Londoner Engpass erschüttert globalen Silbermarkt – Ursachen und Folgen eines perfekten Sturms
In der vergangenen Woche erlebte der weltweite Silbermarkt einen seltenen Moment akuter Instabilität. Die physischen Bestände in London, einem der wichtigsten Drehscheiben für Edelmetallhandel, sanken so stark, dass Lieferverpflichtungen kaum noch erfüllt werden konnten. Zwischenzeitlich mussten Silberbarren per Luftfracht aus den USA eingeflogen werden, um Arbitragemöglichkeiten zu nutzen. Die Preisbildung war gestört, die Leasingraten für physisches Silber (Silberpreis) explodierten – ein Szenario, das selbst erfahrene Händler an historische Verwerfungen erinnerte.
Doch im Gegensatz zur spekulativen Blase der 1980er-Jahre, als die Brüder Hunt versuchten, den Markt zu kontrollieren, liegt der Ursprung der aktuellen Turbulenzen in einer realwirtschaftlichen Schieflage: Ein strukturelles Defizit zwischen Angebot und Nachfrage, gepaart mit geopolitischen Spannungen, saisonalen Nachfrageimpulsen aus Asien und einer angespannten Liquiditätssituation im Lagerbestand führten zu einem perfekten Sturm.
Faktor 1: Ein Markt im strukturellen Defizit
Schon seit Jahren produziert der globale Silberbergbau weniger, als weltweit nachgefragt wird. 2025 ist nun bereits das fünfte Jahr in Folge, in dem die physische Silbernachfrage über der Minenproduktion liegt. Laut dem Branchenverband Silver Institute wurde diese Lücke bislang durch Lagerbestände gedeckt. Doch auch diese schrumpfen rapide. Seit 2019 sind die frei verfügbaren Bestände in London um mehr als 75 Prozent gefallen. Insgesamt sind die Bestände laut Bloomberg um etwa 780 Millionen Unzen gesunken.
Ein maßgeblicher Treiber dieser Entwicklung ist der stetig wachsende Bedarf der Photovoltaik-Industrie. Zwischen 2016 und 2025 hat sich deren Silbernachfrage laut Silver Institute mehr als verdoppelt. Zusätzlich flossen seit Jahresbeginn über 100 Millionen Unzen in mit physischem Silber gedeckte ETFs, was zur Folge hat, dass dieses Metall nicht mehr am physischen Markt zur Verfügung steht. Die Menge frei verfügbaren Silbers in London schrumpfte dadurch auf unter 150 Millionen Unzen, während am dortigen Terminmarkt täglich rund 250 Millionen Unzen gehandelt werden.
Die ohnehin angespannte Versorgungslage wurde zusätzlich durch politische Unsicherheit belastet: Zahlreiche Händler verlagerten Bestände vorsorglich von London nach New York – aus Angst vor möglichen US-Zöllen auf Silberimporte.
Faktor 2: Diwali und die indische Nachfrageexplosion
Der finale Auslöser für die Engpässe kam aus Asien. Während des indischen Lichterfests Diwali, das in diesem Jahr auf Mitte Oktober fiel, erreichte die Silbernachfrage in Indien ein Rekordniveau. Traditionell wird zu diesem Fest Gold (Goldkurs) verschenkt, doch diesmal verlagerte sich die Präferenz vieler Haushalte auf Silber. Zuvor hatte eine intensive Social-Media-Kampagne in Indien Silber als das „neue Gold“ gefeiert.
Der daraus resultierende Nachfrageanstieg führte dazu, dass selbst die größte Edelmetallraffinerie Indiens erstmals einen Lieferengpass meldete. Die JP Morgan Bank, einer der größten Silberhändler weltweit, musste Lieferungen nach Indien im Oktober kurzfristig einstellen. Gleichzeitig fiel auch China als ein weiterer wichtiger Silberlieferant wegen einer Feiertagswoche als Handelspartner aus.
Die Konsequenz: Die Aufschläge auf Silber in Indien stiegen auf bis zu fünf US-Dollar pro Unze über dem Weltmarktpreis. Dieser Nachfrageschock zwang viele Händler, den Mangel in Asien mit Beständen aus London zu kompensieren, was die Lagerreserven dort weiter dezimierte.
