt er unter dem Bundesdurchschnitt. Die Ampel des Regionaldirektors steht bei ihm auf Grün, Vivantes bescheinigt ihm best practice - und die Kollegen Strebertum. Aus Neid?
Andresen behandelt Richard von Weizsäcker. Er ist häufig interviewter Experte beim Sender Freies Berlin, mal in den Nachrichten, mal als Talkgast, der mit dem Schauspieler Günther Pfitzmann über Infarkte plaudert. Er soll, tuscheln seine Mitarbeiter, Gast auf Hans-Dietrich Genschers 70. Geburtstag gewesen sein. Vor allem aber wird seine Arbeit den anderen Chefärzten als beispielhaft vorgehalten: Seht, es geht auch schneller.
Die Uhr in seinem Büro zeigt zehn vor. 25 Minuten noch.
Die mit weißem Leder beschlagene Tür geht auf, die Sekretärin reicht Tee, Andresen sitzt auf der Vorderkante seines Sessels und wippt mit den Füßen. Wenn er redet, zieht er mit den Handkanten Linien durch die Büroluft, senkrechte, waagerechte, als würde er Bilanztabellen zeichnen. Wie hat er das hingekriegt mit der Verweildauer? "Wir machen kein Hornberger Schießen mit tagelangem EKG und so. Bei uns wird der Patient auf den Tisch gelegt, Katheter rein, ratz, fatz, nach 15 Minuten haben wir die Wahrheit. Bums, basta, aus." Jede Untersuchung im Katheter-Labor, in dem auch Patient bayer 1307/02 behandelt wird, spart Tage, sagt der Chefarzt. Ebenso seine Anweisung für vorhersehbare Operationen. Die Risiko-Aufklärung 24 Stunden vorher? "Machen wir ambulant. Der Patient kommt einen Tag vorher ins Krankenhaus, damit wir ihn über die Risiken aufklären. Dann schicken wir ihn wieder nach Hause, denn darüber schlafen kann er auch im eigenen Bett."
Fünf vor. 20 Minuten noch.
Die Buchhalter in der Zentrale verehren ihn wegen seiner Eile. Andresen ist schon jetzt für das Jahr 2004 gerüstet: Von da an sollen Deutschlands Krankenhäuser von den Kassen nicht mehr pro Tag und belegtes Bett bezahlt werden, sondern nach "Fallkostenpauschalen", nach Diagnosis Related Groups (DRG). Jede Krankheit, jeder Behandlungsschritt, bekommt einen festen Wert in Euro zugeteilt. Ein Herzinfarkt ist dann teurer als eine Blinddarmentzündung, abgerechnet wird pro Heilung, gleichgültig, wie lange die dauert. Je schneller die Leute also wieder aus den Betten sind, desto eher ist Platz für neue, an denen wiederum Geld zu verdienen ist. Andresen hat mal grob hochgerechnet, dass er unter dem DRG-System Gewinne machen würde.
Volle Stunde. 15 Minuten noch.
Der Gewinn wird sich für ihn auszahlen. Vivantes unterbreitet seinen Chefärzten jetzt neuartige Verträge: Mehr als das Grundgehalt bekommt nur derjenige, der sein Budget einhält oder gar darüber hinaus Geld verdient. "Hätt ich kein Problem mit", meint Andresen. Er pendelt zwischen den Operationstischen Friedrichshain und Kreuzberg. Er hat, um Personal zu sparen, statt zwei Ärzten nur noch einen Arzt im Katheter-Labor stationiert. Und er vermietet das Labor zweimal im Monat an einen niedergelassenen Arzt, schließlich kostet die Technik dort rund eine Million Euro, doch sie veraltet schnell, "von mir aus können die Maschinen deshalb rund um die Uhr arbeiten". Das sei so, als würden sich zwei Nachbarn einen Rasenmäher teilen. Allerdings auch den Gärtner, ohne dass der davon etwas hat. Denn mit dem Katheter-Labor vermietet der Chefarzt auch seine Krankenschwestern, doch die bekommen für ihre Mehrarbeit kein Geld.
