Email an G. Beckstein
Brüchiger Anker
16.09.2002 17:29
Sehr geehrter Herr Beckstein,
eine Woche vor der Wahl wirbeln Sie das Thema Zuwanderung hoch. Und dann erzählen Sie der versammelten Medienöffentlichkeit allen Ernstes, dass Sie das nicht tun, um noch die letzten unentschlossen Konservativen für den 22. September zu mobilisieren. Zuwanderung, sagen Sie, stehe ja erst an zwanzigster Stelle im Startprogramm der Union und sei überhaupt nur ein „1b Thema“.
Es ist zu offensichtlich, dass Sie und die Union mitten im Umfragetief dringend einen Rettungsanker suchen, um nicht auf den Oppositionsbänken sitzen bleiben zu müssen.
Man mag davon halten, was man will, dass Sie sich jetzt ausgerechnet das sensible Thema Zuwanderung dafür herausgegriffen haben. Aber wenn Sie es schon tun, dann stehen Sie bitte auch dazu.
Das ist in Ihrem eigenen Interesse: Was soll ein Wähler davon halten, wenn Sie ihm einerseits sagen, das Zuwanderungsgesetz ist ein böses Ding, im gleichen Moment aber tief stapeln und es als so wichtig nun auch wieder nicht darstellen wollen.
Der Grund ist einfach: Sie fürchten sich. Vor den Kirchen, vor den Arbeitgebern, vor im Grunde allen gesellschaftlich relevanten Gruppen, die sich in seltener Einmütigkeit hinter das Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung stellen.
Ihr Handeln, Herr Beckstein, zeigt aber auch: Ihr Zuwanderungsanker ist brüchig. Sie wissen, er kann den Stimmungsumschwung nicht aufhalten. Wenn, dann würden Sie ihre Positionen offener und offensiver vertreten.
Nur Eindeutigkeit macht unterscheidbar und letztlich wählbar. Der Erfolg Gerhard Schröders mit seiner klaren Absage an eine deutsche Beteiligung an einem Irak-Krieg müsste Ihnen, Herr Beckstein, eine Lehre sein.
Süddeutsche