Nur zu gern versprechen Politiker Steuersenkungen. Doch das geht völlig an den Problemen vorbei: Weder sind unsere Steuern im internationalen Vergleich besonders hoch, noch sind sie über die Jahre gestiegen. Um den maroden Sozialstaat reformieren zu können, braucht Deutschland sogar höhere Steuereinnahmen.
Haben Sie im Bundestagswahlkampf 2002 den Kandidaten zugehört? Gerade die Vormänner der konservativen und liberalen Oppositionsparteien, Edmund Stoiber (CSU) und Guido Westerwelle (FDP), erweckten den Eindruck, als sei das größte Problem der Republik die Steuerbelastung.
Bürger und Unternehmen, Freiberufler und Angestellte - ihnen müsse dringend Entlastung verschafft werden. Die Steuern müssten runter.
Zur gleichen Zeit, im Frühsommer 2002, frühstückte ich mit dem Vorstandschef eines großen deutschen Konzerns. Wir sprachen über die deutsche Politik und die Weltlage, die Industrie und die Globalisierung. Irgendwann sagte er: "Zitieren Sie mich damit bloß nicht. Aber: Dass wir in Deutschland überhaupt keine Steuern zahlen müssen, halte ich für einen Skandal."
Dank hoher Schulden und hoher Zinszahlungen brauche seine deutsche Konzernzentrale überhaupt keine Steuern zu zahlen, obwohl seine Firma damals Gewinne machte. "Das", sagte mein Gesprächspartner, "gibt es wohl nirgendwo sonst auf der Welt."
Nun lässt sich dieser Einzelfall nicht verallgemeinern - im Durchschnitt liegt die deutsche Gewinnbesteuerung im internationalen Vergleich recht hoch. Doch richtig ist auch: Insgesamt verlangt der deutsche Staat Bürgern und Unternehmen keine sonderlich hohen Steuern ab.
Dass Deutschland ein "Hochsteuerland" sei, ist eine Mär. Die Steuerquote - das Verhältnis von Steuereinnahmen zum Bruttoinlandsprodukt - liegt seit Jahrzehnten ungefähr konstant bei 25 Prozent.
Warum tun Steuern in Deutschland besonders weh?
Wenn die Steuerbelastung also gar nicht so dramatisch ist, warum sind die Steuern dann ein Thema, mit dem man offenbar sogar Wahlkämpfe bestreiten kann? Weil sie exakt dort mit relativ hohen Sätzen zugreifen, wo es besonders schmerzt: bei den abhängigen Beschäftigten.
In den meisten anderen Ländern unterliegen diese entweder hohen Steuern oder hohen Beiträgen zu den Sozialversicherungen. In Deutschland jedoch summiert sich beides zu einer schwer erträglichen Gesamtbelastung von 52 Prozent der Lohnkosten. Nur Beschäftigte in Belgien tragen eine noch höhere Staatslast.
Bereits Geringverdiener werden in Deutschland mit hohen Sätzen belastet. Das ist weder leistungsförderlich noch sonderlich gerecht. Vergleichsrechnungen der OECD zeigen, dass die Grenzbelastung für Singles über alle Einkommensgruppen hinweg so hoch liegt wie nirgends sonst in den entwickelten Industrieländern: Jeder zusätzlich verdiente Euro fließt zu einem großen Teil an den Staat.
Bei Familien mit Kindern verläuft die Progression in Deutschland zwar nicht ganz so ungünstig, insbesondere wenn man staatliche Leistungen wie Kindergeld und Baukindergeld mit in die Rechnung einbezieht. Aber auch hier gilt: Haushalte mit geringen Einkommen unterliegen so hohen Grenzbelastungen wie nirgends sonst.
Die rot-grüne Steuerreform verspricht Linderung, indem sie den Eingangssatz der Einkommensteuer auf 15 Prozent senkt. Da aber die Sozialabgaben unverändert hoch bleiben oder sogar steigen, bleibt auch nach Inkrafttreten der Reform die Gesamtbelastung hoch, gerade für Niedrig- und Durchschnittsverdiener.
Es führt kein Weg daran vorbei: Das wirkliche Problem der deutschen Ökonomie sind die Sozialversicherungen.
Ihre Einnahmen machen knapp 15 Prozent der Wirtschaftsleistung und 40 Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus. Sie allein sorgen bei einem Durchschnittsverdiener für einen 34-prozentigen Aufschlag auf die Lohnkosten.
Viele Länder haben seit Mitte der neunziger Jahre versucht, die Steuerlast ökonomisch verträglicher zu gestalten, indem sie Verbrauchsteuern erhöht und Sozialversicherungsbeiträge gesenkt haben. Anders dagegen Deutschland: Die Beiträge sind gestiegen, und sie drohen noch weiter zu steigen.
Die Verbrauchsteuern haben die Bundesregierungen unter Kohl und Schröder nur sehr selektiv erhöht, insbesondere, der politischen Opportunität folgend, die Mineralöl- und die Tabaksteuer - Abgaben, denen Umweltbewusste und Nichtraucher Applaus zu spenden pflegen.
Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer für höhere Staatsausgaben. Vielmehr müssen diese in Relation zur Wirtschaftsleistung sinken, wie in den Kapiteln zuvor begründet. Doch die Staatseinnahmen könnten auf andere, leichter erträgliche Weise erhoben werden.
Wenn die Sozialversicherungen in ihrer heutigen Form abgeschafft und auf eine neue, steuerfinanzierte Grundlage gestellt würden, bräuchte der Staat neue Einnahmequellen. Denn die Sozialversicherungseinnahmen können ja nicht ersatzlos gestrichen werden.
Schließlich muss eine Mindestabsicherung gegen Altersarmut, Krankheit und Arbeitslosigkeit finanziert werden. Dafür wird es höherer Steuereinnahmen bedürfen.
Um diese zusätzlichen Einnahmen zu generieren, eignet sich am besten die Mehrwertsteuer. Sie ist ökonomisch relativ unschädlich: Anders als die Einkommensteuer belastet sie den "Faktor Arbeit" kaum. Anders als spezielle Verbrauchssteuern wie die Tabaksteuer verzerrt sie das Preisgefüge nicht, weil sie fast alle Güter mit dem gleichen Satz belegt.
Ein Standardargument gegen die Mehrwertsteuer lautet, sie sei ungerecht; sie sei sozial blind, weil sie, anders als die Einkommensteuer, unabhängig von der Lebenssituation der einzelnen Menschen zugreife.
Das stimmt nur bedingt: Auch die Mehrwertsteuerbelastung steigt prozentual mit zunehmendem Einkommen (sie wirkt also progressiv), weil Güter und Leistungen des Grundbedarfs mit einem verminderten Satz besteuert werden (Nahrungsmittel) oder gar nicht (Mieten), diese ermäßigten Güter aber am Konsum ärmerer Haushalte einen größeren Anteil ausmachen. Wohlhabende Haushalte konsumieren gemessen an ihren Gesamtausgaben wenig ermäßigte Güter; entsprechend liegt ihre Mehrwertsteuerbelastung relativ höher.
In 20 Kapiteln seziert Autor Henrik Müller verbreitete Vor- und Fehlurteile. Ist es ein sinnvolles Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken? Ist Einwanderung eine Bedrohung? Schadet eine starke Währung der Wirtschaft?
Neben solchen wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigt sich das Buch auch mit unternehmensnahen Themen. Etwa: Nützt oder schadet der Bundesrepublik die Fixierung auf die Industrie? Oder: Kommt die Moral im Wirtschaftsalltag unter die Räder?
Henrik Müller: "Wirtschaftsirrtümer"
Eichborn Verlag, Frankfurt 2004, 22,90 Euro, 272 Seiten.
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Haben Sie im Bundestagswahlkampf 2002 den Kandidaten zugehört? Gerade die Vormänner der konservativen und liberalen Oppositionsparteien, Edmund Stoiber (CSU) und Guido Westerwelle (FDP), erweckten den Eindruck, als sei das größte Problem der Republik die Steuerbelastung.
Bürger und Unternehmen, Freiberufler und Angestellte - ihnen müsse dringend Entlastung verschafft werden. Die Steuern müssten runter.
Zur gleichen Zeit, im Frühsommer 2002, frühstückte ich mit dem Vorstandschef eines großen deutschen Konzerns. Wir sprachen über die deutsche Politik und die Weltlage, die Industrie und die Globalisierung. Irgendwann sagte er: "Zitieren Sie mich damit bloß nicht. Aber: Dass wir in Deutschland überhaupt keine Steuern zahlen müssen, halte ich für einen Skandal."
Dank hoher Schulden und hoher Zinszahlungen brauche seine deutsche Konzernzentrale überhaupt keine Steuern zu zahlen, obwohl seine Firma damals Gewinne machte. "Das", sagte mein Gesprächspartner, "gibt es wohl nirgendwo sonst auf der Welt."
Nun lässt sich dieser Einzelfall nicht verallgemeinern - im Durchschnitt liegt die deutsche Gewinnbesteuerung im internationalen Vergleich recht hoch. Doch richtig ist auch: Insgesamt verlangt der deutsche Staat Bürgern und Unternehmen keine sonderlich hohen Steuern ab.
Dass Deutschland ein "Hochsteuerland" sei, ist eine Mär. Die Steuerquote - das Verhältnis von Steuereinnahmen zum Bruttoinlandsprodukt - liegt seit Jahrzehnten ungefähr konstant bei 25 Prozent.
Warum tun Steuern in Deutschland besonders weh?
Wenn die Steuerbelastung also gar nicht so dramatisch ist, warum sind die Steuern dann ein Thema, mit dem man offenbar sogar Wahlkämpfe bestreiten kann? Weil sie exakt dort mit relativ hohen Sätzen zugreifen, wo es besonders schmerzt: bei den abhängigen Beschäftigten.
In den meisten anderen Ländern unterliegen diese entweder hohen Steuern oder hohen Beiträgen zu den Sozialversicherungen. In Deutschland jedoch summiert sich beides zu einer schwer erträglichen Gesamtbelastung von 52 Prozent der Lohnkosten. Nur Beschäftigte in Belgien tragen eine noch höhere Staatslast.