Zehn nach. Fünf Minuten noch.
Es ist, als habe Andresen in seiner Abteilung ein riesiges Fließband aufgebaut, darauf gleiten die Patienten vom Tag der Aufnahme bis zur Entlassung, immer schneller, über ihnen eine Anzeigetafel mit der Verweildauer. Alles fließt so schnell vorüber, dass manche Assistenzärzte auf Andresens Stationen sagen, sie kriegten - Akkordarbeitern gleich - den Kopf nicht mehr hoch, und die Ausbildung junger Mediziner bleibe auf der Strecke bei diesem Zeitdruck.
Viertel nach. Die Zeit ist um.
Sind die Klagen berechtigt? "In Gottes Namen: Wir sind kein Postamt." Der Chefarzt steht auf, läuft wehenden Kittels zum Telefon, nimmt den Hörer, wählt und sagt: "Andresen hier. Sie können die Frau jetzt auflegen."
Freitag, 14.05 Uhr. Die Röntgenbilder im Katheter-Labor des Professor Andresen zeigen zwei Verschlüsse im Herzen des Patienten bayer 1307/02. Aus dem Radio in der Ecke des Raumes singt Herbert Grönemeyer, der Oberarzt sagt: "Sie haben viel Kalk in den Gefäßen." Patient bayer 1307/02 schaut aus verständnislosen Augen. "Schlechte Kabel, Herr Bayer!" Der Oberarzt bläst die Verschlüsse mit einem Ballonkatheter auf und verstärkt das Ganze mit zwei Stents - das sind kleine Drahtgeflechte, mit denen die Adern aufgestemmt bleiben. Der Oberarzt zieht seine Handschuhe aus, wirft sie auf den blutigen Müllberg zwischen den Füßen des Patienten bayer 1307/2 und sagt im Gehen: "So. Das war's." Im Radio wirbt ein Möbelhaus.
Peter Steinfurths Eingriff dauerte länger, zehn Monate genau. Es war ein Eingriff in die Gewissheiten und Gemütlichkeiten der alten Bundesrepublik, und der sollte kompliziert werden, weil modernes Management auf die Ständegesellschaft der Krankenhäuser traf. Dass es Komplikationen geben würde, ließ schon Steinfurths neudeutsche Berufsbezeichnung erahnen: Projektleiter Technisches Facility Management.
Der Projektleiter Technisches Facility Management also hatte im Herbst vergangenen Jahres den Auftrag bekommen, die Wäschekosten in den zehn Vivantes-Häusern um 30 Prozent zu senken. Eigentlich eine leichte Aufgabe, mit zwei Maßgaben wäre sie im Wesentlichen zu erfüllen gewesen. Die erste: Je einheitlicher die Arztkittel, desto größer die Bestellmenge und somit der Rabatt. Die zweite: Je größer der Kunstfaseranteil im Gewebe, desto unnötiger ist das teure Bügeln. Es wäre so einfach gewesen - wäre Vivantes ein normales Unternehmen.
Weil Vivantes aber ein Gebilde aus zahlreichen Interessengruppen ist, tagte von November an die "Große Wäschekommission". Zehn Monate lang diskutierte der Projektleiter Technisches Facility Management mit Betriebsräten, Betriebsärzten, Hygienikern und OP-Schwestern über das Baumwoll-Kunstfaser-Verhältnis, über "irritative Kontaktekzeme" und über "karziogene Wirkungen" verschiedener Farbstoffe. Die Schwestern forderten freie Wahl zwischen Röcken, Siebenachtelhosen und normalen Hosen. Die Chefärzte schrieben Petitionen, um ihre Privilegien zu retten - insbesondere den Chefarztkittel aus reiner Baumwolle mit Rückenriegel und vor allem mit verdeckter Knopfleiste.
