Vorstoß nach Osten Jürgen Elsässer 12.11.2003 Die Schnelle Eingreiftruppe der NATO übt schon bei ihrem zweiten Manöver eine Konfrontation mit Russland "Vorwärts Putin, Bolschewik!" titelte die taz nach der Verhaftung des mafiösen Multimilliardärs Michail Chodorkowskij, andere Blätter sprachen von der Etablierung eines Tschekistenregimes und vom Rücksturz in die Stalinzeit. Was tun, wenn der russische Bär grollt? Wer hilft, wenn ein neuer Diktator nach der Macht greift? Ist Berlin wieder bedroht? Wie gut, dass es gegen solche und ähnliche Gefahren jetzt endlich die Schnelle Eingreiftruppe der NATO (NRF) gibt. Gerade ein Jahr ist es her, dass die Aufstellung des Interventionsverbandes auf dem Prager Gipfel des Bündnisses beschlossen worden ist. Am 15. Oktober 2003 marschierten im niederländischen Brunssum die ersten Soldaten vor der versammelten Militärspitze des Nordatlantikpaktes auf, 9.000 können ab sofort für "humanitäre Kriseneinsätze" weltweit verlegt werden.
Insgesamt soll die NRF bis zum Herbst 2006 ihre Sollstärke von 21.000 Mann erreichen. Die deutsche Bundeswehr stellt ein Viertel davon, das ist das vergleichsweise größte Kontingent. Um ein Bild von den Einsatzstrategien der Truppe zu bekommen, lohnt eine Analyse der ersten Manöver. Der überraschende Befund: Es geht auch um Kriege im osteuropäischen Raum, sozusagen unmittelbar vor unserer Haustür. Schon Anfang Oktober lehrte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seinen Amtskollegen "mit einer Übung für einen fiktiven Einsatz der NRF ... das Fürchten".Das Szenario: In einem fiktiven Nahost-Staat namens "Corona" hat eine terroristische Organisation die Macht übernommen. Um die im Lande lebenden Bürger aus westlichen Staaten zu schützen - ein Gummi-Argument, das man überall verwenden und schwer widerlegen kann -, muss die NRF eingreifen. Als die humanitären Krieger in Corona nicht mit Blumen bekränzt, sondern angegriffen werden, eskaliert die Situation. Die Terroristen bedrohen den NATO-Partner Italien mit chemischen und biologischen Waffen. Was ist zu tun? An dieser Stelle brach Rumsfeld sein Laptop-Manöver ab, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass das virtuelle Corona realiter überall sei und deswegen die Beschlussfassung im Bündnis wesentlich beschleunigt werden müsse. Das Kommando haben sich die USA gesichert Damit die NRF innerhalb von fünf Tagen an jedem Ort der Welt eingreifen kann, dürfen Mitgliedsstaaten, die für ihre Truppenfreigabe länger brauchen, nicht mitmachen. Das ist in sich durchaus schlüssig, denn sonst könnte der Blitzkrieg ja im letzten Augenblick noch gestoppt werden, weil ein Parlament auf ein UN-Mandat besteht oder Beweise für die Unabwendbarkeit eines Militärschlages verlangt. Verteidigungsminister Peter Struck sah das sofort ein und forderte, künftig über Kriegseinsätze nur noch im Küchenkabinett ("Bundestagsausschuss") zu Entscheiden ( Schnell in den Krieg). Damit ist er nicht durchgekommen, aber Rot-Grün ist sich einig, das parlamentarische Procedere erheblich zu beschleunigen. Wenn Bush oder Blair also das nächste Mal behaupten, dass irgendein Schurkenstaat seine Atomwaffen in 48 Stunden scharfmachen kann, kann die NATO-Feuerwehr ohne demokratische Verzögerung losschlagen. Da sich die USA die Kommandoebene in der NRF reserviert haben - die Europäer dürfen nur das Fußvolk stellen -, ist zu befürchten, dass die Truppe im Zweifelsfall der neuen US-Militärdoktrin folgt und den Milzbrand präventiv mit klitzekleinen Atmbomben ("Mini-Nukes") löscht.
Schockierend ist, dass sich die NATO-Planungen offensichtlich auch gegen Russland richten. Beim ersten richtigen Manöver der NRF Ende Oktober (GAINFUL SWORD 2003) marschierten im Unterschied zu Rumsfelds Laptop-Szenario nicht nur virtuelle, sondern echte Soldaten auf, und zwar gleich mehr als siebentausend, inklusive 1.750 Panzern und andere Fahrzeugen sowie 48 Hubschrauber. Geübt wurde in Polen, auf dem Truppenübungsplatz Drawsko südöstlich von Szczecin.
An Stelle der "internationalen Gemeinschaft" kommt wie selbstverständlich die NATO: Die NRF wird in Marsch gesetzt, um den lopenischen Stützpunkt Puma auszuschalten, weil dort - raten Sie mal - Massenvernichtungswaffen gelagert sind. Da Puma "weit hinter den feindlichen Linien" liegt, kann die NATO ihre Luftlandeeinheiten nicht vom pommerschen Drawsko aus starten lassen, sondern muss als logistisches Sprungbrett zunächst den Flughafen Babimost erobern, wo sich zwei vom Deutsch-Niederländischen Korps geführte Divisionen und die Streitkräfte Lopenas gegenüber stehen. Man reibt sich die Augen: NATO-Einheiten üben den Showdown mit russischen Verbänden - und das über zehn Jahre nach der Auflösung des Warschauer Paktes und trotz des wortreichen Einvernehmens zwischen Washington und Moskau beim sogenannten Kampf gegen den Terror. Noch verblüffender: Trotz aller Herzlichkeiten zwischen Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin ist die Bundeswehr am Aufbau dieser Drohkulisse nicht nur beteiligt, sondern hat sogar eine Leitfunktion inne. Kein Wunder: Das deutsch-niederländische Korps, das die Heimat - im simulierten Ernstfall - vor Babimost und zuvor - ganz im neudeutschen Ernst - am Hindukusch verteidigt hatte, soll in der ersten Hälfte des Jahres 2005 die Führung der NRF übernehmen. |