Rekordlauf am Aktienmarkt von São Paulo
Die brasilianische Börse setzt auch in diesem Jahr ihren rasanten Aufstieg fort und stellt fast täglich neue Rekorde auf. Unternehmen wie der Erdöl-Konzern Petrobras oder der Bergbau-Konzern CVRD profitieren von der weltweit hohen Nachfrage nach Rohstoffen. Ein Ende des Börsenbooms ist laut den Experten nicht in Sicht.
C. H. Rio de Janeiro
Börse und Fussball haben in Brasilien mehr gemeinsam, als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Zwar scheinen die Welt der auf rot-staubigen Fussballfeldern in Gluthitze trainierenden Fussballer und jene von Klimaanlagen gekühlte, marmorn schimmernde Sphäre der Investoren weiter auseinander zu liegen als Mars und Venus. Doch beide bringen Weltstars hervor: Dass Fussballstars wie Ronaldo, Robinho & Co. die brasilianische Nationalmannschaft bei der Fussball- Weltmeisterschaft zum Titel des sechsfachen Weltmeisters führen werden, ist zumindest in Brasilien unumstritten; und die Börse in São Paulo (Bovespa) ist seit gut drei Jahren nicht zu bremsen und gehört damit im weltweiten Börsenvergleich ebenfalls zu den Spitzenstürmern. Der Wert der an der Bovespa kotierten Aktien ist 2005 um 38% auf 1292 Mrd. Rl. (rund 792 Mrd. Fr.) gestiegen. In Dollars gerechnet, fällt die Jahresbilanz noch besser aus: Demnach stellt sich der Zuwachs auf 45%. Das durchschnittliche tägliche Handelsvolumen lag bei 1,6 Mrd. Rl., nach 1,2 Mrd. Rl. im Vorjahr. Und der Aufstieg scheint kein Ende zu finden: Allein in diesem Jahr hat der Börsenindex, Ibovespa, um rund 15% zugelegt. Es sind vor allem die Rohstoffkonzerne, die die Börse in die Höhe treiben; sie profitieren von der weltweit hohen Nachfrage nach Erdöl, Eisenerz oder Soja - Brasiliens Export-Schlagern. Auch der Bankensektor, neben dem staatlichen Erdöl- Konzern Petrobras ein weiteres Index-Schwergewicht, hat mehrheitlich Rekordgewinne einfahren können, dank den hohen Margen in dem stark wachsenden Markt und den rentierenden Anlagen in brasilianische Staatsanleihen.
Schwung für den Neuen Markt
Es sind verstärkt auch ausländische Investoren, die an die brasilianische Börse strömen und das Kursniveau nach oben drücken. Laut der Börsenaufsichtsbehörde CVM haben diese im vergangenen Jahr ihr in Aktien angelegtes Vermögen knapp verdoppelt; es ist um 92% auf 113,9 Mrd. Rl. angestiegen. Die Ausländer interessieren sich dabei besonders für Neu- oder Sekundäremissionen. Rund 62% des Emissionsvolumens im Umfang von insgesamt 16,2 Mrd. Rl. sind im Jahr 2005 von Ausländern aufgekauft worden.
Anlageziel sind dabei immer öfter jene Unternehmen, die sich an den neueren, Investoren- freundlicheren Segmenten wie dem Novo Mercado (Neuer Markt), dem Nivel 1 oder Nivel 2 (Niveau 1 oder 2) kotieren lassen. Von den 378 an der Bovespa kotierten Unternehmen sind 65 an diesen drei Segmenten kotiert. Das ist zwar noch immer eine Minderheit, aber gemessen an ihrem Wert stellen diese Unternehmen bereits knapp die Hälfte der Börsenkapitalisierung der gesamten Bovespa; ähnlich verhält es sich in Bezug auf das Handelsvolumen. Einschränkend sei allerdings hinzugefügt, dass die meisten Unternehmen nicht über das Niveau 1 hinauskommen.
Der Neue Markt hat denn auch erst vor rund zwei Jahren mit dem Börsengang (IPO) von Natura, einem im Direktverkauf tätigen Kosmetikunternehmen, leicht an Schwung gewonnen. Mittlerweile sind dort 22 Unternehmen kotiert. Eine Kotierung ist nur für Unternehmen möglich, die ausschliesslich Stimmrechtsaktien ausgeben und mindestens 25% der Aktien kotieren lassen. Der Rest der Börse in São Paulo hat mit Aktionärsdemokratie noch nicht viel im Sinn. Die meisten Unternehmensbesitzer haben sich bisher nur dazu durchringen können, einen kleinen Anteil ihrer Firma den Investoren anzubieten. Einfluss wird diesen Minderheitsaktionären so gut wie keiner eingeräumt; die Aktien haben in der Regel kein Stimmrecht, die Publizitätspflicht ist im internationalen Vergleich äusserst bescheiden. Der ungenügende Schutz der Minderheitsaktionäre ist sicherlich ein gewichtiger Grund für die Unterentwicklung des Börsenplatzes von São Paulo; die Börsenkapitalisierung hat 2005 nur 58% des Bruttoinlandproduktes erreicht.
Doch in dem Masse, wie die Investoren sich an die demokratischen Vorzüge des Neuen Marktes gewöhnen, wird auch der Druck auf die Eigentümer steigen, die Unternehmen im Falle eines IPO an diesem Segment kotieren zu lassen oder, im Fall von Publikumsgesellschaften, zumindest auf das Niveau 2 zu wechseln. Von den drei Börsengängen in diesem Jahr haben sich zwei Firmen - das Wasser- und Abwasserunternehmen Copasa und die Immobilienfirma Company - am Neuen Markt kotieren lassen; Vivax, ein Pay-TV- und Internetanbieter, wählte Niveau 2.
Lukrative Ausstiegsmöglichkeit
Angesichts der sich mehrenden IPO erfüllt die Bovespa zunehmend - wenn auch in einem noch immer sehr beschränkten Masse - die Funktion, frühen Anlegern wie etwa Private-Equity-Investoren den Ausstieg zu ermöglichen. Erfolgreiche Börsengänge wie im Falle des Zucker- und Ethanol-Produzenten Cosan im vergangenen Jahr zeigen zudem, dass die Börse eine lukrative Ausstiegsmöglichkeit für Gründerfamilien bieten kann. Brasiliens Unternehmenswelt ist noch immer stark in Familienhand; drängende Nachfolgeregelungen und sich verändernde Branchenstrukturen rütteln allerdings an diesen Besitzverhältnissen. In diesem Jahr rechnen Beobachter denn auch mit mehreren Dutzend Neuemissionen und Kapitalerhöhungen. Laut den Angaben der CVM sind insgesamt 21 Emissionen in der Phase der Prüfung, darunter 11 IPO.
nzz 17.3.2005