Der Projektleiter Technisches Facility Management stellte viele Fragen, das Personal gab ihm nur eine Antwort. Darf ein Assistenzarzt aussehen wie sein Chef? Nein. Ist ein Mischungsverhältnis von 50 Prozent Baumwolle und 50 Prozent Kunstfaser akzeptabel? Nein. Darf der Aufnäher mit dem Vivantes-Schriftzug gedruckt sein? Nein, gestickt. Darf der Aufnäher denn an den Kragen? Nein, lieber an die Brust. Darf der Vorname aufs Namensschild? Nein, meinten die Ärzte. Darf der Nachname aufs Namensschild? Nein, meinten die Schwestern.
Zwanzig Probanden testeten sechs Wochen lang unterschiedlichste Kollektionen. Ärzte traten zu Probeoperationen in den neuen Kitteln an. Am Ende gewann jedoch der Projektleiter Technisches Facility Management - bereichert um die Erkenntnis, dass der medizinische Fortschritt in den letzten 100 Jahren zwar rasend war, eine Krankenhausgesellschaft aber, in der die einzig erträgliche Veränderung lange Zeit nur die Tariferhöhung war, auf Reformversuche mit den Gegenmitteln der aufgeklärten Klassengesellschaft antwortet. In manchen Geschossen der Kliniken gibt es zwar mehr Hierarchieebenen als Zimmertüren, doch schließen sich selbst Widersacher im Nu zusammen, wenn es Besitzstände zu verteidigen gilt.
In Berlin gibt es diese Erkenntnis auch gedruckt, als "Rahmenbetriebsvereinbarung", mit der die ehemals städtischen Krankenhäuser unter dem privaten Vivantes-Dach aufgingen. Der Vertrag ist der schriftlich niedergelegte Konsensgedanke der alten Bundesrepublik: Bei Veränderungen soll es keine Verlierer geben. 14 eng bedruckte Seiten garantieren Kündigungsschutz bis Ende 2006, Prämien für alle Mitarbeiter, die auf Kurzarbeit gehen wollen; auch das Vorgehen bei Meinungsunterschieden zwischen Vivantes-Geschäftsführung und Betriebsrat ist genauestens festgelegt: "Die Schiedsstelle besteht aus je drei Mitgliedern des Gesamtbetriebsrates sowie drei von der Geschäftsführung benannten Vertretern/Vertreterinnen und einer/einem externen Vorsitzenden. Gesamtbetriebsrat und Geschäftsführung benennen jeweils drei externe Vertreter/innen für den Vorsitz. Aus diesen insgesamt sechs Vorschlägen wird für jedes Verfahren die/der Vorsitzende durch Los ermittelt."
Den Vertrag unterzeichneten zwei Vivantes-Geschäftsführer. Und zwölf Betriebsräte.
Freitag, 14.40 Uhr. Der Patient bayer 1307/02 ist gerade erst auf den Flur geschoben worden, die Schwester desinfiziert den Behandlungstisch in Erwartung des Patienten 1308/02, da gerinnt Nummer 1307/02 am Computer im Katheter-Labor schon zu ein paar Zahlen im Kosten-Kontroll-Programm, die online an Chefarzt Andresen gehen:
"Bayer, Horst, geb. 5. 6. 1957. Dauer der Untersuchung 30 min. Durchleuchtungszeit 10 min. Materialverbrauch: 220 ml Kontrastmittel Marke Imeron 350, zwei Diagnostikkatheter der Firma Cordis, eine 6 F rad-Schleuse der Firma Cordis, einen XB 3,5 6 F-Führungskatheter der Firma Cordis, einen Ballonkatheter Maverick 3,0/20 der Firma Boston Scientific, zwei Stents Multi-Link der Firma Guidant, das Kardio-Komplettset Modell Urban/Berlin."
"Verhältnismäßig hoher Materialaufwand", sagt der Oberarzt. Am Morgen hatte er einen einfacheren Fall; am Ende der Behandlung hat er gesagt: "Gewinn." Der Oberarzt soll hier der Beste sein. Der Beste heißt auch: der Sparsamste. Sparsamer noch als der Chef. Das ergibt die regelmäßige Kontrolle bei Professor Andresen: Wer verschwendet Material, weil er sich bei der Länge der Katheter verschätzt? Beim Druck auf die Ballons? Dem Oberarzt passiert das selten.