Faktor 3: Leasingraten steigen auf 200 Prozent
Mit den schwindenden Lagerreserven geriet ein zentrales Element des Edelmetallmarkts ins Wanken: das Metall-Leasinggeschäft. Banken verleihen gegen Zinsen physisches Silber an Händler oder industrielle Abnehmer, die sich so gegen Preisschwankungen absichern. Dieses Modell funktioniert jedoch nur bei stabilen Marktbedingungen.
In der Spitze stiegen die Leasingkosten auf bis zu 200 Prozent (Overnight-Sätze), da Banken ihre physischen Bestände nicht mehr verleihen wollten oder konnten. Selbst einmonatige Leihsätze lagen Ende letzter Woche noch bei rund 20 Prozent. Dies ist ein Vielfaches der üblichen Werte.
Die gestörte Marktmechanik führte zu massiven Preisverzerrungen. Verkäufer verlangten hohe Aufschläge, während Käufer wegen der unsicheren Lage zögerten. In London eröffneten sich plötzlich Arbitragemöglichkeiten innerhalb des Markts selbst, da die Spannen zwischen Kauf- und Verkaufspreisen ungewöhnlich groß wurden.
Robin Kolvenbach, Co-CEO der Schweizer Edelmetallraffinerie Argor-Heraeus, bestätigte gegenüber Bloomberg, dass sein Unternehmen jegliche nicht-vertraglich gesicherte Silberaufnahme vorübergehend gestoppt habe. Auch Daniel Marburger von StoneX Bullion meldete eine Produktion „nur noch auf Bestellung“ aufgrund mangelnder Vorräte.
Faktor 4: Langfristige Folgen für Industrie und Anleger
Zwar hat sich die Lage in den letzten Tagen etwas beruhigt: Der Silberpreis ist wieder gesunken, ebenso wie die Leihgebühren. Doch die Auswirkungen der Verwerfungen sind noch nicht ausgestanden.
Laut Marburger dürften die Herstellungskosten für Silberprodukte deutlich steigen, was sich über kurz oder lang auch auf Endkundenpreise auswirkt. Besonders betroffen sind Münzpräger, die bereits heute kaum noch Vorräte der 2025er-Jahrgänge besitzen. Einige Prägestätten können die Produktion für 2026 wegen Materialmangels noch nicht starten.
Das bedeutet: Das sogenannte Aufgeld – also der Aufpreis, den Anleger beim Kauf von Münzen und Barren zahlen – dürfte in den kommenden Monaten ansteigen.
Aktuelle Marktentwicklung: Preise unter Druck
Nach dem temporären Preishoch geriet der Silbermarkt in dieser Woche stark unter Druck. Der Preis für eine Feinunze fiel am Dienstag auf 49,33 US-Dollar, ein Minus von rund acht Prozent innerhalb eines Tages. Auch Gold gab nach und verlor etwa sechs Prozent seines Werts.
Diese Korrektur dürfte einerseits durch Gewinnmitnahmen verursacht worden sein, andererseits durch die temporäre Entspannung bei den Lagerbeständen. Dennoch bleibt der strukturelle Angebotsmangel bestehen, besonders in Zeiten geopolitischer oder wirtschaftlicher Spannungen könnte dies den Silbermarkt auch künftig anfällig für kurzfristige Verwerfungen machen.
Fazit
Die jüngsten Turbulenzen am Silbermarkt zeigen eindrücklich, wie anfällig die Versorgungskette für physische Edelmetalle ist. Ein Zusammenspiel aus globaler Angebotsknappheit, saisonal bedingter Nachfrage, politischer Unsicherheit und spekulativen Kapitalströmen führte zu massiven Preis- und Marktverwerfungen in London – dem Zentrum des weltweiten Silberhandels.
Für Anleger und Industrie gleichermaßen bedeutet dies: Die Volatilität am Silbermarkt bleibt hoch. Wer auf physische Produkte angewiesen ist, muss mit längeren Lieferzeiten und steigenden Aufpreisen rechnen.