HANDELSBLATT, Montag, 20. März 2006, 00:07 Uhr
Emerging Markets
Überraschungen in Lateinamerika
Von Jürgen Grosche
Früher galten sie als unbeständig und krisenanfällig. Heute strahlen viele Schwellenländer mit einer wirtschaftlichen Leuchtkraft, die die traditionellen Industrieländer im Vergleich blass aussehen lässt.
HB DÜSSELDORF. Anleger hatten in den vergangenen Jahren ihre Freude an Aktien, Anleihen, Fonds und Zertifikaten, die auf Emerging Markets setzten. Der Aktienindex MSCI für die Schwellenländer legte 2005 fast 45 Prozent zu. In einer Auswertung der Analysefirma Feri Rating & Research für das zurückliegende Jahr zeigten sich insbesondere lateinamerikanische Aktienfonds mit durchschnittlich knapp 71 Prozent Wertzuwachs als ertragreich. Auf dem zweiten Platz folgten Osteuropa-Fonds mit einem Zuwachs von 62 Prozent.
Auch für dieses Jahr blicken Experten mit Optimismus auf die Entwicklung in Süd- und Mittelamerika. Allerdings dürften die Zuwachsraten nicht mehr so üppig ausfallen, zumal verschiedene politische und wirtschaftliche Unwägbarkeiten lauern. Zurzeit stehen in einigen Ländern des Kontinents Wahlen an. Einige Beobachter befürchten, dass die Ergebnisse den Schwung der Finanzmärkte ausbremsen.
Von einem „Linksruck“ ist die Rede, was sich vordergründig auch zu bestätigen scheint. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez sorgt bereits seit mehreren Jahren für Misstrauen in den USA und in konservativen Kreisen. Sie verweisen zum Beispiel auf seine Nähe zum kubanischen Herrscher Fidel Castro oder seine Parole „Sozialismus oder Tod“, die er beim Weltsozialforum in Caracas – einer Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos – vor allem gegen die Vereinigten Staaten richtete. Zu seinen Freunden zählt der argentinische Präsident Néstor Kirchner, der ebenfalls eine als links titulierte Richtung eingeschlagen hat.
In Brasilien sorgte 2002 die Wahl des Sozialisten Lula da Silvas zum Präsidenten für einen Einbruch der Landeswährung Real. Kürzlich gewannen der linkssozialistische Führer der Kokabauern, Evo Morales, in Bolivien und die Sozialistin Michelle Bachelet in Chile Wahlen. So könnte es in diesem Jahr weitergehen: Gewählt wird zum Beispiel noch in Peru und in Mexiko. In beiden Ländern liegen in Umfragen ebenfalls Kandidaten vorn, die kein wirtschaftsfreundliches Image haben.
Doch die scheinbare Bedrohung für Wirtschaft und Finanzmärkte wirkte sich bislang nur selten und dann nur kurzzeitig aus. Beobachter sehen denn auch für die nähere Zukunft keine tiefgreifende Gefahr. In Ländern mit Gewicht wie Brasilien oder Argentinien wird die neue Politik sogar gelobt. Da Silva fährt eine Wirtschaftspolitik der Konsolidierung. So ist zum Beispiel der Anteil der Nettoverschuldung am Bruttoinlandsprodukt – eine wichtige Kennzahl für die Zahlungsfähigkeit Brasiliens – von 63,6 Prozent im Jahr 2002 auf 50,9 Prozent gesunken. Argentinien ist nach dem Staatsbankrott 2001 wieder auf Wachstumskurs – mit einer Rate von jährlich neun Prozent.
Die neuen Linken rütteln nicht am Privateigentum, fordern höchstens stärkere Staatskontrollen, zum Beispiel in Venezuela. Sollten sich pragmatische Ansätze mit solider Haushalts- und Schuldenpolitik durchsetzen, dann – so die gängige Meinung der Analysten – werde der Wachstumspfad weiter beschritten.
Risiken liegen daher eher auf anderen Feldern. Der neue Präsident der Lateinamerika-Bank, der Kolumbianer Luis Alberto Moreno, verweist auf die Verlangsamung des Welthandelswachstums, die hohen und instabilen Ölpreise und wieder anziehende Zinsen. Doch insgesamt schätzt auch Moreno die wirtschaftlichen Perspektiven Lateinamerikas positiv ein.
Als Musterknabe gilt insbesondere Chile mit seiner export- und wettbewerbsorientierten Ausrichtung. Das rohstoffreiche Land (Kupfer, Wein, Obst) verdoppelte seine Exporterlöse in den zurückliegenden drei Jahren. Rohstoffe sind auch andernorts der Motor der Entwicklung. Venezuela und Mexiko sind klassische Öllieferanten. Bolivien hat ebenso wie Venezuela auch Erdgas-Vorkommen. Um welche Rohstoffe es auch geht – immer wieder wird China als Kunde genannt und damit ein langfristig nachfragender Abnehmer.
Der Kontinent könnte somit in diesem Jahr sogar wieder einmal für positive Überraschungen im Depot sorgen. „Die Bewertungen lateinamerikanischer Aktien bewegen sich auf einem historisch niedrigen Niveau und bieten Investoren daher großes Wachstumspotenzial“, meint Ewen Cameron Watt, Head of Research & Investment Strategy bei Merrill Lynch Investment Managers, „die Kombination aus schwachem US-Dollar und hohen Rohstoffpreisen ist für die meisten Länder der Region überaus vorteilhaft, während eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik dabei hilft, die Inflation unter Kontrolle zu bringen.“
HANDELSBLATT, Montag, 20. März 2006, 00:07 Uhr
Emerging Markets
Überraschungen in Lateinamerika
Von Jürgen Grosche
Früher galten sie als unbeständig und krisenanfällig. Heute strahlen viele Schwellenländer mit einer wirtschaftlichen Leuchtkraft, die die traditionellen Industrieländer im Vergleich blass aussehen lässt.