Die Controller in der Vivantes-Zentrale werden am Ende der Behandlung die Daten von bayer 1307/02 zusammenstellen. Sie werden errechnen: 753 Euro Personalkosten Ärzte.
Es gab in Berlin schon einmal einen jungen Arzt, der viel Aufhebens um Zahlen machte. Einen außerordentlich guten Doktor, gerade habilitiert an der Berliner Charité, schlau, fleißig, in den Augen der Obrigkeit aber rotzfrech. Im Frühjahr 1848, mit 26 Jahren, ist dieser Rudolf Virchow in Oberschlesien gewesen und hat die Menschen an Hungertyphus sterben sehen - aber eigentlich an Armut, denn die Reichen blieben verschont. Zurück in Berlin, beginnt Virchow damit, eine Wochenschrift herauszugeben: Die medicinische Reform. Er schreibt fortan von Gleichheit und Fürsorgepflichten, davon, dass Gesundheit weder vom Vermögen abhängen dürfe noch von der Barmherzigkeit einiger Ärzte und kirchlicher Spitäler. Stattdessen fordert Virchow das Recht auf ärztliche Behandlung. Für jeden. Ein Staat, eine Kommune, die sich nicht um die "öffentliche Gesundheitspflege" kümmerten, handelten unsittlich. "Die medizinische Statistik wird unser Richtscheit sein", schreibt Virchow 1849 in der Reform, "Leben um Leben wollen wir abwägen und zusehen, wo die Leichen dichter liegen, bei den Arbeitern oder den Privilegierten."
Zwei Jahrzehnte später, Virchow ist mittlerweile Abgeordneter im Berliner Stadtrat, Mitglied des Preußischen Landtags und berühmter Zellularpathologe, hat er sich durchgesetzt. Unter seiner Leitung entwirft der Schinkel-Schüler Martin Gropius ein Krankenhaus nach revolutionärem Konzept: im Grünen gelegen, bestehend aus einzelnen Pavillons mit großen Fenstern, die Häuser verbunden durch unterirdische Gänge für Transporte infektiöser Patienten. Am 8. Oktober 1874 dann, im selben Jahr, in dem Berlin, ebenfalls auf Virchows Betreiben, als eine der ersten europäischen Großstädte eine Kanalisation erhält, nehmen die Ärzte im Städtischen Krankenhaus im Friedrichshain ihre Arbeit auf. Anfang des 19. Jahrhunderts schreibt eine englische Zeitschrift, wer immer in Europa ein Spital errichte, möge sich am Krankenhaus im Friedrichshain orientieren. Die Zukunft, das war die öffentlich finanzierte, fürsorgliche Klinik.
127 Jahre nach der Eröffnung sagt Chefarzt Andresen im selben Krankenhaus: "Das Gesundheitswesen ist ein Markt, ein Wirtschaftsfaktor. Die einen verkaufen Autos, wir machen Patienten gesund." Der Preis dafür? Ist privat zu zahlen. Grundsicherung für alle, das Weitere über Privatversicherungen. Und der Richtscheit? Die Kosten-Nutzen-Statistik.
Samstag, 7 Uhr. Patient bayer 1307/02 hat eine ruhige Nacht auf der Intensivstation hinter sich. Blut wird ihm abgenommen, zur Kontrolle der Gerinnungswerte und des Fettwechsels. Das Labor wird eine "Basisdiagnostik" machen - alles, was nötig ist; mehr nicht. So wird der Patient bayer 1307/02 nicht erfahren, ob er vielleicht unter Vitaminmangel leidet oder einen Tumor hat. Der Intensivarzt sagt: "Das Krankenhaus ist kein Platz für Früherkennung mehr. Den Automatismus ,volles Programm' gab es früher. Jetzt kommt der Patient mit einem Zielauftrag zu uns. Da fahndet man nicht nach Problemen, die einen länger beschäftigt hätten." In den Labors des Krankenhauses ist die Zahl der Analysen in den vergangenen zwei Jahren um ein Zehntel zurückgegangen. Patient bayer 1307/02 interessiert sich mehr dafür, wie Hertha spielt.
