ZINSANHEBUNG: Keine Eile geboten

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ZINSANHEBUNG: Keine Eile geboten

 
20.03.02 11:08
Die EZB sollte sich mit Zinsanhebungen Zeit lassen, meint Thomas Mayer, Director of Euroland Economic Research bei Goldman Sachs.

Das Frühlingserwachen der Weltwirtschaft hat die Zinsphantasie der Finanzmärkte beflügelt. Doch scheint der Anstieg der Rentenrenditen und der auf dem Terminmarkt gehandelten Geldmarktsätze in Euroland übertrieben. Auch wenn der US-Aufschwung stärker ausfallen und die Federal Reserve die Zinsen früher erhöhen sollte als bislang erwartet, gibt es für die EZB gute Gründe, sich mit Zinserhöhungen Zeit zu lassen.

USA und Euroland im gleichen Boot?

Angesichts der unübersehbaren Zeichen der wirtschaftlichen Erhohlung verdichten sich die Erwartungen an den Finanzmärkten, dass die US Federal Reserve bald die Zinsen erhöhen wird. Diese Spekulationen sind nicht von der Hand zu weisen: Die Leitzinsen sind auf einem historischen Tief, die Finanzpolitik ist expansiv, und der Aufschwung wird durch robusten Konsum und Lageraufbau vorangetrieben.

Die gestiegenen Terminmarktsätze für Dreimonatsgeld in Euroland zeigen an, dass die Finanzmärkte in der näheren Zukunft auch Zinsanhebungen der EZB erwarten. Dies erscheint jedoch weniger plausibel. Der Aufschwung in Euroland wird bislang vor allem durch bessere Exportaussichten vorangetrieben und steht daher noch auf schwachen Beinen.

Restriktive Finanzpolitik

Desweiteren liegen die Zinsen in Euroland nicht so weit unter ihrem konjunkturneutralen Niveau wie in den USA. Deshalb ist der Bedarf an Zinserhöhungen durch die EZB geringer. Schließlich dürfte sich der "Policy Mix" in Euroland von dem der USA stark unterscheiden.

Die Finanzpolitik wird in Euroland wohl restriktiv sein, und die Strukturpolitik dürfte versuchen, das Potentialwachstum zu heben. Die Geldpolitik sollte diese Politiken unterstützend begleiten.

In den Stabilitätsprogrammen, die im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts regelmäßig aufgestellt werden, haben sich die EWU-Mitgliedsländer verpflichtet, bis spätestens 2004 ihre Staatshaushalte auszugleichen. Die von der EU-Kommission auf der Basis dieser Programme aufgestellten Politik-Leitlinien sehen auf EWU-Ebene sogar einen ausgeglichenen Haushalt im nächsten Jahr und Haushaltsüberschüsse in 2004 vor.


Die Einflüsse der Finanzpolitik


Trotz der Wirtschaftsschwäche gegen Ende des letzten Jahres und den Unsicherheiten im Wirtschaftsausblick haben die EU-Länder bei der letzten Überprüfung der Stabilitätsprogramme im Februar diese finanzpolitischen Ziele bestätigt.

Dieses Jahr dürfte das Haushaltsdefizit auf Euroland Ebene ungefähr 1,8 Prozent des BIP erreichen nach 1,4 Prozent im Vorjahr. In 2003 könnte das Defizit auf 1,3 Prozent des BIP fallen. Diese Vorhersagen machen es recht unwahrscheinlich, dass der Haushaltsausgleich schon im nächsten Jahr erreicht sein wird.

Dennoch: Angesichts der in den Stabilitätsprogrammen gemachten Versprechungen ist es wahrscheinlich, dass die Bemühungen um finanzpolitische Konsolidierung fortgesetzt werden.

Nehmen wir an, dass diese Bemühungen mit zwei Jahren Verspätung Früchte tragen und der Haushalt auf Euroland Ebene im Jahr 2005 ausgeglichen würde, dann müsste das Defizit in den Jahren 2004/05 um weitere 1,3 Prozent des BIP fallen. Der durchschnittliche jährliche Rückgang des Defizits in der Zeit von 2002 bis 2005 entspräche dann 0,6 Prozent des BIP, was ungefähr dem der Jahre 1995 bis 2001 gleichkommen würde.

In den Jahren 2003 bis 2005 dürfte das BIP in Euroland in der Nähe der Potentialrate, also mit 2 bis 2,5 Prozent wachsen. In diesem Fall entspräche der Rückgang des tatsächlichen Defizits von 1,8 Prozent des BIP in 2002 auf null in 2005 in etwa dem des strukturellen Defizits.

Damit ginge von der Finanzpolitik ein erheblicher negativer Impuls auf das Wachstum aus. Folgt man einer Faustregel, könnte der negative Fiskalimpuls von 1,8 Prozent des BIP das Wirtschaftswachstum um ungefähr 1,4 Prozent reduzieren. Der Abstand zwischen tatsächlichem und potentiellem BIP - die sogenannte Produktionslücke - würde um diesen Betrag wachsen.


