US-Ökonomen bezweifeln Aussagekraft der Leistungsbilanzzahlen
Washington, 9. Mai (Bloomberg) - In den USA streiten sich die Experten, ob die Leistungsbilanz noch eine aussagekräftige Messgröße ist. Die Traditionalisten warnen, dass die USA wegen des hohen Leistungsbilanzdefizits verwundbar seien. Hingegen bemängeln andere Ökonomen, allen voran Finanzminister Paul O'Neill, dass die Leistungsbilanz nicht mehr ein genaues Spiegelbild der sich verändernden Weltwirtschaft abgibt.
Im letzten Jahr weitete sich das Leistungsbilanzdefizit der USA auf 435,4 Mrd. Dollar beziehungsweise 4,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Salopp formuliert zeigt der Fehlbetrag in der Leistungsbilanz, wie stark die Amerikaner über ihre Verhältnisse leben, denn sie kaufen mehr als die amerikanische Volkswirtschaft produziert. Viele Ökonomen erheben mahnend den Zeigefinger vor den Gefahren einer solchen Entwicklung. Sollte Europa stärker wachsen als die Vereinigten Staaten und auch in Japan die Konjunktur anspringen, könnten die Anleger sich anderswo nach höheren Renditen umschauen, was einen Einbruch an den US- Märkten auslösen würde.
"Wenn japanische Besitzer von Dollar-Vermögen ihre Investitionen repatriieren, könnte der Rückgang des Dollar-Kurses andere Anleger veranlassen, ihrem Beispiel zu folgen," befürchtet Robert Solow, Nobel-Preis-Träger für Ökonomie. Er befürchtet, dass vom Leistungsbilanzdefizit in den nächsten Jahren "wohl die größte Gefahr" für die amerikanische Volkswirtschaft ausgeht. Durch einen starken Dollar sind amerikanische Exporte weniger wettbewerbsfähig und Importe billiger.
Doch die US-Regierung ist da anderer Meinung, O'Neill befürwortet eine Politik des starken Dollars. Ihm zufolge hat sich die Wirtschaft verändert, sie ist nicht mehr dieselbe wie zur Zeit unserer Väter. Das seit Jahrzehnten angewandte System, mit dem die Waren-, Dienstleistungs- und Investitionsströme erfasst werden, spiegele nicht voll wider, was in der Weltwirtschaft passiert. Es sei kein hilfreiches Messinstrument für die weltweiten Kapitalströme, kritisiert der US-Finanzminister. Gleichwohl ist das letztjährige Rekorddefizit der USA ein wichtiger Faktor in den Debatten zur Steuer-, Währungs- und Handelspolitik. "Bei wichtige Entscheidungen, auch im Kongress, spielt die Besorgnis um das Leistungsbilanzdefizit eine Rolle."
O'Neill fordert im Kongress weitere 20 Mio. Dollar, um die Methoden zur Messung der Handelsströme zu verbessern. Die Leistungsbilanz war "wohl ein geeignetes Konzept, als dieses 1940 entwickelt wurde, aber wir leben nicht mehr in der Volkswirtschaft von 1940," sagt O'Neill, der von der Privatwirtschaft in die Regierung kam. Er glaubt, dass die Politiker ihren Job besser machen könnten, wenn sie verstehen würden, wie multinationale Konzerne heutzutage funktionieren. So erhöhen die Verkäufe von ausländischen Unternehmen in den USA keinesfalls die Importe in die USA. Dunkin' Donuts, Burger King und Holiday Inn sind alles britische Firmen, die in den USA Geschäfte machen, ohne Produkte aus ihrem Heimatland zu exportieren. Japanische Toyotas werden in Kalifornien hergestellt. Die Lebensmittelketten Stop & Shop, Giant Food und Tops befinden sich im Besitz der niederländischen Koninklijke Ahold NV.