Die Controller werden addieren: 196 Euro für die Dienste medizinisch-technischer Assistenten.
Dass sie zu teuer, zu alt, zu langsam ist, hat sie nicht gewusst. Sie hat ihre Arbeit gemacht, geputzt, gewischt, fast 20 Jahre lang im selben Krankenhaus, ehe sie von der Mitarbeiterin zum Kostenfaktor wurde. Die Frau - nennen wir sie Frau Stern, weil die Angst, den wahren Namen zu sagen, spätestens seit dem Fall Schiffter zu groß geworden ist - wird in den Büchern von Vivantes als Einsparpotenzial geführt. Sie ist eine von 185 Putzfrauen, die der Krankenhauskonzern beschäftigt. Noch. Denn den Großteil der Reinigungsarbeit haben längst Fremdfirmen übernommen; und weil deren Personal ein Drittel billiger ist, wäre es am günstigsten, Frau Stern schnell loszuwerden. Nur wie?
Der Geschäftsführer Finanzen hatte eine Idee: Er unterstellte Frau Stern und alle anderen Vivantes-Putzfrauen den Fremdfirmen "da draußen", wie er die Welt jenseits der Krankenhäuser nennt - mit der Maßgabe, den Frauen die marktübliche Leistung abzufordern: 200 Quadratmeter pro Stunde. In den Krankenhäusern, "drinnen" also, war nur die Hälfte üblich.
Seit Frau Stern einer Fremdfirma unterstellt ist, putzt sie pro Achtstundenschicht drei 200 Meter lange Flure, 78 Patientenzimmer, zwölf Bäder, sechs Tagungsräume, sechs Diensträume, drei Pausenräume. Überall den Boden, die Wandlampen, die Waschbecken, die Fensterbänke. Aber sie schafft es nicht. Viele ihrer Kolleginnen schaffen es nicht und werden krank. Als die Fremdfirmen anfingen, ihnen das marktübliche Putzen beizubringen, lag der Krankenstand bei 30 Prozent. "Arbeitsverweigerung", vermutet der Geschäftsführer Finanzen. "Überlastung, Bandscheibenschäden, Muskelverhärtungen, Immunschwächen", meinen die Putzfrauen; sie sind im Schnitt über 40 Jahre alt, älter als die Kolleginnen "da draußen".
Sie haben sich von 100 auf 170 Quadratmeter pro Stunde gesteigert, noch immer 30 Quadratmeter zu wenig, die neuen Vorgesetzten schimpfen und drohen, "doch nur im Einzelfall gibt es mal Übergriffe", sagt der Geschäftsführer Finanzen. Binnen eines halben Jahres haben 40 Putzfrauen aufgegeben, sie gingen gegen Abfindung. 40 Kostenfaktoren weniger, aus Vivantes-Sicht "erfreulich", sagt der Geschäftsführer Finanzen, "ich hoffe, die Zahl steigt noch höher". Sie wird wohl. Denn Vivantes will eine eigene Tochterfirma für Reinigung gründen, als künftige Teilhaber wetteifern einige dieser Fremdfirmen. Gute Chancen, von Vivantes als Partner ausgewählt zu werden, kann sich jene Firma ausmalen, die schon heute am sparsamsten wirtschaftet. "Sparsam" bedeutet auch: Wer ist die meisten Vivantes-Putzfrauen losgeworden?
Montag, 13.45 Uhr. Der Patient bayer 1307/02, am Sonntag ins normale Bettenhaus verlegt, Station 34, Zimmer 14.413, muss zur Echokardiografie. Die Ultraschalluntersuchung seines Herzens bestätigt ihm eine normale Pumpfunktion und eine nur geringfügige, vorübergehende Schädigung des Herzmuskels.
Die Controller werden ermitteln: 1177 Euro Personalkosten Pfleger und Schwestern.