Eine Chance für Strukturreformen


Auf dem Gipfel von Barcelona am 15./16. März haben die EU-Regierungschefs - wie schon so oft - weitere Strukturreformen versprochen, aber nur wenig Konkretes geliefert. Dennoch stehen die Chancen für umfassendere Reformen in den nächsten Jahren nicht so schlecht.

Nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland könnten in diesen Ländern Regierungen die Wirtschaftspolitik bestimmen, die Reformen aufgeschlossen gegenüber stehen. Diese Regierungen könnten den Druck zu Strukturreformen verstärken, der zur Zeit schon von Italien und Spanien ausgeht.

Nimmt man an, dass größere Anstrengungen auf diesem Gebiet das Potentialwachstum in 2003 bis 2005 um jährlich 0,1 Prozent erhöhten, würde die Produktionslücke unter im übrigen gleichbleibenden Bedingungen um weitere 0,3 Prozent wachsen.

Unterstützende Rolle der Geldpolitik

Meine Überschlagsrechnung weist auf die Möglichkeit eines Anstiegs der Produktionslücke um 1,7 Prozent hin. Davon wären 1,4 Prozent einer restriktiven Finanzpolitik und 0,3 Prozent einer potentialerhöhenden Strukturpolitik zuzuschreiben. Natürlich ist das nur eine mehr oder weniger realitätsnahe Illustration der tatsächlichen Effekte unter der Annahme, dass ansonsten alles gleich bleibt.

Aufgabe der Geldpolitik ist aber, dafür zu sorgen, dass diese Annahme nicht zutrifft. Mit anderen Worten: Die Geldpolitik würde die Wirtschaftsaktivität unterstützen müssen, um die negativen Effekte der Finanzpolitik auszugleichen und dem BIP zu helfen, sein Potential auszuschöpfen.

Was genau würde dies bedeuten? Wiederum kann man diese Frage nur näherungsweise beantworten. In vorangegangenen Beiträgen habe ich argumentiert, dass die Geldpolitik der EZB recht gut mit der sogenannten Taylor-Formel beschrieben werden kann.


Das "Gefangenen-Dilemma"


Diese Formel, ursprünglich als Regel entwickelt, besagt, dass die Notenbank den Leitzins in Abhängigkeit von Veränderungen der Produktionslücke und Abweichungen zwischen tatsächlicher Inflationsrate von ihrem Ziel verändern soll.

Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die EZB bei ihren Zinsentscheidungen der Produktionslücke ein Gewicht von 62 Prozent und der Zielabweichung der Inflationsrate ein Gewicht von 38 Prozent eingeräumt hat. Nimmt man diese Gewichte und ignoriert mögliche zusätzliche Inflationseffekte einer Veränderung der Produktionslücke, so ergibt sich ein theoretischer Zinssenkungsbedarf von rund 100 Basispunkten, um einer möglichen Ausweitung der Produktionslücke um 1,7 Prozent entgegenzuwirken.

Geldpolitik mit Augenmaß

Natürlich kann diese Überschlagsrechnung nicht als direkte Handlungsanweisung für die Geldpolitik genommen werden. Dennoch gibt sie ein Gefühl dafür, wie die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und die Reform überkommener Strukturen geldpolitisch begleitet werden sollte. Zumindest sollte die Geldpolitik nicht bei den ersten Zeichen einer wirtschaftlichen Erholung gleich die Zügel anziehen, ohne die Wirkungen der anderen Politikbereich zu prüfen.

Stellen Sie sich zwei (schuldige) Verbrecher vor, die getrennt von der Polizei vernommen werden. Streiten sie beide ihre Schuld ab, kann ihnen die Polizei nichts beweisen.

Das Problem der Koordinierung

Derjenige, der seine Schuld aber als erster zugibt, kann mit Strafmilderung rechnen. Wie sollten sich die Übeltäter verhalten? Es gibt keine strategisch richtige Antwort auf diese Frage, da es aus der Sicht des Einzelnen keine optimale Lösung des "Gefangenen-Dilemmas" gibt.

Auf den ersten Blick scheint sich die EZB in einer ähnlichen Situation zu befinden. Wenn sie den finanz- und strukturpolitischen Absichten der Regierungen keinen Glauben schenkt, ist die Gefahr groß, dass Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen mangels Wachstum scheitern. Stärkt sie jedoch das Wachstum blindlings, könnten die Politiker versucht sein zu glauben, schmerzhafte Anpassungen seien eigentlich nicht nötig.

Eine zurückhaltende Zinspolitik wäre sinnvoll

Im Gegensatz zu den Gefangenen hat die EZB jedoch einen gravierenden Vorteil: Sie kann den Verantwortlichen für die Finanz- und Strukturpolitik signalisieren, dass sie bereit ist, Haushaltskonsolidierung und strukturelle Reformen mit einer entsprechenden Geldpolitik zu unterstützen.

Eine zurückhaltende Zinspolitik in der gegenwärtigen Erholungsphase in Erwartung entsprechender finanz- und strukturpolitischer Maßnahmen könnte ein solches Signal sein. Sollten die Politiker auf dieses Signal nicht reagieren, hätte die EZB wahrscheinlich immer noch genügend Zeit, die Zinszügel anzuziehen und Inflation zu vermeiden, da der Aufschwung wahrscheinlich nicht sehr kraftvoll ausfallen wird.

mm.de
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