"Wir leben in einer sich rasch verändernden Welt, verwenden aber immer noch die alten Messinstrumente," konstatiert Marc Chandler, Chef-Währungsstratege bei Mellon Bank in New York. Er bezeichnete in einem Artikel der Zeitschrift Foreign Affairs das Handelsdefizit "als eine gefährliche Fixierung". Die Furcht vor einem wachsenden Fehlbetrag könnte protektionistische Tendenzen in den USA verstärken und andere Länder verleiten, ebenfalls die Handelsschranken hochzuziehen. Das würde zu sinkenden Lebensstandards führen, argumentiert er.
Um dies zu vermeiden, "will ich gewisse Gelder dafür einsetzen, ein Umdenken zu erreichen und ein neues Gerüst zu entwickeln, wie unsere Wirtschaft funktioniert, das mit der Art und Weise, wie sie wirklich funktioniert, übereinstimmt. Hilfreich wäre es beispielsweise, "die Mehrwertkette," zu verfolgen, empfiehlt O'Neill. So durchläuft zum Beispiel Kautschuk auf dem Weg von der Ernte in Malaysia bis zu seiner endgültigen Verwendung in einem Reifen in einer Fabrik in Illinois verschiedene Mehrwertstufen, die es sich anzuschauen gelte. O'Neill vermisst in der gegenwärtigen Debatte über das Leistungsbilanzdefizit einen wichtigen Aspekt, inwiefern die Wirtschaft profitiert. Denn die USA sind wegen der gestiegenen Arbeitsproduktivität in den letzten zehn Jahren USA ein begehrtes Ziel für ausländische Direktinvestitionen, erklärt der Finanzminister. Selbst als sich das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal auf eine Jahresrate von einem Prozent abschwächte, stiegen die ausländischen Direktinvestitionen in den USA von 72,7 Mrd. Dollar im dritten Quartal auf 94,4 Mrd. Dollar.
Der Bereich Konjunkturanalyse des Handelsministeriums, der die Leistungsbilanzdaten zusammenstellt, würde eine Änderung begrüßen. "Wir würden uns über das Statistiksystem der Zukunft freuen," erklärt Bereichsdirektor Steve Landefeld. "Das ist etwas, was jeder will, aber bis dahin gibt es noch viel zu tun."
Washington, 9. Mai (Bloomberg) - In den USA streiten sich die Experten, ob die Leistungsbilanz noch eine aussagekräftige Messgröße ist. Die Traditionalisten warnen, dass die USA wegen des hohen Leistungsbilanzdefizits verwundbar seien. Hingegen bemängeln andere Ökonomen, allen voran Finanzminister Paul O'Neill, dass die Leistungsbilanz nicht mehr ein genaues Spiegelbild der sich verändernden Weltwirtschaft abgibt.
Im letzten Jahr weitete sich das Leistungsbilanzdefizit der USA auf 435,4 Mrd. Dollar beziehungsweise 4,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Salopp formuliert zeigt der Fehlbetrag in der Leistungsbilanz, wie stark die Amerikaner über ihre Verhältnisse leben, denn sie kaufen mehr als die amerikanische Volkswirtschaft produziert. Viele Ökonomen erheben mahnend den Zeigefinger vor den Gefahren einer solchen Entwicklung. Sollte Europa stärker wachsen als die Vereinigten Staaten und auch in Japan die Konjunktur anspringen, könnten die Anleger sich anderswo nach höheren Renditen umschauen, was einen Einbruch an den US- Märkten auslösen würde.
"Wenn japanische Besitzer von Dollar-Vermögen ihre Investitionen repatriieren, könnte der Rückgang des Dollar-Kurses andere Anleger veranlassen, ihrem Beispiel zu folgen," befürchtet Robert Solow, Nobel-Preis-Träger für Ökonomie. Er befürchtet, dass vom Leistungsbilanzdefizit in den nächsten Jahren "wohl die größte Gefahr" für die amerikanische Volkswirtschaft ausgeht. Durch einen starken Dollar sind amerikanische Exporte weniger wettbewerbsfähig und Importe billiger.