Nur selten passiert es in diesen Tagen, dass Vivantes-Chef Schäfer ein paar Stunden unbehelligt bleibt von Widersachern. Aber es gibt diese Momente noch, es sind erhabene, kostbare Augenblicke im Leben eines Kürzungsmanagers. In den Fluren der Vivantes-Filiale Klinikum Neukölln hat die Initiative "Künstler für Organspende" ihre Acrylbilder aufgehängt, die Umarmung II heißen oder Herzen in Utopia. Wolfgang Schäfer eröffnet die Ausstellung mit einer feinsinnigen Rede, als plötzlich jemand aus einer Ecke tritt und ein Transparent hochhält. Gegen Stellenabbau, gegen Pflegenotstand, gegen, gegen, gegen. Der Demonstrant ist kein Fremder, schon oft hat sich Schäfer über ihn geärgert, zwei Abmahnungen hat er ihm geschickt, ihm eine einstweilige Verfügung verpassen lassen, ein Gerichtsverfahren gegen ihn geführt. Volker Gernhardt, Chef des Betriebsrates im Klinikum Berlin-Neukölln, drückt sich meist am Rand herum, wenn Schäfer öffentlich auftritt.
Eigentlich ist jemand wie Volker Gernhardt weder in dem Dienstleistungsbetrieb Krankenhaus noch in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vorgesehen, weil Gernhardt im Grunde nicht gegen Schäfer kämpft, sondern gegen das Schäfer-Prinzip, das Rationalisieren und Privatisieren. Überall zieht Gernhardt Gegner an, im eigenen Krankenhaus, sogar in der Gewerkschaft und im Gesamtbetriebsrat. Die Widersacher in seinem eigenen Betriebsrat Neukölln verteilen Flugblätter auf Fluren, um Gernhardts Politik anzuprangern: "Können wir uns Hahnenkämpfe leisten?" Daraufhin kopiert eine von Gernhardts Mitstreiterinnen Flugblätter, auf denen zu lesen ist: "Ihr könnt mir nur noch leid tun!" Gernhardt will beim allgemeinen Abbau nicht mithelfen, partout nicht.
Man könnte das leicht als Spinnerei eines notorischen Revoluzzers abtun, wenn dahinter nicht ein Dilemma steckte, das die 172 Betriebsräte in den Kliniken beschäftigt: Auf ein Co-Management haben sie sich eingelassen, von Beginn an. Einem Sparkurs haben sie zugestimmt, einer GmbH auch und dafür ihr Idealbild von der Anstalt öffentlichen Rechts aufgegeben. Im Gegenzug haben sie das BAT-Gehalt bekommen, einen früheren ÖTV-Funktionär als Arbeitsdirektor und eben die Zusage, dass ein paar Jahre lang niemand rausfliegt. Aber jetzt, auf dem vorläufigen Höhepunkt des Streits um Geld und Jobs, zweifeln Betriebsräte mit einem Mal: Darf man noch Co-Manager spielen, wenn Co-Management bedeutet, Schmerzen zuzufügen?
Es spricht einiges dafür, es spricht einiges dagegen. Am Ruder bleiben? Natürlich. Die Brocken hinwerfen, wenn der Kurs nicht stimmt? Natürlich. Verantwortung übernehmen auch in der Krise? Aber ja. Verantwortung übernehmen für Brutalitäten? Auf keinen Fall. Die BAT-Welt ist fürchterlich unübersichtlich geworden, seit eine GmbH hineinregiert. Nur Volker Gernhardt plagt sich nicht mit grundlegenden Zweifeln, er weiß, wo er steht, auf der gegnerischen Seite, unerschütterlich. Wann immer sich eine neue Arbeitsgruppe bildet, die über leere Kassen und Konsequenzen zu beraten hat, gesellt sich Gernhardt hinzu und nimmt sich vor: "Da arbeite ich destruktiv mit."
Dienstag, 9 Uhr. Patient bayer 1307/02 hat keine Schmerzen, kann wieder Treppen steigen, bespricht mit der Sozialarbeiterin die Anschlussheilbehandlung. Die Assistenzärztin diagnostiziert "geringe Krankheitseinsicht", das könne der Nachteil einer so schnellen Heilung sein, sagt sie. "Ich bin wohl nicht der klassische Herzinfarktpatient", sagt er. Zu Mittag isst er Bockwurst mit Kartoffelpüree.