Bereits Geringverdiener werden in Deutschland mit hohen Sätzen belastet. Das ist weder leistungsförderlich noch sonderlich gerecht. Vergleichsrechnungen der OECD zeigen, dass die Grenzbelastung für Singles über alle Einkommensgruppen hinweg so hoch liegt wie nirgends sonst in den entwickelten Industrieländern: Jeder zusätzlich verdiente Euro fließt zu einem großen Teil an den Staat.
Bei Familien mit Kindern verläuft die Progression in Deutschland zwar nicht ganz so ungünstig, insbesondere wenn man staatliche Leistungen wie Kindergeld und Baukindergeld mit in die Rechnung einbezieht. Aber auch hier gilt: Haushalte mit geringen Einkommen unterliegen so hohen Grenzbelastungen wie nirgends sonst.
Die rot-grüne Steuerreform verspricht Linderung, indem sie den Eingangssatz der Einkommensteuer auf 15 Prozent senkt. Da aber die Sozialabgaben unverändert hoch bleiben oder sogar steigen, bleibt auch nach Inkrafttreten der Reform die Gesamtbelastung hoch, gerade für Niedrig- und Durchschnittsverdiener.
Es führt kein Weg daran vorbei: Das wirkliche Problem der deutschen Ökonomie sind die Sozialversicherungen.
Ihre Einnahmen machen knapp 15 Prozent der Wirtschaftsleistung und 40 Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus. Sie allein sorgen bei einem Durchschnittsverdiener für einen 34-prozentigen Aufschlag auf die Lohnkosten.
Viele Länder haben seit Mitte der neunziger Jahre versucht, die Steuerlast ökonomisch verträglicher zu gestalten, indem sie Verbrauchsteuern erhöht und Sozialversicherungsbeiträge gesenkt haben. Anders dagegen Deutschland: Die Beiträge sind gestiegen, und sie drohen noch weiter zu steigen.
Die Verbrauchsteuern haben die Bundesregierungen unter Kohl und Schröder nur sehr selektiv erhöht, insbesondere, der politischen Opportunität folgend, die Mineralöl- und die Tabaksteuer - Abgaben, denen Umweltbewusste und Nichtraucher Applaus zu spenden pflegen.
Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer für höhere Staatsausgaben. Vielmehr müssen diese in Relation zur Wirtschaftsleistung sinken, wie in den Kapiteln zuvor begründet. Doch die Staatseinnahmen könnten auf andere, leichter erträgliche Weise erhoben werden.
Wenn die Sozialversicherungen in ihrer heutigen Form abgeschafft und auf eine neue, steuerfinanzierte Grundlage gestellt würden, bräuchte der Staat neue Einnahmequellen. Denn die Sozialversicherungseinnahmen können ja nicht ersatzlos gestrichen werden.
Schließlich muss eine Mindestabsicherung gegen Altersarmut, Krankheit und Arbeitslosigkeit finanziert werden. Dafür wird es höherer Steuereinnahmen bedürfen.
Um diese zusätzlichen Einnahmen zu generieren, eignet sich am besten die Mehrwertsteuer. Sie ist ökonomisch relativ unschädlich: Anders als die Einkommensteuer belastet sie den "Faktor Arbeit" kaum. Anders als spezielle Verbrauchssteuern wie die Tabaksteuer verzerrt sie das Preisgefüge nicht, weil sie fast alle Güter mit dem gleichen Satz belegt.
Ein Standardargument gegen die Mehrwertsteuer lautet, sie sei ungerecht; sie sei sozial blind, weil sie, anders als die Einkommensteuer, unabhängig von der Lebenssituation der einzelnen Menschen zugreife.
Das stimmt nur bedingt: Auch die Mehrwertsteuerbelastung steigt prozentual mit zunehmendem Einkommen (sie wirkt also progressiv), weil Güter und Leistungen des Grundbedarfs mit einem verminderten Satz besteuert werden (Nahrungsmittel) oder gar nicht (Mieten), diese ermäßigten Güter aber am Konsum ärmerer Haushalte einen größeren Anteil ausmachen. Wohlhabende Haushalte konsumieren gemessen an ihren Gesamtausgaben wenig ermäßigte Güter; entsprechend liegt ihre Mehrwertsteuerbelastung relativ höher.
In 20 Kapiteln seziert Autor Henrik Müller verbreitete Vor- und Fehlurteile. Ist es ein sinnvolles Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken? Ist Einwanderung eine Bedrohung? Schadet eine starke Währung der Wirtschaft?
Neben solchen wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigt sich das Buch auch mit unternehmensnahen Themen. Etwa: Nützt oder schadet der Bundesrepublik die Fixierung auf die Industrie? Oder: Kommt die Moral im Wirtschaftsalltag unter die Räder?
Henrik Müller: "Wirtschaftsirrtümer"
Eichborn Verlag, Frankfurt 2004, 22,90 Euro, 272 Seiten.
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