Zehn Überraschungen des neuen Jahres
Mit Orakeln ist das so eine Sache. Man muss sie lesen können. Sonst geht es einem wie dem Lyderkönig Krösus, der 550 vor Christus das Orakel von Delphi nach seinem Kriegsglück befragen ließ und bekanntlich die Antwort, er werde ein großes Reich zerstören, gründlich missverstand.
WirtschaftsWoche-Korrespondentin Katja Gutowski / New York
„Mit dem Begriff Orakel wäre ich vorsichtig“, sagt Hobbyhistoriker Byron Wien, Chefstratege von Morgan Stanley. Zum Jahresbeginn veröffentlicht er seine Liste der „zehn Überraschungen des neuen Jahres“, von den Börsianern liebevoll Wien-Orakel genannt. Im vergangenen Jahr lag Wien mit seiner Weissagung ziemlich richtig: Die amerikanische Wirtschaft wuchs, wie von ihm prognostiziert, um mehr als drei Prozent und der Aktienmarkt legte mit deutlich zweistelligen Wachstumsraten zu.
Wiens TopTen ist nicht immer ernst gemeint, wird an der Börse aber durchaus ernst genommen. Pünktlich zum Handelsstart verkündete Wien Anfang dieser Woche seine Prognose für 2004. Prompt ließen sich die Händler von seiner Euphorie für Pharmawerte anstecken: Der Kurs von Pfizer stieg am Montag um 2,67 Prozent auf 36,50 Dollar.
Neben dieser, sich selbst erfüllenden Prophezeiung, sagt der Aktienstratege folgende Entwicklungen voraus: Osama bin Laden wird gefasst. Die Produktivität der US-Wirtschaft wächst. Die Inflation hält sich in Grenzen, Aktien steigen weiter. Der Index S&P 500 werde um 18 Prozent klettern. Wien glaubt außerdem an eine neue Begeisterung der Investoren für Aktien von Fondsgesellschaften. Interessante Investments seien Alliance Capital, Marsh & McLennan oder Federated Investors. Der Ölpreis klettert, so Wien, auf 40 Dollar, der Wert von Edelmetallen – insbesondere Silber – steigt. Der Nikkei hangelt sich bis auf 13 000 Punkte hoch.
Wenig Vertrauen hat Wien in die Europäer: Die EU-Mitglieder zerstreiten sich 2004 und der Euro fällt bis 1,05 Dollar.
Um Fehlinterpretationen seiner Weissagung zu vermeiden, hat Wien dieses Jahr noch eine alternative Topten parat – für Pessimisten. Da fällt der US-Aufschwung wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Unter anderem, weil die Europäer zusammenhalten, der Euro deshalb auf 1,50 Dollar steigt und die Chinesen zum wirtschaftlichen Großangriff ansetzen. Doch als ordentlicher Patriot will Wien vom Theorem, das US-Wirtschaftsimperium gehe unter, nichts wissen. „Ich liebe Überraschungen, aber nur positive. Ich bin ein Optimist.“