Die Controller werden summieren: 1485 Euro für Essen, Reinigung, Verwaltung, Versicherung, Wasser, Strom und Abfallentsorgung.
Manchmal geraten Thomas Noll die Schlüsselbegriffe durcheinander, weil er die Welten, aus denen die Begriffe stammen, nahtlos miteinander verschmolzen hat. "Der einzelne Konstrukteur", sagt er dann und korrigiert sich sofort: "Äh, der einzelne Chefarzt." Solche Verwechslungen sind verzeihlich, schließlich will Noll den Chefärzten beibringen, dass sie "von der Industrie lernen" sollen. Den zentralen Einkauf für alle Vivantes-Krankenhäuser leitet Noll - Röntgengeräte, Pillen, Notizblöcke, einfach alles. Seitdem es Noll und seine Leute gibt, sind beispielsweise die Kosten für Herzschrittmacher um ein Drittel gefallen. Was niemanden ernsthaft aufregen könnte, wenn Noll den Chefärzten nicht zugleich an die Standesehre gegangen wäre. Ein Mediziner darf jetzt nicht mehr bestellen, was er für richtig hält; er bestellt gar nichts mehr. Noll bestellt. Aber erst, nachdem ausgesiebt wurde. "Produktlinien standardisieren", sagt Noll. Weniger Varianten aussuchen, stattdessen von jedem Artikel eine viel größere Menge ordern, bei drastisch sinkenden Preisen natürlich.
"Marktmacht", sagt Noll. "Definieren Sie nur das Produkt", verlangt er von den Ärzten, "dann entscheidet der Markt." - "Ich erwarte, jetzt folgenden Preis zu bekommen", fordert er von Lieferanten. Anfangs nahmen die Pharmafirmen den energisch redenden Noll nicht ernst. Der blufft nur, dachte man, vielleicht macht der sich wichtig. Als aber einige Firmen von Vivantes keine Aufträge mehr bekamen, verschärfte sich plötzlich der Ton.
Solange jeder Chefarzt selbst bestimmte, was seine Abteilung wo einkaufte, ließen sich die Pharmareferenten gern und oft bei ihm blicken, führten ihre neuesten Maschinen vor, luden die Herren ein zum Arthrose-Kongress auf Lanzarote, 18Loch-Golfplatz inklusive, oder wiesen hin auf einträglich gesponserte Referate über Lungenemphyseme, und am Ende war ein Einkaufszettel auf die individuellen Bedürfnisse eines leitenden Angestellten im Arztkittel hin zurechtgekungelt worden. Diese sorgsam austarierte Harmonie hat der Zentralisierer und Standardisierer Noll empfindlich gestört. "Sie werden sich doch von denen aus der Zentrale nicht vorschreiben lassen, welches Produkt Sie kaufen", redeten die Pharmavertreter den Chefärzten ein, und zu Nolls Leuten sagten sie: "Sie glauben doch nicht, dass ein Chefarzt sich von Ihnen vorschreiben lässt, welches Produkt er kauft!" Nur ungern spricht Thomas Noll über die ärztlichen Methoden des Widerstands, lieber darüber, wer sich am Ende durchgesetzt hat. Er sagt: "Mit uns haben Chefärzte neue Erfahrungen gemacht. Nicht alle waren sofort begeistert. Sie verstehen?"
Mittwoch, 9 Uhr. Bei Patient bayer 1307/02 läuft das Langzeit-EKG, 24 Stunden Endkontrolle, am nächsten Morgen wird er die Klinik wohl verlassen dürfen. Der Patient bayer 1307/02 ist jetzt auf Diät gesetzt, die Blutanalysen haben eine Fettstoffwechselstörung ergeben; er wird Fettsenker einnehmen müssen, sein Leben lang.
Die Controller werden feststellen: 1582 Euro für Spritzen, Pillen, Kontrastmittel, Katheter, Verbände und andere Hilfsmittel.
