Joseph Granville: "Der Markt schreit nach einem Ausstieg" - Leitindex bricht nach der Prognose auf 7400 Punkte ein - Schon die Talfahrten 1976 und 2000 prophezeit
New York - Dem Dow Jones Industrial Average droht dieses Jahr der größte Verlust seit der "Großen Depression", sagt Joseph Granville voraus. Sein Gespür für Börsentendenzen hat der technische Analyst und Herausgeber des Granville Market Letter mehrfach unter Beweis gestellt, darunter die Talfahrten von 1976 und 2000.
"Wir sind in der kritischen Phase eines bevorstehenden Zusammenbruchs, und der Markt schreit nach einem Ausstieg", warnt der 81jährige: "Alle sind optimistisch. Aber es wird ein böses Erwachen geben". Den Dow sieht er bis Jahresende auf 7400 Punkte einbrechen. Nach dem Stand vom letzten Freitag, als die US-Benchmark bei 10 716,13 Punkten schloß, wäre das ein Minus von 31 Prozent. Einen solchen Rutsch verzeichnete der Dow zuletzt 1937, damals ging es 33 Prozent abwärts. Schon bis zum Quartalsende dürfte der Index auf 9500 Zähler sinken, müßte bis dahin also zwölf Prozent verlieren, so Granville.
Seinen Börsenbrief gibt Granville seit 1963 heraus. Technische Analysen erstellt er seit fast 50 Jahren, wobei er sich eher auf Handels- und Kursmuster stützt, statt Gewinn und Wirtschaftswachstum zu analysieren. Seine Börsentheorie stellte er in den 50er Jahren auf.
Für das sogenannte "on-balance-volume", kurz OBV, hat Granville im wahrsten Sinne des Wortes "die Hosen runter gelassen", ist seinem 1984 veröffentlichten "The Book of Granville" zu entnehmen. "Es war im August 1961", erinnert sich der Aktienstratege: "Ich saß auf der Herrentoilette, fernab vom hektischen Treiben der Research-Abteilung, und dachte über die Börse nach."
OBV erfaßt die Aktien-Dynamik. Steigt der Kurs, wird das Handelsvolumen zu einer kumulierten OBV-Zahl addiert. Fällt der Kurs, wird es subtrahiert. Auf diese Weise analysiert Granville täglich alle 30 im Dow aufgeführten Werte. "Volumina deuten auf Verluste hin", weiß er aus Erfahrung.
Im Auge behält der technische Analyst außerdem die Zahl der täglich steigenden und fallenden Aktien sowie die Anzahl der Werte, die auf einem 52-Wochen-Hoch oder 52-Wochen-Tief angelangt sind. Diese Charts fließen in den "Net Field Trend Indicator" ein, an dem Granville die Börsentendenz abliest.
In seinem am 20. Januar veröffentlichten Börsenbrief schrieb er, sein Indikator sei auf das Niveau vom 21. Oktober 1929 gefallen. Damals hat der Dow acht Tage später innerhalb von zwei Tagen 24 Prozent verloren. "Technisch gesehen liegt der Dow in den letzten Zügen", beschrieb Granville jetzt den Leitindex.
Richtig lag er auch am 11. März 2000, als der Nasdaq Composite Index auf den Rekordstand von 5048,62 Punkten kletterte. Granville schrieb, daß sich Technologie-Investoren "bald die Finger verbrennen werden." Bis zum 9. Oktober 2002 sackte der technologielastige Leitindex 78 Prozent ab. Falsch lag der Stratege hingegen mit seiner pessimistischen Einstellung von 1982 bis Anfang 1986, zeigt der Hulbert Financial Digest von Marketwatch. Damals kam der Dow auf eine Jahresrendite von 17 Prozent.
Allerdings hat Granville, der 250 Dollar für das Jahresabonnement seines wöchentlich erscheinenden Börsenbriefs berechnet, auch kein Problem damit, den Kurs zu wechseln. "Wenn ich falsch liege, dann gebe ich das auch offen zu, im Gegensatz zu den meisten anderen Herausgebern von Börsenbriefen", sagt Granville. Am 14. März 2002 brachte er einen Brief mit dem Titel "I Was Wrong" heraus, in dem er einräumte, im Februar 2002 zu lange "vorsichtig" geblieben zu sein. Zwischen dem 31. Januar und dem 13. März des Jahres hatte der Dow 5,9 Prozent gewonnen.
"Er ist ein sehr angesehener technischer Analyst, aber am Ende zählt eben das Ergebnis", sagt Mark Hulbert, Herausgeber des Hulbert Digest. "Wären Investoren mit seinen Tips in den letzten 20 Jahren besser gefahren, als mit einem Indexfonds? Wohl kaum", meint Hulbert. Bloomberg
Artikel erschienen am Di, 8. Februar 2005
Alle Artikel vom 8. Februar 2005