HB DÜSSELDORF. Anleger hatten in den vergangenen Jahren ihre Freude an Aktien, Anleihen, Fonds und Zertifikaten, die auf Emerging Markets setzten. Der Aktienindex MSCI für die Schwellenländer legte 2005 fast 45 Prozent zu. In einer Auswertung der Analysefirma Feri Rating & Research für das zurückliegende Jahr zeigten sich insbesondere lateinamerikanische Aktienfonds mit durchschnittlich knapp 71 Prozent Wertzuwachs als ertragreich. Auf dem zweiten Platz folgten Osteuropa-Fonds mit einem Zuwachs von 62 Prozent.
Auch für dieses Jahr blicken Experten mit Optimismus auf die Entwicklung in Süd- und Mittelamerika. Allerdings dürften die Zuwachsraten nicht mehr so üppig ausfallen, zumal verschiedene politische und wirtschaftliche Unwägbarkeiten lauern. Zurzeit stehen in einigen Ländern des Kontinents Wahlen an. Einige Beobachter befürchten, dass die Ergebnisse den Schwung der Finanzmärkte ausbremsen.
Von einem „Linksruck“ ist die Rede, was sich vordergründig auch zu bestätigen scheint. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez sorgt bereits seit mehreren Jahren für Misstrauen in den USA und in konservativen Kreisen. Sie verweisen zum Beispiel auf seine Nähe zum kubanischen Herrscher Fidel Castro oder seine Parole „Sozialismus oder Tod“, die er beim Weltsozialforum in Caracas – einer Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos – vor allem gegen die Vereinigten Staaten richtete. Zu seinen Freunden zählt der argentinische Präsident Néstor Kirchner, der ebenfalls eine als links titulierte Richtung eingeschlagen hat.
In Brasilien sorgte 2002 die Wahl des Sozialisten Lula da Silvas zum Präsidenten für einen Einbruch der Landeswährung Real. Kürzlich gewannen der linkssozialistische Führer der Kokabauern, Evo Morales, in Bolivien und die Sozialistin Michelle Bachelet in Chile Wahlen. So könnte es in diesem Jahr weitergehen: Gewählt wird zum Beispiel noch in Peru und in Mexiko. In beiden Ländern liegen in Umfragen ebenfalls Kandidaten vorn, die kein wirtschaftsfreundliches Image haben.
Doch die scheinbare Bedrohung für Wirtschaft und Finanzmärkte wirkte sich bislang nur selten und dann nur kurzzeitig aus. Beobachter sehen denn auch für die nähere Zukunft keine tiefgreifende Gefahr. In Ländern mit Gewicht wie Brasilien oder Argentinien wird die neue Politik sogar gelobt. Da Silva fährt eine Wirtschaftspolitik der Konsolidierung. So ist zum Beispiel der Anteil der Nettoverschuldung am Bruttoinlandsprodukt – eine wichtige Kennzahl für die Zahlungsfähigkeit Brasiliens – von 63,6 Prozent im Jahr 2002 auf 50,9 Prozent gesunken. Argentinien ist nach dem Staatsbankrott 2001 wieder auf Wachstumskurs – mit einer Rate von jährlich neun Prozent.
Die neuen Linken rütteln nicht am Privateigentum, fordern höchstens stärkere Staatskontrollen, zum Beispiel in Venezuela. Sollten sich pragmatische Ansätze mit solider Haushalts- und Schuldenpolitik durchsetzen, dann – so die gängige Meinung der Analysten – werde der Wachstumspfad weiter beschritten.
Risiken liegen daher eher auf anderen Feldern. Der neue Präsident der Lateinamerika-Bank, der Kolumbianer Luis Alberto Moreno, verweist auf die Verlangsamung des Welthandelswachstums, die hohen und instabilen Ölpreise und wieder anziehende Zinsen. Doch insgesamt schätzt auch Moreno die wirtschaftlichen Perspektiven Lateinamerikas positiv ein.
Als Musterknabe gilt insbesondere Chile mit seiner export- und wettbewerbsorientierten Ausrichtung. Das rohstoffreiche Land (Kupfer, Wein, Obst) verdoppelte seine Exporterlöse in den zurückliegenden drei Jahren. Rohstoffe sind auch andernorts der Motor der Entwicklung. Venezuela und Mexiko sind klassische Öllieferanten. Bolivien hat ebenso wie Venezuela auch Erdgas-Vorkommen. Um welche Rohstoffe es auch geht – immer wieder wird China als Kunde genannt und damit ein langfristig nachfragender Abnehmer.
Der Kontinent könnte somit in diesem Jahr sogar wieder einmal für positive Überraschungen im Depot sorgen. „Die Bewertungen lateinamerikanischer Aktien bewegen sich auf einem historisch niedrigen Niveau und bieten Investoren daher großes Wachstumspotenzial“, meint Ewen Cameron Watt, Head of Research & Investment Strategy bei Merrill Lynch Investment Managers, „die Kombination aus schwachem US-Dollar und hohen Rohstoffpreisen ist für die meisten Länder der Region überaus vorteilhaft, während eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik dabei hilft, die Inflation unter Kontrolle zu bringen.“
HANDELSBLATT, Montag, 20. März 2006, 00:07 Uhr