Verkniffen mustert Wolfgang Schäfer die Runde, die Lippen zum Strich gepresst, die Hände durch Falten zur Ruhe gezwungen, ein betender Ökonom, zur öffentlichen Auskunft getrieben und deshalb fahrig, bis die Blende einer Kamera klickt. Pressekonferenz. Sanierung von Vivantes läuft auf Hochtouren titelt der für die Journalisten vorbereitete Handzettel. Aber Wolfgang Schäfer macht ein Gesicht, als müsse er die Insolvenz verkünden. Zögerlich referiert er über die ungeheuren Probleme, vor denen er stehe, Schulden, Kosten. Als er gefragt wird, wie viele Jobs in den kommenden Monaten wegfallen müssten, drückt er sich um die Antwort herum: "Die Diskussion ist eine Frage der Betrachtungsweise." - "Die Diskussion muss eine flexible sein." Ein kaltschnäuziger Held der medizinischen Abbruchbranche spricht hier nicht, eher einer, der zwischen allen Stühlen sitzt und dennoch hofft, in dieser unbequemen Position eine gute Figur abzugeben.
Gewerkschaften verlangen von ihm sichere Arbeitsplätze, selbstverständlich gemäß Tarifvertrag. Ärzte werden zornig auf ihn, sobald ihnen die Arbeit über den Kopf wächst. Pfleger und Schwestern wollen nicht Lückenbüßer sein. Patienten beschweren sich, wenn sie nach der Schwester läuten und niemand kommt. Die gesetzlichen Krankenkassen schleppen rekordverdächtige Defizite mit sich herum und überweisen Vivantes nun Jahr für Jahr 20 Millionen Euro weniger. Die Kosten für Gesundheit steigen, aber der Beitrag zur Krankenversicherung, der jedem Arbeitnehmer monatlich vom Gehalt abgezogen wird, darf nicht steigen. Darin sind sich die Schröders und Stoibers und Westerwelles einig.
Weil Gesundheit nicht teurer werden darf für den kleinen Mann, muss Wolfgang Schäfer ziemlich gemein sein zum kleinen Mann. Schäfer streicht Arbeitsplätze kleiner Leute, damit Krankenhäuser für kleine Leute bezahlbar bleiben. Schäfer ist manchmal sehr unsolidarisch, um dem Solidarprinzip zu genügen. Vielleicht erschreckt ihn deshalb die Frage, ob sich der Sozialdemokrat Schäfer und der Sanierer Schäfer gut miteinander vertragen.
Donnerstag, 8.57 Uhr. Bei der Morgenbesprechung der Kardiologen schließt die Assistenzärztin ihren Bericht über den Patienten bayer 1307/2 mit den Worten: "Echokardiografisch zeigte sich eine intakte LV-Funktion mit einer umschriebenen Wandbewegungsstörung im Spitzenvorderwandbereich. Der weitere Verlauf war komplikationslos. Der Patient war unter mäßiger körperlicher Belastung beschwerdefrei und kreislaufstabil."
Die Controller haben Bilanz gezogen: 5193 Euro Gesamtkosten, ein erfreulicher Wert.
Um 8.58 Uhr ist Patient bayer 1307/02 kein Thema mehr für die Mediziner. Auf Station 34, Zimmer 14.413, wischt ihm eine Putzfrau um die Beine. Auf dem Flur desinfiziert eine Schwester sein Bett. Patient bayer 1307/02 ist am Ende des Fließbandes von Chefarzt Andresen angelangt, gleich wird er herunterfallen, zurück ins Leben, und dann wird er nach Hause gehen. Vier Stockwerke hinauf, ohne Aufzug. Er ist wieder der Privatmann Horst Bayer, gesund, wiederhergestellt zumindest, und dieser Privatmann sagt, dass er nicht einen Cent mehr an die Krankenkasse zahlen wolle, es nicht könne, "auf keinen Fall". Es ist Punkt 10 Uhr, als Horst Bayer das Krankenzimmer verlässt. Mit sieben Pillen in einer kleinen Plastiktüte und mit einem kleinen Zettel als Anleitung für die zweite Hälfte seines Lebens, das vor sechs Tagen zerbrach. Vor 5,8 Tagen, um genau zu sein.
Zeit