Doch die US-Regierung ist da anderer Meinung, O'Neill befürwortet eine Politik des starken Dollars. Ihm zufolge hat sich die Wirtschaft verändert, sie ist nicht mehr dieselbe wie zur Zeit unserer Väter. Das seit Jahrzehnten angewandte System, mit dem die Waren-, Dienstleistungs- und Investitionsströme erfasst werden, spiegele nicht voll wider, was in der Weltwirtschaft passiert. Es sei kein hilfreiches Messinstrument für die weltweiten Kapitalströme, kritisiert der US-Finanzminister. Gleichwohl ist das letztjährige Rekorddefizit der USA ein wichtiger Faktor in den Debatten zur Steuer-, Währungs- und Handelspolitik. "Bei wichtige Entscheidungen, auch im Kongress, spielt die Besorgnis um das Leistungsbilanzdefizit eine Rolle."
O'Neill fordert im Kongress weitere 20 Mio. Dollar, um die Methoden zur Messung der Handelsströme zu verbessern. Die Leistungsbilanz war "wohl ein geeignetes Konzept, als dieses 1940 entwickelt wurde, aber wir leben nicht mehr in der Volkswirtschaft von 1940," sagt O'Neill, der von der Privatwirtschaft in die Regierung kam. Er glaubt, dass die Politiker ihren Job besser machen könnten, wenn sie verstehen würden, wie multinationale Konzerne heutzutage funktionieren. So erhöhen die Verkäufe von ausländischen Unternehmen in den USA keinesfalls die Importe in die USA. Dunkin' Donuts, Burger King und Holiday Inn sind alles britische Firmen, die in den USA Geschäfte machen, ohne Produkte aus ihrem Heimatland zu exportieren. Japanische Toyotas werden in Kalifornien hergestellt. Die Lebensmittelketten Stop & Shop, Giant Food und Tops befinden sich im Besitz der niederländischen Koninklijke Ahold NV.
"Wir leben in einer sich rasch verändernden Welt, verwenden aber immer noch die alten Messinstrumente," konstatiert Marc Chandler, Chef-Währungsstratege bei Mellon Bank in New York. Er bezeichnete in einem Artikel der Zeitschrift Foreign Affairs das Handelsdefizit "als eine gefährliche Fixierung". Die Furcht vor einem wachsenden Fehlbetrag könnte protektionistische Tendenzen in den USA verstärken und andere Länder verleiten, ebenfalls die Handelsschranken hochzuziehen. Das würde zu sinkenden Lebensstandards führen, argumentiert er.
Um dies zu vermeiden, "will ich gewisse Gelder dafür einsetzen, ein Umdenken zu erreichen und ein neues Gerüst zu entwickeln, wie unsere Wirtschaft funktioniert, das mit der Art und Weise, wie sie wirklich funktioniert, übereinstimmt. Hilfreich wäre es beispielsweise, "die Mehrwertkette," zu verfolgen, empfiehlt O'Neill. So durchläuft zum Beispiel Kautschuk auf dem Weg von der Ernte in Malaysia bis zu seiner endgültigen Verwendung in einem Reifen in einer Fabrik in Illinois verschiedene Mehrwertstufen, die es sich anzuschauen gelte. O'Neill vermisst in der gegenwärtigen Debatte über das Leistungsbilanzdefizit einen wichtigen Aspekt, inwiefern die Wirtschaft profitiert. Denn die USA sind wegen der gestiegenen Arbeitsproduktivität in den letzten zehn Jahren USA ein begehrtes Ziel für ausländische Direktinvestitionen, erklärt der Finanzminister. Selbst als sich das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal auf eine Jahresrate von einem Prozent abschwächte, stiegen die ausländischen Direktinvestitionen in den USA von 72,7 Mrd. Dollar im dritten Quartal auf 94,4 Mrd. Dollar.
Der Bereich Konjunkturanalyse des Handelsministeriums, der die Leistungsbilanzdaten zusammenstellt, würde eine Änderung begrüßen. "Wir würden uns über das Statistiksystem der Zukunft freuen," erklärt Bereichsdirektor Steve Landefeld. "Das ist etwas, was jeder will, aber bis dahin gibt es noch viel zu tun."